Meinung


point & counterpoint: Gemeinderat für die Kids?

Jugendliche an die Macht? Sollen Heranwachsende aktiv in die Politik eingreifen können? Genügen dafür die bisherigen Möglichkeiten oder ist eine eigene kommunale Vertretung notwendig? Modelle von Jugendparlamenten existieren bereits. Doch welche Kompetenzen sollen sie haben? Können die Jugendlichen durch sie ihre Interessen angemessen vertreten?Wir fragten nach.

Soll Heidelberg eine kommunale Jugendvertretung
erhalten?

Anschi Scholbeck
Städträtin Heidelberg, GAL

Jugendliche wollen selber bestim-men, wo's lang geht. Ihnen wird häufig unterstellt, sie wären an politischen Gestaltungsprozessen nicht interessiert. Daß dem nicht so ist, zeigt eine bundesweite Umfrage unter 15.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 4-14 Jahren, die ergab, daß 78% aktive politische Mitbestimmung wollen. Wir, die GAL (Grün-Alternative Liste), GAJ (Grün-Alternative Jugend) und Grüne/Bündnis 90 reden nicht nur davon, Jugendliche mit ihren Anliegen ernst zu nehmen, sondern wollen dafür auch etwas tun. Um Jugendliche aktiv an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, reicht es nicht aus, ein Diskussionsforum (bspw. "Jugendforum") zu gründen, das keinerlei Kompetenzen, Legitimation und somit wenig Einfluß auf politische Prozesse hat. Jugendlichen müssen Entscheidungsräume, Rechte und Einflußmöglichkeiten in Form eines legitimierten Gremiums eingeräumt werden. In Baden-Württemberg gibt es bereits in 24 Gemeinden (z.B. in Weingarten, Friedrichshafen, Filderstadt) einen Jugendgemeinderat (JGR), der sich dort sehr bewährt hat. Wir fordern daher die Einrichtung eines Heidelberger Jugendgemeinderates, der als Sprachrohr und Interessenvertretung von Jugendlichen gegenüber der Öffentlichkeit und des Gemeinderat fungiert.

Der Jugendgemeinderat sollte ein überparteiliches, unabhängiges Gremium sein, das von in- und ausländischen Jugendlichen gewählt und gebildet wird.

Unabdingbar für einen Jugendgemeinderat ist ein Anhörungs-, Initiativ- und Rederecht für Jugendliche. Das heißt, Jugendliche müssen selber Initiativen und Anträge in den Gemeinderat einbringen und dort abstimmen lassen können. Werden Themen behandelt, die Jugendliche betreffen, so halten wir es für sinnvoll, die Beschlußkompetenz des Gemeinderats dem Jugendgemeinderat abzutreten und dieses Gremium entscheiden zu lassen. Darüberhinaus sollte der Jugendgemeinderat das Recht zu eigenen Veröffentlichungen im Heidelberger Stadtblatt haben und ein Budget bis zu 10.000 DM pro Jahr zur Verfügung haben, um Veranstaltungen und Publikationen finanzieren zu können.

Dem Jugendgemeinderat soll in allen Sitzungen, außer bei Personalentscheidungen, die Jugendliche nicht betreffen, ein Anwesenheitsrecht, auch in nicht-öffentlichen Sitzungen des Gemeinderats, eingeräumt werden. Diskutiert werden muß die Länge der Legislaturperiode und ab welchem Alter die Jugendlichen kandidieren und wählen dürfen. Möglich wäre, ein ähnliches Modell wie in Filderstadt einzuführen. Hier setzt sich der Jugendgemeinderat aus zwanzig Jugendlichen zusammen und wird auf zwei Jahre gewählt. Jugendliche können dort im Alter zwischen 14 und 18 Jahren kandidieren und wählen. Es gibt keine konkurrierenden Listen, sondern eine gemeinsame Liste, auf der alle Bewerberinnen und Bewerber kandidieren. Aufgrund dieser Wahl wird eine verbindliche Verpflichtung zur kontinuierlichen Teilnahme und Verantwortung gegenüber der Arbeit gewährleistet und sichergestellt, daß das Gremium von Gemeinde und Verwaltung ernst genommen wird.Wie aber ein JGR in Heidelberg aussehen soll, sollen die Jugendlicheselbst entscheiden.Daher wird es in den nächsten Wochen unser Ziel sein,mit den Jugendlichen zusammen eine parteiübergreifende Diskussion über einen Jugendgemeinderat in Heidelberg anzustoßen. Denn die beste Interessen vertretung für Jugendliche sind die Jugendlichen selber!

