Ernsthaftes


Tod in der Plöck

Eine Farce in zehn Wegweisern

Prolog.

Es ist tags. Mon- oder Diens- wahrscheinlich. Donners- könnte es auch sein, und das würde es eher noch schlimmer machen. Vor allem zwischen acht und neun. Es ist sonnig. 'Hooka hey' sagen die Indianer. Ein schöner Tag zu sterben. Doch zu Beginn der Anfang.

.Erste Station. Adenauerplatz.

Schon am Gaisbergtunnel weiß ich, daß es heute schlimm werden wird. Ich bin einer von vielen. Und ich bin gewappnet. Alle sitzen angespannt auf ihren Rädern. An das Schlimmste wagt keiner zu denken. Die Autoampel wird rot. Die ersten fahren an. Die Fußgängerampel wird grün. Alle fahren an. Zähne fletschen. Messer klirren. Jetzt beschleunigen. Erste Schrammen. Mein Schienbeinschoner juckt. Drei Spuren stinkende Autos und fünfzig Fahrräder rasen in Richtung Bismarckplatz. Arm raus. Rüber. Treten. Sieben Radler pro Quadratmeter Straße. Alle miteinander und doch alle gegeneinander. Noch fünfzig Meter. Zwanzig. Zehn. Bremsen. Alle bremsen. Rechtskurve. Plöck. Rein. Drin. Die Schlacht beginnt.

Zweite Station. PappeLaPapp.

Mensch, denk ich, da hat's die Barbourjacke mit den blonden Dauerwellen aber ganz schön verrissen. Gleich am Anfang. Zu dumm. Was mußte die Oma mit dem Einkaufswägele auch gerade hier über die Straße gehen. Studentengedanken. Ich schäme mich. In zehn Minuten ist hoffentlich alles vorbei. Das erste Blut aber ist geflossen. So früh wie selten. Mir wird übel. Ein Griff in die Lenkertasche beruhigt mich. Für eine Sekunde dachte ich schon, ich hätte die Handgranaten vergessen.

Dritte Station. Kaufhof.

Treten. Treten. Siebenundzwanzig Autos wollen ins Parkhaus. Gleichzeitig. Gibt wohl kein anderes. Fünfzig Fahrräder, Entschuldigung, nur noch neunundvierzig, wollen an den siebenundzwanzig Autos vorbei. Und dann noch das Müllauto. Und der Möbeltransporter. Und der Lieferant für Körner-Sport. Arschlöcher. Und das ausgerechnet heute, wo ich fast an der Spitze liege. Ein Blick nach vorne läßt mich erstarren: Es ist Markt am Ebertplatz.

Vierte Station. Ebertplatz.

Zehn der Radler biegen nach links ab. Entweder Loser oder Psychologen oder Japanologen. Aber wer kann das schon auseinanderhalten. Rechts von mir ein Typ. Style-geil. Stilecht. Lange Haare, Oakley-Frogskins, Quiksilver-T-Shirt, Shorts, Chucks. Dürfen Surfer radfahren? Können Surfer radfahren? Es geht gegen den Wind. Zu dumm, daß die Marktfrauen heute mit Zucchini werfen. Die Tomaten letzte Woche waren angenehmer. Die Zucchini tun wirklich weh. Auch Karotten sind dabei. Hier und da trifft mich ein frischer Wirsing. So schlimm war's lange nicht mehr. Sieben bleiben auf der Strecke. Surfer-Schatzi ist auch dabei.

Fünfte Station. Ex Libris.

Bei Daniel Streiff gibt's immer live: Dreißig Hobbyliteraten brüllen uns sirenenhaft ihre selbstgeschriebenen Gedichte entgegen. Das hat mir bisher noch nie was ausgemacht. Wären nicht ein paar Metamorphosen darunter gewesen, wir hätten es wohl alle geschafft. So durchradeln nurmehr neunundzwanzig wackere Studis den Slalom aus Bauschuttcontainer, Mülltonnen und Bäckereikunden. Drei biegen beim Wochenkurier in die Märzgasse. Feige Schweine. Während ich meinen Polypropylen-Brustpanzer zurechtrücke, wird mir klar, daß ich meine Taktik ändern muß. Ich darf mich nicht nur verteidigen, ich muß angreifen.

