Meinung


ruprecht point& counterpoint:

Latinum als Studienvoraussetzung?

Auslaufmodell oder ewiger Klassiker?

Japanologen brauchen es, Mediziner nicht. Slavisten brauchen es immer noch, Ethnologen nicht mehr. Das Latinum: Einerseits unnötiger Stolperstein für viele Studenten, andererseits Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens, sowohl Schulung logischen Denkens als auch anachronistische, weil tote Sprache. Errare humanum est. Hat das Latinum eine Zukunft?

"Ja"

Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart
Ordinarius für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg

Westliche Kultur und moderne Universität sind ohne Latinität nicht vorstellbar. Unstrittig ist ihre Bedeutung als "Ferment abendländischer Geisteskultur", aus der die Latinitas als entscheidendes Element der Bildung und geistigen Prägung nicht weggedacht werden kann, wie es Jules Marouzeau einmal formuliert hat. Wo die mittelalterliche Idee der Universitas magistrorum et scholarium und das humanistische Ideal einer Ars docendi et erudiendi oder das Novum organon scientiarum eines Francis Bacon nicht einmal mehr übersetzt werden können, dort darf man auch nicht erwarten, daß sie verstanden, geschweige denn gelebt oder geachtet werden.

Aber es gibt auch ganz praktische Aspekte, die für den Erhalt oder die Wiederbelebung des Latinums als unabdingbare Voraussetzung für ein universitäres Studium sprechen. Wer wollte sich ein Erlernen der modernen romanischen Sprachen ohne den verständnisbildenden Rückgriff auf deren gemeinsame langue mère (Marouzeau) vorstellen, wer ein Studium der antiken bis neuzeitlichen europäischen Geschichte ohne jede Fähigkeit des sprachlichen Zugriffs auf deren lateinisches Quellenkorpus.

Auch in der Wissenschaftsgeschichte entspräche Verzicht auf lateinische Sprachkenntnisse einem Verzicht auf Geschichtlichkeit nahezu insgesamt. Der Verzicht auf Geschichtlichkeit aber verführt zum Verzicht auf die kritische Bestimmung des eigenen historischen Standortes ebenso, wie er zur Entsorgung tradierter ethischer Normen und Werte verleitet.

Unentbehrlich sind Kenntnisse des Lateinischen zweifellos auch für die Kommunikation in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen der gelehrten Welt. Nehmen wir etwa die Medizin. Wie sollen denn unseren Studentinnen und Studenten ohne Rückgriff auf das Lateinische und Griechische diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, die sie befähigen, die medizinische Fachsprache so zu erlernen, daß sie sie im Studium und bei der Ausübung des ärztlichen Berufes korrekt, präzise und situationsgemäß anwenden können? Charakter, Funktionen und Grundelemente dieser Sprache fußen zum größeren Teil auf dem Lateinischen, auch wenn uns heute viele ihrer Zentralbegriffe durch die - bedauerliche - Verlagerung der Wissenschaftskommunikation ins Englische bisweilen zuerst als Anglizismen begegnen.

Der Verzicht auf das Lateinische Scriptum zugunsten einer verstärkten Hinwendung zu den Kegelschnitten, um eine berühmte Kampfparole des bedeutenden Physiologen Emil Du Bois-Reymond in der Auseinandersetzung um das Realgymnasium leicht abgewandelt zu zitieren, dürfte heute wohl mit der gleichen Berechtigung wie zu seiner Zeit durch Theodor Mommsen als Rückfall in die Barbarei bezeichnet werden. Moderne Medizin ist über weite Stecken paradigmatisch durch die modernen Naturwissenschaften bestimmt. Wer wollte daran zweifeln? Moderne, neuzeitliche Naturwissenschaft aber fußt letztlich auf der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts und ist etwa ohne die lateinischen Schriften eines Francis Bacon oder die selbstverständlich in lateinischer Sprache verfaßten Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) eines Isaac Newton nicht denkbar. Lateinische Sprache und lateinisches Denken sind früher Ausdruck und unbestreitbare Grundlage unserer westlichen Zivilisation. Wir sollten sie nicht ohne Not über Bord werfen.