Werner Pfisterer
Gemeinderat und stellvertretender Fraktionsvorsitzender, CDU

Von verschiedenen Gruppen, namentlich von der Grün-Alternativen Liste (GAL) im Heidelberger Gemeinderat, wird derzeit eine Diskussion um die Einrichtung eines Jugendgemeinderates geführt. Die Diskussion um mehr Beteiligung von Jungendlichen hält die CDU für sehr wichtig und für sinnvoll. Kinder und Jugendliche nehmen ihr Lebensumfeld wach zur Kenntnis und machen pragmatische Vorschläge, die wir sehr ernst nehmen sollten. Kinder und Jugendliche sollten daher tatsächlich stärker am öffentlichen Leben beteiligt werden. Dies kann auf verschiedenen Wegen geschehen, zum Beispiel über den Eintritt in eine politische Partei bzw. deren Jugendorganisation; für die CDU wäre dies die Schüler-oder Junge Union. Auch die Direktkandidatur für den Gemeinderat ist für Jugendliche eine Möglichkeit zu politischer Beteiligung.

Die Einrichtung eines Jugendgemeinderates aber lehnen wir ab. Man kann nicht für eine Gruppe Sonderrechte schaffen, sonst müßte man auch noch für Senioren, Behinderte, usw. einen Gemeinderat einrichten. Die Zusammensetzung des Gemeinderates ist per Gesetz festgelegt und darf nicht um eine Kinder- oder Jugendvertretung ergänzt werden. Der bestehende Gemeinderat sollte mit seinen Einflußmöglichkeiten immer wieder Partei für die Kinder und Jugendlichen ergreifen. Das aber setzt voraus, daß wir alle noch mehr zuhören, die Alten und die Jungen. Nur so erfahren wir, wo ihre Bedürfnisse liegen, beziehungsweise was von den Wünschen und Anregungen, die die Kinder und Jugendlichen vorbringen, umgesetzt werden kann.

Unabhängig von allen Vorschlägen sollten sich Jugendliche direkt in der Politk und im Gemeinderat engagieren. Die CDU Heidelberg hat seit langer Zeit immer Platz 5 ihrer Kommunalwahlliste für die Jugend reserviert. Jugendliche, die mitarbeiten möchten, sind in den kommunalen, sportlichen, sozialen, musikalischen und auch politischen Vereinigungen sehr willkommen. Dort können sie mehr bewirken als in einem Kinder- und Jugendgemeinderat. Es bestehen heute viele Möglichkeiten für Jugendliche unter 18 Jahren, ihre politischen, kulturellen oder sozialen Interessen einzubringen und zu gestalten.Die CDU ist der Auffassung, daß es derzeit keine Politikverdrossenheit im allgemeinen Sinne bei den Jugendlichen gibt, sondern daß sich die Jugendlichen engagieren, wenn sie ihre Interessen sehr konkret vertreten wollen. Es ist allgemein feststellbar, daß es kein allgemeines Engagement in Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Vereinen mehr gibt, wie das früher zahlmäßig häufig der Fall war. Stattdessen findet heute der Einsatz für die eigenen Interessen gezielter und mehr an konkreten Anlässen orientiert statt.