Sechste Station. Hölderlin.

Neben mir radelt eine holde Maid im Sommerkleid. Frauen sind zäh. Mein alter Hollandbock ächzt und krächzt. Ihr verschimmeltes Rennrad auch. Dieser Teil der Plöck ist Fußgängerbereich und Einbahnstraße. Das kratzt keinen. Auch nicht einen Taxi-fahrer, der gerade keinen genormten Fußgänger (sieben km/h schnell) als Orientierung zur Hand hat und deswegen fünfzig fährt. Wohl auch nur, weil kein Fahrgast drinsitzt. Am Hölderlin empfängt uns eine Horde kiffender Oberstufenschüler in Hippie-Revival-Klamotten. Augen zu und durch. Schreie. H2O-Bomben. Der Satz des Pythagoras. Noch mehr Blut. Die Maid schreit. 'Die Maid schreit? So'n Blödsinn' denke ich und Augen zu und Hirn aus und durch. Noch siebzehn von uns sind übrig. Gymnasiasten sind hart im nehmen. Ein paar hab ich erwischt. Jetzt einige Meter Verschnaufpause. Der Puls muß runter auf hundertsechzig. Sonst kann man nicht so gut zielen. Und schon gar nicht treffen.

Siebte Station. Sprachlabor.

Es sind fast nur noch Hollandräder und Citybikes unter uns. Bald kommt der Endspurt. Vorher versuchen uns diverse Spanisch-Brückenkursler mit ihren 'inlingua'-Textcassetten auszulöschen. Hätten sie nicht die Unterstützung der Anglisten und einiger frankophiler Jeanne-d'Arc-Verschnitte, dies Scharmützel wäre ein leichtes Spiel für uns geworden. Neben mir erwischt es einen Philosophiestudenten. Tja, da hat ihm seine Bazooka auch nicht geholfen. Ich schaffe es, ein paar Granaten loszuwerden. Rücksicht ist hier nicht gefragt. Mein Gewissen beruhigt sich schnell wieder. Schließlich ist der Radler der König der Plöck: 'Bow down, niggaz!' Völlig unerwartet trifft mich ein hinterhältiger 'to go - went - gone'-Konjugations-Choral und kostet mich den linken Arm. Klingeln kann ich jetzt nicht mehr.

Achte Station. Essighaus.

Wir sind nur noch elf. Doch ich weiß, am Zuckerladen kommen nur wenige vorbei. Vier halten und kaufen rosa Riesenherzen für Mami zum Muttertag. Auf den rosa Riesenherzen steht 'Für Mami zum Muttertag'. In der oberen Plöck sind wieder mehr Autos unterwegs. Ein Wäscheservicetransporter, ein Schreiner und ein Bierlaster. Was hat eigentlich dieser Kadett-Wichser mit Rendsburger Kennzeichen hier verloren? Die Plöck ist doch nur für Anwohner, Anlieger, Anlieferer und Anfahrer gedacht. Apropos anfahren. Der Rendsburger zermalmt zwei von uns. Vor dem Anstieg zur Unibibliothek habe ich also nur noch vier Gegner. Doch halt. Die blonde Barbourjacke aus der Rechtskurve zu Beginn hat anscheinend die Oma verdaut und aufgeholt. 'Blöde Juraziege' kann ein unvorsichtiger Kommilitone neben mir noch rufen, bevor sie ihn mit ihrem Seidenschal erwürgt. Diese Dinger können schon verdammt praktisch sein. Gerade bei Halsweh. Der letzte Anstieg. Der letzte Zebrastreifen. Die letzten unachtsamen Fußgänger. Der Endspurt beginnt. Hatte Darwin eigentlich ein Fahrrad? 'Survival of the bikest'? Ich lade nochmal durch.

Neunte Station. Unibibliothek.

