Feuilleton


ruprecht on the record

Heiners Hör(fest)spiele

"Durch den Fortschritt der Technik entwickelt sich eine neue Ästhetik." Dieser Ausspruch des 43jährigen Heiner Goebbels nimmt das Thema vorweg, um das die Kompositionen des Pfälzers kreisen: die moderne, v.a. die urbane Welt. Daß er neben Schulmusik auch noch Soziologie studiert hat, mag für manchen befremdlich klingen,andere werden es als Indiz dafür sehen, daß er weiß, wovon er redet. Zwei ruprecht-Redakteure stellen je ein Werk des polarisierenden Komponisten vor - und trugen die Kontroverse in die Redaktion.

Ensemble Modern - vier Kompositionen

Der Komponist Heiner Goebbels sitzt zwischen allen Stühlen - wird behauptet. Doch eigentlich klingt das fast zu schön, um wahr zu sein. Denn wer sitzt heute schon nicht gerne zwischen allen Stühlen?

Was genau macht der Mann? Eine Betrachtung/Belauschung der vier Stücke, die er mit dem Frankfurter Ensemble Modern produziert hat, ergibt in etwa folgendes Bild: La Jalousie, Geräusche aus einem Roman (und zwar aus einem von Alain Robbe-Grillet) erzählt von der Eifersucht eines Mannes, dessen Frau mit einem Freund in die Stadt gefahren ist. Goebbels gelingt es, durch geschicktes Kombinieren von gesprochenem Text und Klängen das, was im Text unausgesprochen bleibt, in klanglichen Bildern heraufzubeschwören. So folgt beispielsweise den eifersüchtigen Gedanken des Mannes eine schier endlose Passage, in der über dem unerbittlichen Metrum von Stöckelschuhen auf Asphalt das erst ratlos tastende Ensemble allmählich aus dem Häuschen gerät. Derart entsteht ein subtiles, spannungsreiches Ineinander von Text und Musik.

Die beiden rein instrumentalen Stücke Red Run (eine Ballettmusik) und Herakles 2 lassen genau diese Spannung vermissen. Zwar überrascht Red Run immer wieder mit exquisiten klanglichen Einfällen; als Ganzes wirkt es aber doch eher beliebig. Daß Goebbels beim Komponieren stark mit Improvisation arbeitet, ist hier kaum zu überhören. - Ähnliches gilt für Herakles 2. Das Stück folgt einem Text von Goebbels' Leib- und Magenpoeten Heiner Müller. Allerdings ist nur "die Struktur des Textes vertont", so Goebbels; die größere Geschlossenheit als bei Red Run verdankt Herakles 2 denn auch weniger der (unsicht- bzw. hörbaren) Textvorlage als vielmehr dem einheitlicheren Klangbild: Das Ensemble besteht hauptsächlich aus Blechbläsern.

Zuletzt Befreiung auf einen Text von Rainald Goetz: ein Furioso. Goebbels schafft es, Goetz' Frontalangriff gegen die Neue Behaglichkeit, der auf der Sprechbühne wohl eher zermürbend wirkt, durch seine "Vertonung" bis zu einer geradezu monströsen Komik zu steigern - virtuos angewidert zelebriert vom Sprecher Christoph Anders: Goebbels total.

Ach ja, und wie war das doch gleich mit den Stühlen? Musikalisch bedient sich Goebbels aus vielen Schubladen: Jazz, Rock, Neue Musik, Experimentelles... von allem etwas also. Solange er all dies einsetzt, um sich einem Text zu nähern, führt das zu teils verblüffenden Ergebnissen; aufs rein Instrumentale angewandt überzeugt diese Art zu Komponieren allerdings weniger... (s.o.).

Man könnte also vielleicht sagen: Heiner Goebbels sitzt auf allem Stühlen - auf jedem ein bißchen. Zwischen den Stühlen dagegen trifft man ihn eher gehend: beim Stühlewechseln. (koben)

Surrogate Cities - Ein Konzert

Sprache ist lautlich artikulierte bewußte Geistigkeit. Meint zumindest das Lexikon. Und obwohl Heiner Goebbels als Musiker in einem anderen Artikulationsmedium zuhause ist, scheint er nicht auf jenes erste verzichten zu mögen. Um nicht mißverstanden zu werden: Wir reden nicht von Liedern. Wir reden von Musik und von Literatur auf demselben Tonband; und es hört sich einfach gut an.