Im Gegensatz zur SPD sind wir beim Wahlrecht allerdings der klaren Meinung, daß es vernünftiger ist, die Grenze bei 18 Jahren zu belassen und nicht auf 16 Jahre zu senken. Es kann nicht angehen, daß sich das linke Lager - SPD, Grüne und so weiter - den Wähler nach seinen politischen Interessen schafft. Dies wäre der Fall, wenn man - wie es Scharpings Schatten-Sozialministerin Heidi Schüller bereits gefordert hat - die älteren Mitbürger vom Wahlrecht ausschließt und versucht, für Jungwähler, auf deren Stimmen man hofft, das Wahlalter zu senken. Die CDU wird den Versuch, die Senioren auszuschließen, aufs schärfste bekämpfen, und Bestrebungen, das Wahlalter zu senken, in keiner Weise mittragen.

(Red. "point/counterpoint": kirk/bpe)


Interview: Hans-Georg Gadamer

Die breite, gepunktete Krawatte ist lose gebunden und fällt schräg an seinem Oberkörper herunter. Der im Februar 95zig gewordene Philosoph sitzt seitlich geneigt im Sofa und blickt dem Besucher interessiert entgegen. So wie bei berühmten Pianisten im hohen Alter ihre Hände zum Merkmal ihres künstlerischen Vermögens werden, so sind bei dem zu den letzten großen Denkern des 20. Jahrhunderts gehörenden Hans-Georg Gadamer die leuchtenden Augen Ausdruck seines geistigen Vermögens. Der in Breslau Aufgewachsene habilitierte sich 1929 bei Heidegger und übernahm 1949 den Lehrstuhl von Karl Jaspers in Heidelberg. Mit "Wahrheit und Methode" veröffentlichte Gadamer 1960 sein Hauptwerk. Seine Philosophie befaßt sich mit der philosophischen Hermeneutik - der Kunst des Auslegens und Verstehens: Im "lebendigen Dialog" kann es zu einem wirklichen Verständnis des Anderen kommen.

ruprecht: Herr Gadamer, Ihre Philosophie - die philosophische Hermeneutik - beschäftigt sich im wesentlichen mit dem Dialog. Wie wird aus dem Gespräch zwischen Ihnen und mir, also aus dem bloßen Miteinander-Sprechen, ein Dialog?

Gadamer: Zu einem Dialog käme es dann, wenn Sie kein Programm hätten.

ruprecht: Schlechte Startchancen... Die Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen. Sie haben aufgezeigt, wie wir einander verstehen können. Welches sind die Kerngedanken der Hermeneutik?

Gadamer: Es ist natürlich immer eine Augenblickssache, ob das Verstehen gelingt. Aber ich könnte schon von einem Grundsatz ausgehen: Daß man nämlich das, was die Hermeneutik ist, niemals mit wenigen Worten sagen kann. Es gibt unendlich viele Formen des Mißverstehens, des Aneinander-Vorbeiredens oder des ewigen Wiederholens-des-Immergleichen, ohne daß wir den anderen jemals verstehen. Deshalb habe ich Hermeneutik auf eine andere Formel gebracht: Bereit sein, daß man auch mal Unrecht hat.

ruprecht: Gerade eine offene und multikulturelle Gesellschaft ist auf den Dialog angewiesen. Bewährt sich der hermeneutische Dialog im Austausch zwischen einem Gastarbeiter aus Ghana und seinem deutschen Nachbarn?

Gadamer: Hier haben wir in der Tat ein sehr schwerwiegendes Sprachproblem. Oft ist es ja so, daß, wenn man sich mit einem Anderssprachigen unterhält, die Abmachung getroffen wird, "Du sprichst in deiner Sprache, ich in meiner". Nach fünf Minuten verläuft das Gespräch aber nur in einer der beiden Sprachen. Sonst geht es gar nicht. Solange jeder in seiner Sprachwelt verharrt, wird nur aneinander vorbeigeredet. Man muß in ein und derselben Sprache die Worte finden, die einander erreichen.

ruprecht: Sehen Sie Chancen für eine funktionierende Veständigung?