Ich hatte es geahnt. Die finale Hürde schien genommen, das Rennen entschieden, der Sieg geteilt, das Überleben - einmal mehr - Anlaß zu unbändiger Freude einerseits und Gelegenheit zum Vorlesungsbesuch andererseits. Doch als wir verbliebenen fünf gerade den Schweiß von der Stirn, das Blut vom Karohemd und den Schlamm vom Fahrrad wischen wollten, rennt Raban von der Malsburg in Windeseile die Seminarstraße hinauf, ruft 'Landtag ahoi' und streckt uns in einem einzigen Handstreich mit einem wohlgezielten Studienratschlag nieder. 'Eli, Eli, lema sabachtani' skandieren wir im letzten Atemzug bevor wir niedersinken, während von der Schädelhöhe demütig der kalte Wind des Vergessens über unsere Leiber hinweg die Schicksalsstraße Plöck hinabweht...

Zehnte Station. Himmelreich.

Es ist vorbei und zuerst dachte ich 'gut so'. Auch daß ich im Himmel weiterhin radfahren muß, stört mich eigentlich wenig. Doch während wir fünfzig Plöck-Helden so ein wenig im Himmel herumradeln, erscheint uns plötzlich Beate Weber in Gestalt eines Seraphim. Und unterstützt von einem durch zwangssterilisierte Burschenschaftler im Falsett vorgetragenen Cherubim-Choral zelebriert sie vor unseren offenen Augen und Ohren eine Inauguralrede: 'Amen. Amen und Willkommen. Ich aber sage Euch, dies ist ein neuartiges Verkehrskonzept mit beispielhafter Ausgestaltung der Orientierung am individuellen Verkehrsteilnehmer. Vor einem ökologischen Hintergrund ersonnen und entwickelt, ebenso einzigartig wie führend in Deutschland, kinderfreundlich, rentnerfreundlich und behindertenfreundlich. Voll der Rücksichtnahme gegenüber den Anwohnern, schadstoffreduzierend, ausgereift, empirisch außerordentlich erfolgreich, sehr hohe Akzeptanz, ..." et cetera ad infinitum.

Epilog.

Der Tod in der Plöck ist kein einsamer Tod. Wir waren viele. Dort, wo wir fielen, haben sie Kreuze aufgestellt als Mahnmal unserer Heldentaten und unseres alltäglichen, immerwährenden Kampfes. Es ist unser bleibender Trost, daß die Vielzahl an Autoreifen und Stickoxiden auf lange Sicht verhindern wird, daß Gras über diese Geschehnisse wachsen kann. Wer die Plöck schafft, schafft das Leben. (jk)


Brittas Butterstulle

Meditationen aus der wackeren Weststadt

Widmen wir diese Kolumne den Unwissenden. Zuerst jenen Unwissenden, die noch nichts mit Brittas Butterstulle anfangen können. Ihnen kann geholfen werden. Diese Kolumne beschäftigt sich mit den Gescheh- und Erlebnissen in und um eine 5-Mann-und-3-Frau-WG in Heidelbergs wackerer Weststadt.

Wir kommen zu den zweiten Unwissenden: Nämlich denen, die touristischerweise ins schöne Heidelberg kommen und nicht wissen, was sie hier tun sollen. Auch ihnen kann geholfen werden: Dank der Zeitschrift "Heidelberg diese Woche", "this week" und "cette semaine" (Trotz multilingualer Untertitelung ab hier schlicht "HdW"). Selbiger Ausbund informativ-heidelbergerschen Journalismusses erscheint wöchentlich und dies bereits im 47. Jahrgang. Doch schaun wir mal hinein: Unter der Rubrik "Hab' Zeit für Heidelberg" findet der Sightseeing-Junkie diverse Programmvorschläge für unterschiedliche Aufenthaltsdauer. Der Kolumnist formuliert p(t): Programmvorschlag p in Abhängigkeit der Zeit t. Ist t=1, so folgt p(t)= "Haben Sie es wirklich so eilig?" Natürlich wird der ebenso erwartungsvolle wie ahnungsloseLeser deutschsprachiger Stadtpamphlete genau dorthin geschickt, wo gar kein Platz mehr für ihn/sie ist. Denn Heidelbergs schönster Steinhaufen ist ja bereits kolonialisiert von einer Masse quirlig-quäkender Japaner und den Staatsangehörigen diverser anderer "Europe-in-10-days"-Nationen. Diese sind schon in den frühen Morgenstunden am Neckarmünzplatz aus dem Bus herausgequollen, haben sich dann durch die "Leyelgasse” in Richtung Bergbahn gequält (Velzeihung, wil velgaßen den "Sepp'l”), um letztendlich die Schloßterasse unter einem Blitzlichtgewitter erzittern zu lassen.

