"Pflicht ist heute out" ruprecht im Gepraech mit Ulrich Wickert Ulrich Wickert im Kimono, auf dem Boden kniend und mit einer Teetasse in der Hand - ein schoenes Bild. Doch leider haben wir nicht dieses Glueck, und so empfaengt er uns in Hamburg im Sweat-Shirt mit den Worten: "Ich hol' mir erst mal 'nen Kaffee." Denn von seiner Kindheit in Tokyo, wo er 1942 geboren wurde, ist nicht viel mehr haengengeblieben als das Interesse an japanischer Literatur. Gleich nach seinem Jura- und Politologie-Studium in Bonn und Connecticut ue- bernahm er 1968 die Moderation des WDR-Magazins "Monitor", arbeitete danach als Auslandskorrespondent in New York und Paris und moderiert seit 1993 die Tagesthe- men. Zwischendurch schrieb er etliche, sehr unterschiedliche Buecher. In seinem neuesten Essay "Der Ehrliche ist der Dumme" (94) befasst er sich mit dem Werteverlust. ruprecht: Herr Wickert, Sie haben sowohl in Frankreich als auch in Heidelberg die Schule besucht. Haben Sie Ihre "Heidelberger Zeit" noch in guter Erinnerung? Wickert: Ja, ich habe damals das Lesen und Schreiben auf der Moenchshofschule gelernt, bevor ich dann auf das Kur- fuerst-Friedrich-Gymnasium ging. Noch heute bin ich oefters in Heidelberg und treffe mich dort z.B. mit meinem Freund Klaus Staeck. ruprecht: 1968 haben Sie Examen gemacht. Waren Sie sel- ber in der 68er Bewegung aktiv? Wickert: Ich war von 1964 an in der Studentenpolitik stark engagiert. Das begann mit der Auseinandersetzung um die Haltung der Universitaet waehrend der Nazi-Zeit. Damals habe ich - aus gegebenem Anlass - auch das Organisations- komitee gegen Uebergriffe der Polizei gegruendet. ruprecht: Hatten Sie eher politische Ambitionen, oder war der Journalismus schon immer Ihr Berufsziel? Wickert: Weder noch. Ich haette nie gedacht, dass ich ein- mal im Journalismus lande. Eigentlich habe ich immer nur geschrieben, weil es mir Spass machte. Schon als 13jaehriger habe ich haeufig fuer die Kinderseite der Rhein-Neckar- Zeitung geschrieben, nachdem ich 1956 nach Paris gezogen war. Zum Fernsehen kam ich dann durch Zufall. ruprecht: Wie ist Ihr Bild von den heutigen Studierenden? Und was hat sich von damals bis heute veraendert? Wickert: Es hat sich so einiges verschlechtert an den Uni- versitaeten. Als ich studierte, ging man ein Semester lang ins Seminar und bekam am Ende seinen Schein - fertig. Dass man wegen der Ueberfuellung der Hoersaele heute gar nicht die Moeglichkeit bekommt, die Seminare zu belegen, die fu- er einen Schein noetig sind, war damals undenkbar. ruprecht: Halten Sie solche Massnahmen wie neue Prue- fungsordnungen oder Zwangsexmatrikulation fuer Lang- zeitstudierende fuer geeignet, die Studienbedingungen zu verbessern? Wickert: Das Studium muesste generell besser organisiert und strukturiert werden, neue Pruefungsordnungen waeren da also von Nutzen. Massnahmen wie Zwangsexmatrikulati- on bringen jedoch ueberhaupt nichts, das ist voelliger Quatsch. Das Problem ist allerdings, dass man die, die bum- meln wollen, auch bummeln laesst. ruprecht: Zum Thema Medien und Politik: Meinen Sie, dass ein Journalist mehr Einfluss auf die oeffentliche Meinung hat als ein Politiker? Und wie gross ist dementsprechend seine - und damit auch Ihre - Verantwortung? Wickert: Das ist in wenigen Worten sehr schwer zu beant- worten. Auf jeden Fall laesst sich sagen, dass die Medien ei- ne grosse Kontrollfunktion ausueben und somit Verantwor- tung tragen. So wurden z.B. in der Vergangenheit viele Po- litskandale durch die Medien aufgedeckt. Dadurch dass die Medien moralische Fehltritte in der Oeffentlichkeit bekannt machen, werden die Politiker zu moralischem Verhalten ge- zwungen. Als Moderator trage ich erstens die Verantwor- tung fuer das, was ich sage; und das schreibe ich selber. Zweitens habe ich als Journalist eine moralische Verantwor- tung - zu informieren und Denkanstoesse zu geben. Ich muss auch mal bei der Auswahl der Bilder zu den Tagesthemen selektieren, wenn ich der Meinung bin, diese Szenen dienen nicht der Information und verletzen die Menschenwuerde. ruprecht: Wie sehen Sie die Zukunft von Nachrichtensen- dungen? Werden die Privatsender in Zukunft noch mehr Einfluss auf die Oeffentlich-Rechtlichen ausueben? Wickert: Nein, das glaube ich nicht. Zwar gibt es da einseiti- ge Tendenzen bei den Oeffentlich-Rechtlichen, aber die Pri- vaten sind ja auch wieder von ihren eigenen Innovationen abgekommen. In den Nachrichten sitzen z.B. jetzt auch wie- der nur zwei Moderatoren, wie bei den Tagesthemen. ruprecht: Glauben Sie, dass solche Sendungen wie ZAK die Tagesschau einmal abloesen werden? Wickert: Nie. Die Tagesschau ist heute noch die Nummer Eins aller Nachrichtensendungen - mit traumhaften Ein- schaltquoten. Selbst wenn manche meine, sie sei etwas an- gestaubt. ruprecht: Ich habe das Gefuehl, dass die Tagesthemen insge- samt lockerer geworden sind, seitdem Sie die Sendung mo- derieren. Wickert: Ja, ich bringe mehr Kultur hinein und dergleichen, was wohl daran liegt, dass mein Politikbegriff weiter gefasst ist. Aber im Grunde mache ich die Sendung nicht viel anders als mein Vorgaenger Hanns Joachim Friedrichs. Sie muessen natuerlich auch beachten, dass eine reine Nachrichtensen- dung wie die Tagesschau etwas anderes ist als die Ta- gesthemen. ruprecht: Wie eng sind Ihre Grenzen in der Meinungsaeusse- rung bei den Tagesthemen gesetzt? Wickert: Mir hat bisher noch nie jemand - weder aus der ARD oder aus der Politik - Vorschriften gemacht, was ich sagen sollte oder was ich nicht sagen duerfe. Da habe ich anfangs selbst gestaunt. Ich schreibe also die Moderationen so, wie ich es fuer richtig halte. ruprecht: Haben Sie noch Ideen, die Sie gerne verwirklichen wuerden? Wickert: Wir koennen noch vieles besser machen: spannen- dere Reportagen, bessere Hintergrundinformationen. Wer seine eigene Arbeit nicht kritisch sieht, verfaellt leicht in langweilige Routine. ruprecht: Koennten Sie sich vorstellen, einmal zu einem Pri- vatsender zu wechseln? Wickert: Wer weiss. Im Augenblick nicht, aber die Sender koennen sich ja entwickeln, und Sendungen wie Spiegel-TV und Talk im Turm sind durchaus ehrenwert. ruprecht: Aber bei stern-TV sieht die Sache schon anders aus... Wickert: Gut, Sie sprechen mich darauf an, weil stern-TV einmal einen 16jaehrigen, im Sterben liegenden Jungen in Bosnien bis zum letzten Atemzug gezeigt hat und ich diese menschenunwuerdige Praxis in meinem Buch verurteilt habe. Aber vieles ist ja auch sachliche Dokumentation, ueber die man nicht die Nase ruempfen muss. ruprecht: Sie selber geben aber zu, dass ein ARD- Kamerateam tote, in offenen Saergen liegende Soldaten mit herausgeschnittenen Augen gefilmt hat - zum Zwecke der Dokumentation. Fuer mich ist da schwer die Grenze zu zie- hen. Wickert: Der Unterschied ist der, dass wir das rausschnei- den, waehrend stern-TV das bewusst sendet. Dem Kamera- mann, der diese Geschichte gedreht hat, mache ich da gar keinen Vorwurf, sondern den Vorwurf mache ich denen, die es ausstrahlen. ruprecht: Aber Sie selbst moderierten eine Sendung ein, in der blutige Szenen einer Explosion in Sarajewo gezeigt wur- den. Als "Rechtfertigung" schreiben Sie dann, dass aufgrund dieser Bilder der UNO-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Rest-Jugoslawien verhaengte... Wickert: Nein, die Sanktionen wurden ja nicht verhaengt, nur weil wir diese Szenen gezeigt haben, sondern weil sie um die ganze Welt gingen. Das war nicht nur unser Verdienst. ruprecht: In Ihrem Buch sprechen Sie vom Werteverlust. Ich finde solche Schlagwoerter jedoch ein wenig gefaehrlich: Werte aendern sich staendig, und schon frueher hat man den Verlust heute unbeachteter Werte beklagt, die inzwischen von damals verachteten Werten abgeloest worden sind, z.B. Gehorsam und Eigenstaendigkeit. Wickert: Werte wandeln sich mit jeder Generation. Wenn ich von Werteverlust spreche, meine ich, dass die Anwendung der Werte in der Gemeinschaft nachgelassen hat, und dies fuehrt zu einer Krise der Gesellschaft. Die Werte selbst wan- deln sich mit jeder Generation, und das ist auch gut so. Denn jede Generation muss sich erneut ihrer Werte