"Nein"

Prof. Dr. phil. Arnold Rothe
Ordinarius am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg

In der Promotionsordnung der drei Heidelberger geisteswissenschaftlichen Fakultäten wird durchweg der Nachweis des Großen Latinums verlangt. Ausnahmen bedürfen im Promotionsausschuß der erfahrungsgemäß nur selten erreichten 2/3-Mehrheit. In der Magisterprüfungsordnung wird der Nachweis des (Kleinen) Latinums verlangt, "soweit [...] keine abweichenden Regelungen getroffen sind". In der Neuphilologischen Fakultät gilt der Verzicht auf das Latinum nur für Deutsch als Fremdsprachenphilologie und Englische Philologie im Nebenfach. Warum aber nicht auch für Slavistik? Russisch hat mit Latein doch noch weniger zu tun.
In der Tat: die nahezu flächendeckende Einforderung des Latinums geht nicht auf fachspezifische Bedürfnisse zurück, sondern, wie ich meine, auf die Tatsache, daß Latein einst als die Wissenschaftssprache auch die Sprache der Dissertationen war. Damit ist es aber schon seit Generationen vorbei. Um die Allgemeinverbindlichkeit des Latinums trotzdem zu erhalten, mußten seither andere Begründungen, oft nachgeschobene Ersatzbegründungen, herhalten. Da ist das Argument der Denkschulung. Daß das Latein logischer sei als andere Sprachen, kann man heutzutage aber keinem Sprachwissenschaftler mehr verkaufen. Sodann die kulturelle Argumentation, die Absicherung der Teilhabe an der abendländischen Tradition. Warum aber nicht gleich zu den Ursprüngen zurück: zu Homer, Platon, den attischen Tragikern und das Graecum verbindlich machen? In den restaurativen Anfängen der Bundesrepublik ging es schließlich um die Kenntnis des lateinischen Mittelalters als Vermittler zwischen Antike und Neuzeit. Die in den Latinumskursen üblicherweise gelesenen römischen Klassiker sind hierfür allerdings wenig tauglich. Auf Umwegen dürfte es auch um den Fortbestand des Humanistischen Gymnasiums gehen, das nicht nur Bildung, sondern auch Sozialprestige vermittelt. Und zu guter Letzt hin und wieder auch die allzumenschliche Reaktion: warum sollen es andere besser haben als wir?

Das Latein kann also schon lange kein Monopol mehr beanspruchen, erst recht nicht in einer Zeit, da über das berufliche Fortkommen von Hochschulabsolventen nur allzu oft die Kenntnis mehrerer lebender Fremdsprachen und ein gesamtkulturelles Wissen entscheiden. Unter diesen Umständen sollte jedes Fach für sich entscheiden, ob seine Studierenden Latein brauchen, welches Latein und auf welchem Niveau. Einleuchtend dürfte der Bedarf in meinem Fach sein, das es mit Sprachen zu tun hat, die man bis zum Vulgärlatein zurückverfolgen können sollte. Den Historikern dürfte mit der kontrastiven und evolutiven Betrachtung bis hin zum Neulatein mehr gedient sein als mit der Beschränkung auf das klassische Latein. Schließlich: ein angehender Germanist sollte von Vergils Aeneis lieber viele Gesänge in Übersetzung als wenige Verse im Original gelesen haben. Daß jemand, der eine Dissertation über die Catull-Imitation im Rokoko verfaßt, vertiefte Lateinkenntnisse benötigt, liegt auf der Hand. Er kann aber nicht zum allgemeinen Maßstab erhoben werden.