Die Texte stammen bei ihm meist von Heiner Müller, dessen halbes Oeuvre er in den achtziger Jahren musikalisch umsetzte und mit dem ihn außer dem gemeinsamen Vornamen auch eine enge Freundschaft verbindet. Doch den einen Heiner auf den anderen Heiner zu reduzieren, wäre zu einfach. Nirgends wird das so deutlich wie in seiner eineinhalb Stunden - Hommage an die großen Städte dieser Erde, Surrogate Cities, die Goebbels anläßlich des 1200jährigen Bestehens der Stadt Frankfurt vor einigen Jahren für die Junge Deutsche Philharmonie schrieb.

Heiner Müller ist auch dabei, ins Englische übersetzt, mit der Erzählung des vorgeschichtlichen Bürgerkrieges zwischen den Städten Rom und Alba, der von zwei Horatioren stellvertretend geführt wurde, um die Armeen zu schonen. Der Horatio von Alba unterliegt: "So that his blood dropped - to the earth...", kommentiert unendlich langsam der Mezzosopran, während das Orchester betreten schweigt, nur um gleich wieder loszufideln: "When the horation came home - to the city of Rome...". So packend wurde die unzählige Male recycelte Überlieferung des Livius von Aufstieg und Fall des siegreichen Römers vielleicht noch nie erzählt.

Für den Abschied von Heiner Müller und dem ehrwürdigen Rom läßt Goebbels dem Hörer dann aber nicht viel Zeit, immerhin ist Surrogate Cities ein Konzert für Frankfurt, und das hat mehr zu bieten. Kaum hat der letzte Tropfen Blut den Boden erreicht, versinkt das Orchester mittels eines kaum auseinanderzunehmenden Mixes aus Stimmen, Geräuschen (um bei ein paar auf Kreissägenfrequenz gebrachten Geigen nicht "Ton" sagen zu müssen) und mittels Tonbandschnellvorlauf erzeugten Hektikkomponenten in den Alltag einer Fabrikhalle im Massenproduktionszeitalter. Die Stimmen stammen "von Menschen", so die vage Angabe Goebbels, genauso vage wie die Information über die Herkunft des Tonmaterials in einem anderen Satz des Konzertes: "Berlin, Tokio, Lyon, St. Petersburg, - Straßen der Randbezirke".

Surrogate Cities ist eine Liebeserklärung an die Städte am Ende des 20. Jahrhunderts, doch diese Liebe ist nicht blind, wie der Titel schon nahelegt: eine Stadt ist unnatürlich, vorläufig und vor allem laut, und laut muß Surrogate Cities schon gehört werden, um zu einem echten Hörfest zu werden. (gvg)

H. Goebbels: "La Jalousie, Red Run, Herakles 2, Befreiung", 1993, ECM Records
H. Goebbels: "Hörstücke", 3 CDs, 1994, ECM
H. Goebbels: "SHADOW, Landscape With Argonauts", 1993, ECM
H. Goebbels: "Surrogate Cities", bislang unveröffentlicht


Plattentips

JAZZMATAZZ VOLUME II - The New Reality Hosted By Guru

Guru, der Rapper von GangStarr, hat es erneut vollbracht: Nach dem wie eine Bombe eingeschlagenen ersten Werk "jazzmatazz - an experimental fusion of hip hop and jazz" hat er erneut Größen der Jazz/HipHop-Szene um sich geschart, um die Fortsetzung dieses Meisterwerks einzuspielen. Ergebnis ist ein umfangreiches Album, das das Konzept der ersten Platte weiterverfolgt. In dieser Weiterverfolgung begründet liegt schon die Tatsache, daß der wegweisende Effekt der ersten Platte natürlich nicht mehr erzielt werden konnte. Doch das ist auch nicht notwendig. Die HipHopJazz-Crossover nehmen beständig zu und Guru's Jazzmatazz ragt noch immer heraus. Den Abwechslungsreichtum dieser LP gewährleisten die vielen illustren Gäste, wie z.B Chaka Khan, Shara Nelson, Ronnie Jordan, Ini Kamoze, Jamiroquai, Solsonics u.v.a. Vielleicht mag es den Jazzfans zu poppig sein - sicherlich poppiger als die erste - und den Rappern zu seicht. Dennoch: ein wahrer Ohrenschmaus. Zum Zurücklehnen, auch mal zum Tanzen und so-wie-so zum Genießen.