Gadamer: Ja. Ich erlebe in Heidelberg oft, wie jüngere amerikanische Kollegen mit ihren Familien nach Deutschland kommen. Die Eltern, die hier an der Universität arbeiten, haben alle exzellente Sprachzeugnisse. Das Interessante ist: Nach drei Wochen lernen die Eltern von ihren Kindern die Sprache, da die Kinder in den Kindergarten gehen und dort die Sprache erst wirklich lernen.

ruprecht: Zeigen sich nicht Grenzen der Verständigung auf globaler Ebene? Der Umweltgipfel in Rio oder die Bevölkerungskonferenz in Kairo konnten, obwohl die Probleme klar erkannt wurden, keine Handlungsvorgaben entwickeln. Viel Worte, keine Folgen?

Gadamer: Hier sprechen Sie ein anderes Problem an, nämlich das der Umsetzung in die Praxis . Davon rede ich nicht, weil ich den wirklichen Dialog meine. Aber zu den Konferenzen. Hier kann es kaum zu einer fruchtbaren Verständigung kommen. Diese großen Runden, in denen viel gesprochen wird, und wo dann doch nichts entschieden wird. Nein, ich glaube, es wird eine neue Generation kommen, die das dann besser macht, d.h. die für ein besseres Miteinander keine Konferenzen braucht.

ruprecht: Kommen wir wieder auf die zwischenmenschliche Ebene zurück. Sie haben geschrieben: "Die ethischen Ideale müssen im gesellschaftlichen Dialog über ein spezifisches Problem erarbeitet werden." Solch ein Dialog braucht viel Zeit. Aber beispielsweise das Problem der Bevölkerungsexplosion braucht sofortige Maßnahmen.

Gadamer: Gibt es schnellere als vernünftige und wohlberatene? Freilich, mit wem soll man sich beraten? Es soll ja nicht alles im Dialog geregelt werden. Ich denke mir das so, wie es ja wohl auch in der Welt beschaffen ist: So ist es eine Illusion, zu glauben, jeder müßte bei allem mitreden. Es ist in der Praxis doch immer so, daß wenige entscheiden. Sie müssen jedoch demokratisch legitimiert sein und Rechenschaft geben.

Nicht jeder einzelne Mensch kann im Dialog über letztgültige Normen beraten. Der Dialog ist ein sehr sehr kleiner Teil, ein winziges Moment, das dazu beihelfen kann, daß es auf allen Niveaus der Beratung besser wird. Die Beratung und Entscheidung bewegt sich in dem vom Gesetzgeber und der Gesellschaft vorgegebenen normativen Bereich. In diesem Bereich muß der Einzelne mit Anderen erörtern, was gut und was schlecht ist. Die Regeln sind mehr oder weniger vorgegeben. Aber eine meiner Maximen ist: Bei einer Regel muß immer danach gefragt werden, was sie erlaubt, welche Freiheit sie gibt, nicht danach, was sie einschränkt.

ruprecht: Nicht jeder ist zum Dialog bereit. Was machen Sie mit dem, der sich verweigert?

Gadamer: Nichts. Dann redet er eben nicht.

ruprecht: Keine sehr vielversprechende Situation.

Gadamer: Vielleicht hat er doch mal Lust. Er wird schon früher oder später kommen und sehen: "Aha, das ist ja doch ganz gut, was die anderen denken. Das ist ja sinnvoll, mit denen einmal zu reden."

ruprecht: Gibt es im Menschen etwas, das ihn zum Dialog treibt? Sie sprechen oft von der Solidarität.

Gadamer: Aber natürlich! Wozu ist denn sonst das Wort, die Sprache, überhaupt da. Es ist doch nur für den anderen da. Der Mensch will sich mit seinen Mitmenschen austauschen und kann ohne den Anderen überhaupt nicht leben. Nicht umsonst reden wir von "Muttersprache".

ruprecht: In Heidelberg wird dieser Tage ein Hochsicherheitslabor für Gentechnik eröffnet. Die Möglichkeiten der Gentechniker wecken in der Gesellschaft Ängste. Welche Rolle spielt hierbei der Forscher?

Gadamer: Die Wissenschaft und die Forschung kann man nicht reglementieren. Sie muß frei arbeiten können. Natürlich, mit ihren Ergebnissen können scheußliche Dinge angefangen werden. Auch Otto Hahn hat nicht an die Atombombe gedacht! Der Einzelne ist ein kleiner Teil in einem großen System, und was aus dem, was er tut, wirklich wird, das weiß er nie. Ähnlich ergeht es dem Forscher.