Wohlgemerkt: ich wende mich nicht gegen das Latinum schlechthin, sondern dagegen, daß es von denjenigen nachgefordert wird, die es nicht schon mitbringen. Unter Berücksichtigung des sonstigen Fremdsprachenbedarfs sollten für sie vielmehr fachspezifische Einführungen in lateinische Sprache und Literatur eingerichtet werden. Das Fehlen eines einsichtigen Fachbezugs beim Einheitslatinum führt hingegen oft dazu, daß die Crashkurse als ungeliebte Pflichtübung oder als bloße Schikane empfunden und rasch wieder vergessen werden.

Abgesehen davon sollten von Studienortswechslern in Prüfungsnähe oder mit erster Abschlußprüfung Lateinkenntnisse nicht mehr abverlangt werden. Sie können für das Studium ja nicht mehr fruchtbar gemacht werden. Außerdem: wie oft mußte ich erleben, daß Absolventen ausländischer Universitäten am Latinum gescheitert sind oder sich deswegen hier gar nicht erst immatrikuliert haben. Eine Provinzialisierung, die hieraus erwächst, können wir uns nicht leisten.

(red."point/counterpoint" jr,te,mab,jk)


Interview mit Cees Nooteboom

Auf dem Gipfel einer Pyramide

Cees Nooteboom, Weltliterat. Mit 17 begann er zu reisen, mit 20 veröffentlichte er seinen ersten Roman, studiert hat er nie. Heute, mit 63, blickt er auf gut ein Dutzend "Reisererzählungen", mehrere Gedichtbände und zwei Welterfolge zurück. Seine Romane Rituale (1985) und Die folgende Geschichte (1992, ) wurden allein in Deutschland über 500.000 mal verkauft. Nootebooms Literatur führt durch Länder und Texte dieser Welt hinein in Sphären jenseits von Raum und Zeit, in zärtliche Geschichten von Lieben und Lust, in gelehrte Reflexionen über deren Vergänglichkeit und den Tod. Der Wahlberliner und leidenschaftliche Europäer eröffnete ruprecht seine Sicht der Dinge.

ruprecht: Herr Nooteboom, Sie sind immer unterwegs, und Reisen hat für Sie eine besondere Bedeutung. "Auf Reisen extendiere ich", schreiben Sie und bemerken gleichzeitig, daß dies eines der beiden Attribute sei, die Spinoza Gott zuordnet. Ist für Sie Reisen in diesem Sinne ein göttliches Geschäft ?

Nooteboom: Och, so schön würde ich das nicht sagen. Philosophie lese ich für mein reines Vergnügen, wegen der Spiele, die man dort findet. Auf Reisen vermehrt man sich, wenn man zum Beispiel sehr genau zusieht, wenn man beobachtet. In diesem Sinne habe ich das "extendieren" genannt. Aber ich denke, man kann genauso gut extendieren, wenn man ein Buch liest. Man muß aufpassen mit Schriftstellern. Wörter sind verführerisch.

ruprecht: Sie wurden ja in einem Klosterinternat erzogen, und auch in ihren Büchern finden sich immer wieder Reflexionen über Gott und Kirche.

Nooteboom: Mit Religion hat das essentiell nicht einmal soviel zu tun. Zu Anfang meiner Erziehung spielte die Religion eigentlich kaum eine Rolle. Als ich in diese Internate kam, hat mich das sehr fasziniert. Wie mich alles neue fasziniert. Aber es war schon zu spät, in eine schwere religiöse Krise zu geraten. In meinem Fall war das doch ziemlich äußerlich. Aber gleichzeitig behandelt Poesie und Literatur immer das Thema einer Transzendenz. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist, daß ich extreme Leben interessant finde. Es gibt ja zwei Arten Mönchsorden: die Kontemplativen und die Aktiven. Die Kontemplativen haben mich immer sehr interessiert, und die besuche ich dann auch gerne in Spanien. Einmal habe ich gesagt, daß diese Orden den anderen, den Progressiven des linearen Fortschritts schon mehrmals im Laufe ihrer Existenz begegnet sind. Verstehen Sie? Denn die einen gehen immer weiter, und die Mönche bleiben immer an einem Ort, auch in der Zeit.

ruprecht: Die Frage ist doch aber auch, wie gesellschaftliche Veränderungen, die ja auch manchmal notwendig sind, durch diese "Flucht" aus der Wirklichkeit initiiert werden können.