bewusst sein und sich darauf einigen. Die Ideale der Franzoesischen Revo- lution lauteten Freiheit, Gleichheit, Bruederlichkeit. Das sind Werte, auf die man sich damals einigte, die wir aber heute neu definieren wuerden. Gleichheit wird zu Gerechtigkeit, und aus Bruederlichkeit haben wir die Solidaritaet entwik- kelt. Der Grundgedanke in meinem Buch heisst: Wir brau- chen eine neue Aufklaerung. Wir muessen wieder darueber nachdenken, wie wir unsere Gesellschaft organisieren wol- len. Werte wie Gemeinschaftssinn und die Einsicht in die Pflicht schwinden immer mehr. Das Wort Pflicht ist heute out, besonders bei jungen Menschen. Das liegt vermutlich daran, dass Pflicht meist falsch definiert wird: Pflicht ist heute etwas, das ich freiwillig uebernehme, weil ich die Ein- sicht habe, dass ich es tun muss. Pflicht heisst fuer mich: Verantwortung uebernehmen. Auch die Selbstverwirkli- chung wird von vielen Leuten so verstanden, als duerften sie machen, was sie wollen - ohne Ruecksicht auf die Gemein- schaft. Doch ein Solidarstaat funktioniert nicht, wenn jeder einzelne sagt: Ich muss zumindest das aus dem Staat heraus- holen, was ich hineingegeben habe. ruprecht: Sie schlagen vor, ein soziales Pflichtjahr fuer beide Geschlechter einzufuehren. Dadurch wuerde dann der Ge- meinschaftssinn wiederhergestellt... Wickert: Nur durch ein Pflichtjahr wird die Gemeinschaft nicht an Wert gewinnen; das soziale Jahr ist nur eines der vielen Elemente in die Richtung. Ethik in einer Gesellschaft hat mit Erziehung zu ethischem Verhalten zu tun, etwa dazu, dass jedes Mitglied der Gesellschaft auch etwas fuer den Er- halt der Gemeinschaft tun sollte. ruprecht: Aber meinen Sie wirklich, dass das so einfach funktioniert? Ist das nicht eine Utopie? Wickert: Natuerlich ist das Utopie; denn es gibt Leute, die sind faehig zur Einsicht, und es gibt Leute, die sind nicht faehig dazu, weil sie auf das Denken verzichten. Aber trotz- dem kann man versuchen, die Einsicht zu foerdern. Auf- klaerung hat mit Denken zu tun! ruprecht: Wie gross schaetzen Sie heute den Einfluss der Religion? Wickert: Religion spielt sicherlich noch eine Rolle, denn sie war bis ins letzte Jahrhundert die Institution, die die Werte vermittelt hat. Dass auch heute noch eine Bedarf da ist, sieht man daran, dass Sekten immer mehr Zulauf haben. ruprecht: Sind Sie selbst denn ein religioeser Mensch? Wickert: Nein, ich glaube an ueberhaupt nichts Transzenden- tales. Ich bin Atheist. Zwar gibt es viele Dinge, die ich mir nicht erklaeren kann - wo kommen wir her, wo gehen wir hin -aber damit kann ich leben; ich brauche niemanden, der mir Antworten auf diese Fragen gibt. ruprecht: Ihr neues Buch ist innerhalb kurzer Zeit auf die obersten Plaetze der Bestsellerlisten geklettert. Sind Sie ein Karrieremensch? Wickert: Nein, ueberhaupt nicht. So haette ich nie gedacht, dass ich einmal die Tagesthemen moderieren wuerde. Doch als Hanns Joachim Friedrichs mich fragte, ob ich ihn nicht abloesen wolle, naja, da habe ich zugesagt, weil man solch einen Posten nicht ablehnt. Die Idee, das Buch ueber die Werte zu schreiben, kam mir, als ich in einem Vortrag zu diesem Thema in der Koelner Universitaet merkte, wie sehr es die Studenten interessierte. ruprecht: Im Spiegel wurde Ihr Buch ziemlich negativ kriti- siert. Der Autor meint, es sei, als hoere man "einem mit Meldungen vollgepfropften Schaedel beim Entleerungsvor- gang" zu. Wickert: Die Zeit schrieb stattdessen "Summa cum laude" ueber dieses Buch. Der Stern widmete dem Buch ein vier Seiten langes - positives - Gespraech. Haben Sie auch eige- ne Meinung? Der Spiegel denkt in rein wirtschaftlichen Ka- tegorien: einen Medienstar schlachten, das lesen die Leute gern! So vergaben sie die Aufgabe, ein Buch ueber die Werte zu besprechen, nicht an einen Fachmann aus Politik oder Wissenschaft, sondern aus dem Klatsch- und Tratschressort. ruprecht: Als was sehen Sie sich denn selbst: als Volksphilo- soph, Medienheld, Bestsellerautor... Wickert: Oh, Gott, nein! Ich bin Journalist und sonst nichts. Punkt. Interview: asb/gz