Aber wenn Sie nach den Motiven für verhängnisvolle Anwendungen der Forschungsergebnisse fragen, zum Beispiel die Anwendung von Waffengewalt, von Terror, so stellt sich dies als die Hauptaufgabe unserer heutigen Zivilisation dar, wie sich der Mißbrauch der in die Hand des Menschen gelegten Macht verhindern läßt.

Aber sicher ist richtig, daß die Wissenschaft uns mit immer größeren Gefahren konfrontiert. Was aus dieser Situation heraus die heutige Gesellschaft prägt und was für sie kennzeichnend ist, ist ihre gemeinsame Angst! Die Angst stiftet zwischen den Menschen neue große Solidaritäten. Etwa wie wir sie mit Überraschung im Bombenkrieg erlebt haben. Es gab wieder Nachbarn! Aus Solidarität und durch die Konzentration auf das Gemeinsame hin wird man zu vernünftigen Lösungsansätzen gelangen, hoffe ich.

ruprecht: Hans Jonas spricht von der "Heuristik der Furcht".

Gadamer: Ja. Das ist zwar nichts Neues gewesen. Aber er hat es in einer sehr verdienstvollen Weise aufgearbeitet und wieder in das allgemeine Bewußtsein erhoben, was Kant sehr wohl gewußt hat, wenn er von den Imperativen der Klugheit und von dem kategorischen Imperativ sprach, daß man niemals einen Menschen nur als Mittel zum Zweck gebrauchen dürfe.

Ich bin allerdings skeptisch, ob die oftmals auftretende hysterische Furcht vor zukünftigen Entwicklungen begründet ist. Nehmen Sie doch mal als Beispiel die Erfindung des Rades, des Pfluges oder auch des mechanischen Webstuhls und vergleichen Sie, wie man vor und wie nachher gelebt hat. Da konnten die Menschen damals auch sagen - und sie haben es gesagt: "Das ist doch kein Leben mehr. Früher war das doch so und so." Nun, es ging doch, nur eben anders.

ruprecht: Denkt jede Generation, sie hätte die schwerwiegendsten Probleme?

Gadamer: In gewisser Weise schon. Ich bestreite, daß alles so furchtbar neu ist. Die Angst vor umwälzenden Entwicklungen ist nichts Neues. Gleichwohl ist es andererseits unbestreitbar, daß wir heute vor einer Grenzsituation existentieller Bedrohung stehen, die in der Geschichte keinen Vergleich hat.

ruprecht: Wie das Genlabor zeigt, steht die Universität Heidelberg heute für Medizin und Molekularbiologie, also für die Naturwissenschaften - früher war sie Hochburg geisteswissenschaftlichen Forschens. Sie sind einer der großen Geisteswissenschaftler dieses Jahrhunderts. Macht sie dieser Wandel betroffen?

Gadamer: Aber nein. Daß die Naturwissenschaften dominieren, ist doch nichts Neues. Das ist schon seit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert so. Es fällt heute vielleicht mehr auf, weil so viele Gelder zu den Naturwissenschaften fließen.

ruprecht: Aber die Reputation der Geisteswissenschaften ist doch heute stark zurückgegangen. Wenn ein Problem zur Lösung ansteht, fragen die Leute nach dem naturwissenschaftlichen Experten und nicht nach dem Politologen, geschweige denn nach dem Philosophen. Der Naturwissenschaftler, so die verbreitete Meinung, könne sagen, was das "Faktum" sei.

Gadamer: Was glauben Sie, was mir mein Vater, der Chemiker war, vorgehalten hat, als ich ihm sagte, ich wolle Geisteswissenschaften studieren. Seiner Meinung nach ging ich zu den "Schwätz-Professoren". Nein, die Reputation der Geisteswissenschaften war schon vor 100 Jahren schlecht.