The Notwist / 12

no-twist, no-punk, no-noise? Die Band aus Weilheim irgendwo bei München schafft mit ihrer dritten LP den großen Sprung. Weg vom Punk und dahin, wo der Grunge-Tod noch kleine Lücken gelassen hat, in denen sich eine Band entfalten kann.Und wie. Laut, kratzig, nicht zu nett und doch wunderbar melodiös: Sehr gelungen die Günter-Eich-Adaption "phrasebook" und das getragene "m".Den in unzähligen Projekten engagierten Workaholics gelingt das, was hierzulande nur ganz wenige schaffen: gute Musik.

luv'n'haight

Seit Beginn dieses Jahrzehnts wird die ständig anschwellende 'Dancefloor-Jazz'-Welle von einem entscheidenden Vertreter unterstützt: In Haight-Ashbury gelegen, dem Hippie-Viertel San Franciscos, liefert das Label "Luv n' Haight" das, was es programmatisch selbst so umschreibt: The finest in Funk since 1990! So werden in unterschiedlichen Sampler-Serien primär alte Jazz/Funk-Tracks, aber auch neue, experimentellere Songs veröffentlicht. Die Tracks aus den 60s/70s sind oftmals äußerst rare, bisher nur auf 7"erhältliche Werke. Die Zusammenstellung ist absolut erstklassig. Wer auf den Geschmack kommen will, sollte in folgende Compilations mal reinhören:
- Bag of Goodies
- Jazz Dance Classics (Vol.I-IV)

Fugazi / Red Medicine

Das geflügelte Wort der "political correctness" mag zwar im Alltagsgebrauch nicht mehr erträglich sein, beschreibt aber die musikalischen Ergüsse Fugazis recht treffend: political-correct-punk. Die Hardcore-Recken schaffen es nach der etwas mißglückten letzten LP mal wieder, ihren trockenen, schrägen Sound auf Vinyl zu bannen.Wie gehabt stark gitarrenorientiert, immer auf der Suche nach einem kleinen Stückchen Melodie. Diesmal haben sie ein paar mehr gefunden als sonst. Teilweise etwas ruhiger als gewohnt, abwechslungsreicher, ja in einzelnen Momenten gar avantgardistisch anmutend. Ein erfrischendes Werk der Altmeister auf dem in paradoxer Weise in High-Speed-Platitüden stagnierenden Hardcore-Sektor. (jk)


Ein bunt gemischtes Programm, geprägt von den unterschiedlichsten kulturellen und ethnischen Einflüssen, gibt's am 15.07. ab 14 Uhr im Marstallhof beim

OPEN HOUSE - FESTIVAL

Unterstützt von einer ebenso dargebotenen "kulinarischen Weltreise" treten auf: Advanced Chemistry (Deutsch-Hop), Vitamin X (Reggae), Across the Border (FolkPunk) u.v.m., sowie auch der Kabarettist Shahbaz


ruprecht goes to the movies

(in Klammern die Anzahl der ruprechte)

ruprechts Notenskala:
- nicht empfehlenswert
* mäßig
** ordentlich
*** empfehlenswert
**** begeisternd

Crimson Tide (3)

Der Konflikt in Tschetschenien eskaliert, russische Rebellen erobern einen Militärstützpunkt der Armee in Wladiwostok, wo nukleare Interkontinentalraketen und U-Boote stationiert sind. Und während die ordentliche Armee den Stützpunkt einkesselt, droht der Kommandant der Rebellen, die Atomraketen gegen Amerika und Japan zu benutzen. In den Staaten wird daher Defcon 3 ausgerufen und mit ein mit Atomraketen bestücktes U-Boot wird zur Lösung des Konfliktes in den Pazifik ausgesandt.
Gene Hackman spielt an Bord des U-Bootes den Kommandanten Ramsey, einen alten Veteranen, kriegserfahren; ein Soldat, der Befehle, ohne über ihren Sinn nachzudenken, ausführt. Sein Gegenspieler ist der 1. Offizier Hunter (ein genial spielender Denzel Washington). Es kommt zum Konflikt zwischen beiden, als amerikanische Satelliten das Auftanken der Atomraketen der Rebellen erkennen und das Boot den Abschußbefehl für seine Raketen erhält, aber kurz darauf eine zweite Meldung empfängt, die jedoch nur unvollständig ist. Ab jetzt läuft die Handlung gegen die Uhr: in 60 Minuten sind die russischen Raketen abschußbereit, bis dahin muß die Gefahr abgewendet sein, aber in der USS Alabama löst eine Meuterei die nächste ab, bis keiner mehr weiß, wer denn das Kommando hat. Ein Film mit aktuellem Bezug, der durch seine Spannung nicht nur "Kalte Krieger" ansprechen wird. (jr)