An dieser Stelle möchte der Autor bemerken, daß die leicht volulteilsbehaftete Darstellung kleinwüchsiger Devisen-ins-Land-Bringer in unmäßiger Anmaßung gegen alle Touristen gerichtet ist, die durch ihre Anwesenheit in der Haupstraße während der Sommermonate jeden Heidelberger nicht nur an seiner Muttersprache zweifeln lassen, sondern auch an der Tatsache, in dieser Stadt möglicherweise irgendjemand zu kennen. Da sich der Kolumnist dieses ernüchterten Gefühls der Hilflosigkeit und Fremdartigkeit in der eigenen Stadt allgegenwärtig bewußt ist, konnte er sich kürzlich ein Lächeln nicht verkneifen, als einer jener ehrenwerten japanischen Besucher in der Hauptstraße von einem Schwall Wasser aus dem 2. Stock erfaßt und benäßt wurde (Wir alle hoffen es für den so Betroffen- und Begossenen, daß es tatsächlich nur Wasser war). Diese Szene spielte sich vor jenem Laden ab, der sich - wie wir befürchten - als explizit extraterritoriales Gebiet nicht mehr unter deutschnationaler Hoheit befindet, in den sich jener Herr folglich sofort und erbost stürzte und der in HdW folgendermaßen aufschlußreich inseriert:

Doch jetzt zum Nationalitätenpreisrätsel: Welche Touri-Spezies wagt es regelmäßig, mit einem "Hofbräuhaus München"-T-Shirt durch Heidelberg zu latschen? Zuschriften unter Kennwort "Njuwschwornstain" an die Redaktion. Der Autor bittet auch diejenigen zu schreiben, die Interesse daran hätten, sich im August mit Lederhose respektive Dirndl auf den Uniplatz zu stellen und für je 5 Mark ein Photo mit "a real german student” feilzubieten.

Zurück zum Thema: Was also tun mit p=1? HdW schlägt zusätzlich den Philosophenweg vor, oh Wunder, und wir geben wieder: "Zur Rechten, unter Ihnen, liegt die romantische Stadt, fast unverändert wie auf dem mittelalterlichen Stich von Merian." Bis auf die Müllverbrennungstürme. Danach heißt's Spazierengehen vorbei an "Deutschlands ältestem Mensurlokal" (Aha!) und "bummeln" zum "pulsierenden Bismarckplatz" (was dieser wohl nur tut, wenn die omnipräsente Polizeistreife ihr Autoradio zu laut aufdreht). Und p=2 bietet noch mehr Highlights: so findet man z.B. im Kurpfälzischen Museum "einen Abguß des 'homo heidelbergensis', des ältesten Unterkiefers der Menschheitsgeschichte." Für p=3 oder p=4 geht's dann ("wenn Sie einigermaßen gut zu Fuß sind") hinauf nach Dilsberg und zur Thingstätte. Wir bewundern poetischst "den durch das Tal sich schlängelnden Fluß".

Ein p>4 schließlich gibt's in HdW nicht. Der Durchschnittstourist will oder kann oder darf eben nicht länger bleiben. Basta. Ist ja auch gut so. Wir schließen, daß Japaner vermutlich nicht nur die besseren Liebhaber, sondern auch noch die besseren Touristen sind. Und warum? Weil sie immer wieder kommen. (jk)


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