Aber zum "Faktum": Wenn ein Naturwissenschaftler mir sagt: "Das sind facts, Tatsachen", dann lächele ich natürlich im Geist. Der Zeigerausschlag auf seinem Meßinstrument ist doch nur das Resultat einer hochkomplexen Vermittlung zwischen dem Wissenschaftler und seinem Untersuchungsgegenstand.

ruprecht: Was kann er besser machen?

Gadamer: Nichts. Er macht es vielleicht gut. Aber es würde ihm nichts schaden, zu uns zu kommen und denken zu lernen.

ruprecht: Wenn es so ist, daß die Naturwissenschaften ohne über ihre Grenzen nachzudenken nicht zum Erfolg kommen, muß man dann wie ihr Kollege Paul Feyerabend behaupten: "Letztlich sind alle Naturwissenschaften Geisteswissenschaften"?

Gadamer: Der von Ihnen genannte Kollege neigte zu Übertreibungen. So weit kann man nicht gehen. Er hält immer noch zu viel von den Wissenschaften. Daß bei allem Geist dabei ist, ist natürlich richtig, aber das meinen wir nicht, wenn wir von den Geisteswissenschaften sprechen. Was wir meinen, ist, sich bewußt zu machen, daß die Tatsachen immer schon etwas durch uns Erinnertes und Interpretiertes sind. Leugnen wir diesen Zusammenhang, so fixieren wir die Natur auf erzwungene Antworten und beherrschen sie dadurch vielleicht. Die Geisteswissenschaften und vollends die Philosophie sind sich ihrer Sache nie so sicher.

ruprecht: Zurück zu den Problemen des Dialoges. Er setzt voraus, daß man vom Thema des Gespräches innerlich ergriffen ist. Noch nie hat man so viel kommuniziert wie heute: Telefon, Telefax und Talkshows. Geht nicht gerade dadurch die Fähigkeit zum Ergriffen-Sein verloren?

Gadamer: Ja, gewiß. Denn das sind alles Mittel, den lebendigen Dialog zu verdrängen. Mein Rat ist: Überlege, bevor Du auf den Knopf drückst. Womöglich ist es vernünftiger, selber nachzudenken und auf gute Freunde zu hören.

ruprecht: In Ihren Werken geben Sie der Überzeugung Ausdruck, daß die Vernunft den Weg zum Guten weist...

Gadamer: ...wirklich?

ruprecht: ...wir denken schon. Sie haben in ihrem Leben schon viele Irrwege der Menschen miterlebt. Vertrauen Sie immer noch auf die heilende Kraft des gesunden Menschenverstandes?

Gadamer: Da fühle ich mich nicht richtig wiedergegeben. Ich behaupte nicht, daß der Mensch nur aus Vernunft besteht. Er besteht zu einem weit mächtigeren Teil aus seinen Emotionen. Das muß doch jeder zugeben. Das wird beim Katholizismus, der die Wichtigkeit der Zeremonien erkannt hat, gesehen, ganz im Gegensatz zum betont rationalen Protestantismus. Aber es ist auch ein Aberglauben, wenn man die Wissenschaft für ein All-heilmittel hält. Das ist keine Wissenschaft, die das denkt!

Eine andere Art, mit der menschlichen Art umzugehen, ist zum Beispiel die chinesische. Schauen Sie sich diese Selbstdisziplin an. Eine jahrtausendalte Kultur des Umgangs miteinander. Von dieser Kultur können wir noch viel lernen. Die europäische Kultur ist in eine Sackgasse gerannt. Wer weiß, vielleicht sprechen wir im Jahre 3000 in Europa chinesisch. Vor 200 Jahren standen die Menschen vor dem Beginn des europäischen Wirtschaftsimperialismus, heute stehen sie vor der globalen Aufgabe, miteinander zu leben und weder uns gegenseitig umzubringen, noch unser aller Lebensgrundlagen zu zerstören.

Die "Hermeneutik" ist auch kein Allheilmittel. Aber als Philosophie macht sie uns bewußt, daß wir nicht von der Wissenschaft, auch von den Geisteswissenschaften nicht, erwarten dürfen, was sie nicht leisten kann.

(eile, hb)


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