Rangoon (-)

John Boorman ist Brite. Doch ganz im Stile eines amerikanischen Regisseurs denkt er - dank der ihm in die Wiege gelegten Arroganz des Nord-halbküglers -, er könnte einen Film über ein fremdes Land machen. Und einen politischen dazu. Wie das endet? Eine Amerikanerin steht heldenhaft im Mittelpunkt, und die sie umgebende belebte wie unbelebte Umwelt ist Staffage. Klasse! (jk)

Little Indian (1)

ndianer in Großstadt - nun ja, frisch wie ein Tropenwasserfall ist das Thema wohl nicht mehr, das Herve Palud da nach Paris versetzt hat. Da will der typische gehetzte Börsianer Stephan eine New-Age-Göre heiraten, muß sich aber zuvor in ein Urwalddorf begeben, in dem seine bisherige Angetraute Patricia und ihr gemeinsamer Sohn "Mimisikü" leben. Statt mit der erwünschten Scheidung kehrt Stephan mit dem Indianer-Jungen nach Paris zurück. "Mimi" spielt dort alle Klischees durch: Essen mit den Händen, Insektenvernichtung per Blasrohr usw. So konsequent Palud das Indianerleben idealisiert, in so unangenehmer Weise macht er Stephans lettische Geschäftspartner lächerlich. Trotz einiger witziger Passagen ertrinkt der Film abwechselnd in mißlungenem Slapstick und Kitsch. Pocahontas läßt grüßen. (kirk)

When Night is falling (3)

Tatort Waschsalon: Hier fand schon so manch bedeutende Begegnung der Filmgeschichte statt. Camille (Pascale Busières), Lehrerin für Mythologie an einem christlichen College, trauert gerade um ihren Hund Bob, der nun wohl aufbewahrt in ihrem Kühlschrank ruht. Camilles herzzerreißendes Weinen inmitten Reihen von stählernen Waschmaschinen lockt eine andere einsame Wäscherin an: die Performance-Künstlerin Petra (schön ungekünstelt gespielt von Rachel Crawford). Deren Lebensauffassung ist ebenso unkonventionell wie der Zirkus, mit dem sie durch die Lande zieht. Sie verliebt sich prompt in die keusche Camille, was nicht nur deren Gefühlswelt völlig durcheinander bringt, sondern auch die Karrierepläne ihres Verlobten Martin, der mit ihr zusammen die Leitung eines theologischen Instituts übernehmen wollte.
Trotz der klischeehaft anmutenden Handlung ist es Patricia Rozemas gelungen, die Story völlig ungekünstelt und frei von Platitüden zu inszenieren. Sie hebt nicht den moralischen Zeigefinger und erklärt altklug, daß Homosexualität nur eine andere Form der "normalen" Liebe sei, sondern erzählt ohne falsche Scham eine Liebesgeschichte, die von erotischen Bildern und trocken humorvollen Dialogen lebt. Beste Lovestory der Saison! (gz)

Stirb langsam III (4)

Der Titel paßt zu dem neuesten Bruce Willis Film wie die Faust auf's Auge. Nach ein paar erfolglosen Kopien der erfolgreichen Actionserie gibt es wieder einen Film, in dem langsam gestorben werden darf.
Langsam ist aber Die Hard III keineswegs. Ein offensichtlich Verrückter (Jeremy Irons) terrorisiert New York mit Bombenattentaten. Das einzige, was ihn noch aufhalten kann, ist ein total verkaterter John McClane, der während des Film zu Höchstleistungen kommt, und mit Hilfe eines Schwarzen namens Zeus (Samuel Jackson) aus Harlem kleine Denkaufgabe löst und längere Dauerläufe absolviert. Der Film ist ein einziger Kampf gegen die Stopuhr. McClane und dem Zuschauer wird kaum ein Moment der Erholung gestattet, ein Höhepunkt jagt den anderen, und einer ist spektakulärer als der vorhergegangene. Es stört zwar etwas, daß die Handlung über ein weites Gebiet gestreut ist und daß Holly, Johns Frau, nicht vorkommt, aber trotzdem ist Die Hard III ein gelunger Film, der jeden Aktionliebhaber ansprechen wird! (jr)

Zuber eines Sommers

Laßt euch nicht verarschen: Der Film ist drei Jahre alt, lief bereits im Fernsehen, und auch Julliette Lewis war damals nicht so gut wie heute. Ihre außergewöhnlichen Darstellungen in Gilbert Grape und Natural Born Killers verhalfen diesem Streifen zu einer Neuauflage, der sich mit spritzigen Dialogen geradezu aufdrängt: "Ich bin in deinen Schuhen weggelaufen" - "Ja, ich weiß".
Es geht um die Liebe und ihre Platitüden in den USA der Sechziger. Sie liebt ihn, er liebt sie, und das alles ohne Kondom unter dem Pier, wo sich die Halbstarken treffen. Nach der kurzen Romanze wird sie - schwanger - von ihrer tyrannischen Mutter in ein Heim geschickt, wohin er ihr, von einer Margarita-Zukunft in Mexiko träumend, folgt. Erzählt wird das Ganze vom unschuldigen kleinen Mädchen von nebenan, das Frösche küßt.
Was der Film will? Man weiß es nicht. Vielleicht die "Reiches-Mädel-liebt-Hauptschüler-Problematik" beleuchten oder den "Halb-so-cool-wie-James-Dean-aber-Lederjacken-tragen-Trend" kritisieren. Spätestens wenn er sie fragt: "Warum will ich nur immer in Dir sein?", fragen wir uns: Warum habe ich nicht meinen 12jährigen Bruder und seine Freundin hergeschickt.
Der Film ist leider nicht ernst gemeint, und deshalb muß nun diese durchaus ernstgemeinte Kritik hier enden. (phil)


Schwuler Gott

Leonardo da Vinci in Speyer

Genie und Wahnsinn liegen eng beieinander" - behauptet das Sprichwort. So mancher Zeitgenosse Leonardo da Vincis (1452 - 1519) sah allerdings nur einen Irren hinter all den wahnwitzigen und unmöglichen Erfindungen des Künstlers; wie sollte sich z.B. ein Mensch mit einem Gerät in die Luft schrauben können oder durch Dampf eine Kanone abgeschossen werden? Doch Leonardo war nicht nur ein Spinner, nein, er war zudem noch ein Ketzer. Nachts schlich er sich auf Friedhöfe und grub Leichen aus, um sie dann zu sezieren. Allerdings gelang diesem Spinner und Gotteslästerer, was vielen seiner späteren Kollegen, obwohl sie brav auf dem Pfad der Tugend wandelten, verwehrt blieb: Noch zu Lebzeiten wurde er als großer Künstler und Wissenschaftler anerkannt und verehrt.

"Leonardo da Vinci: Künstler, Erfinder, Wissenschaftler", lautet denn auch der Titel der Ausstellung in Speyer, in der die vielen Seiten dieses Genies gezeigt werden. Wer eine gewaltige Exposition von großen Gemälden erwartet - von denen Leonardo sowieso nicht viele hinterlassen hat -, wird dort eher enttäuscht: Dargestellt ist die gewaltige Bandbreite des Künstlers, Naturwissenschaftlers, Architekten, Ingenieurs und Anatomen. Der erste und größte Teil der Ausstellung zeigt Naturstudien im Faksimile; Skizzen von Pflanzen, Naturereignissen, Menschen und Tieren und deren Anatomie bis ins kleinste Detail erfaßt. Leonardos Zeichnungen zeugen von einer so exakten Beobachtungsgabe und künstlerischen Darstellungskraft, daß sie teilweise noch heute den Medizinern als Vorbild dienen. Jedoch auch als Ingenieur von Kriegsmaschinerie über Luft-, Wasser- und Landfahrzeuge bis zum Brückenbau erntet er heute noch überraschte und anerkennende Bemerkungen. Einige dieser Entwicklungen sind in Speyer als Modell ausgestellt und begeistern durch ihre schlichte Genialität Jung und Alt. Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich einige seiner Erfindungen und Jahrhunderte später, z.B. im amerikanischen Bürgerkrieg oder Ersten Weltkrieg, gebaute Geräte ähneln.

Der zweite Teil der Ausstellung zeigt dann Originale von Leonardo, seinen Schülern und Zeitgenossen. Hier kommt endlich auch der große Kunstliebhaber auf seine Kosten: Das wohl bekannteste und am häufigsten kopierte Werk der Kunstgeschichte, die Mona Lisa, ist in voller Größe zu bewundern. Wer nun allerdings denkt, die Pfälzer hätten den Louvre geplündert, der irrt: Die Dame mit dem verkniffenen Lächeln ist nur in Kopie zu sehen. Die Ölgemälde machen jedoch nur einen verhältnismäßig geringen Anteil der gesamten Ausstellung aus, die den Schwerpunkt stärker auf den forschenden als auf den malenden Leonardo legt. Deswegen hätte der Titel der Ausstellung statt "Künstler, Erfinder, Wissenschaftler" auch eher "Erfinder, Wissenschaftler, Künstler" lauten sollen.

Der in dem kleinen toskanischen Dorf Vinci unehelich geborene Leonardo zeigte schon als Kind seinen unstillbaren Forschergeist und sein künstlerisches Talent, das von seinem Vater früh erkannt und gefördert wurde. In Florenz ging er bei dem seinerzeit gefragtesten Meister Andrea del Verrocchio in die Lehre und arbeitete die meiste Zeit dort oder in Mailand; nicht zu seinen Schaffensorten zählte jedoch das für die Kunst bedeutende Rom, wo Michelangelo und Raffael zu dieser Zeit ihre Konkurrenzkämpfe austrugen. Ob Leonardo nur nach Mailand zog, weil er nicht zu den vier Künstlern gehörte, die zur Arbeit an der sixtinischen Kapelle auserwählt wurden, ist nicht bewiesen. Im Jahre 1472 wurde er wegen passiver homosexueller Handlungen angeklagt, jedoch freigesprochen. Homosexualität war in der Renaissance nichts Ungewöhnliches und galt sogar als chic. Allerdings gab es auch immer wieder Parteien, die die bestehende Gesellschaft moralisieren und reformieren wollten.

Zeit seines Lebens war Leonardo gespalten in den idealistischen Künstler einerseits und den empirischen Forscher und Naturwissenschaftler andererseits. Dieser Zwiespalt mußte jedoch keine Hinderung bedeuten; im Gegenteil befruchteten sich seine Talente gegenseitig und ermöglichten erst dadurch das universelle Genie. Er weigerte sich, geheiligte Autoritäten hinzunehmen, und betrachtete das Experimentieren als wichtigste Inspirationsquelle seines Werkes, sowohl in der Kunst als auch in der Naturwissenschaft. Er verspottete sogar die "lügnerischen Geisteswissenschaften", weil diese "weder experimentell noch mit den Sinnen" erfaßt werden könnten. So entsprach er dem humanistischem Ideal des 15. Jahrhunderts, das nur überprüfbare Wahrheiten akzeptierte und den Menschen statt Gott in den Mittelpunkt stellte. Um so verwunderlicher ist es, daß Leonardo schon zu Lebzeiten als gottbegnadetes und mit übernatürlichen Gaben ausgestattetes Genie verehrt und mystifiziert wurde. Die Interpretationen seiner Werke und seines Lebens veränderten sich natürlich im Laufe der Jahrhunderte. Als vielleicht übertrieben, aber bezeichnend für die Ausstellung in Speyer könnte Sigmund Freuds Äußerung über den vermutlich meiststudierten Künstler des Abendlandes sein: "Der Forscher hat den Künstler nie ganz freigelassen, ihn oftmals schwer beeinträchtigt und ihn vielleicht am Ende unterdrückt." (gz)


*Zur ruprecht-Titelseite