Nooteboom: Sagen wir das auch mal ganz ehrlich, sub specie aeternitatis sind die Veränderungen nicht in jedem Lebens- und Zeitalter dieselben? Intellektuell weiß man, was alles nicht in Ordnung ist, aber ich war zum Beispiel in den sechziger Jahren in Bolivien und habe dort die Zeit mit Che Guevara erlebt, ohne selbst mitgemacht zu haben. Ich war aber dort, auch als er getötet worden ist. Da hat man sich natürlich unendlich aufgeregt. Dann kommt man nach 20 Jahren zurück und nichts hat sich geändert.

Es kommt ein Moment, an dem man sich in dem einem sterblichen Leben über andere Sachen aufregt.

ruprecht: Sie haben ja Politik und Geschichte ganz hautnah erlebt. In ihrer Kindheit sahen sie Rotterdam in Flammen stehen.

Hat Sie das den Deutschen gegenüber nicht immer mißtrauisch bleiben lassen?

Nooteboom: Nein. Das gefährliche ist wahrscheinlich nur ein Volk, das vor sich selbst als Volk Angst hat. Das muß noch verschwinden. Rechtsradikale gibt es in Frankreich und England auch. Die Deutschen beanspruchen immer eine Sonderrolle. Das sollten sie nicht tun. Gut, man kann höchstens sagen, das darin schon etwas Positives liegt, insofern, als die jungen Leute sich der Problematik nun sehr gut bewußt sind. Ihr müßt mit Eurem eigenen Volk zurechtkommen; und wenn ich Euch sehe, denke ich, Ihr werdet es auch schaffen. In Diskussionen hier ist mir öfters etwas sehr Blasphemisches aufgefallen. Wenn man hier unbedingt recht haben will, dann fängt man gleich mit Auschwitz an, um den anderen vom Tisch zu fegen. Das ist Blasphemie. Auch in Diskussionen mit deutschen Intellektuellen hab ich das oft gespürt. Wenn sie über das Ausländerproblem sprechen und wie schlecht die hier behandelt werden. Fragt man dann aber: Und wo wohnen Sie? Wohnen Sie in einem Viertel mit Türken? Dann ist das meistens nicht der Fall. Sie schreiben also einer viel einfacheren, nicht studierten Bevölkerungsschicht vor, wie sie sich benehmen soll, aber vergessen dabei, daß es für diese Menschen viel schwerer ist. In dieser Art von Diskussionen fallen dann immer wieder dieselben Schlüsselwörter. Die Vergangenheit, Ausschwitz. Dann hat man immer Recht. Aber man sollte auf diese Weise vielleicht kein Recht haben. Ich sehe die letzten 50 Jahre der deutschen Geschichte sehr positiv. Ich bin, das hört man auch nicht so gerne, mit eurem großen Bundeskanzler völlig einig was seine Europapolitik betrifft, weil er ein gutes historisches Gefühl hat. Wenn man Deutschland allein lassen will mit dieser riesigen ökonomischen Macht und dem spezifischen Gewicht der deutschen Geschichte, scheint mir das sehr gefährlich. Die, die das sogenannt bessere Gewissen haben, die zum Beispiel die militärischen Einsätzen und die Einheitswährung nicht mitmachen wollen, finde ich viel gefährlicher als vieles, was der große dicke Mann alles so will. Aber gut.

ruprecht: Diese Angst vor uns selbst ist unser Generation anerzogen worden. Gleichzeitig erleben wir in Europa, das Ihnen als Thema sehr am Herzen liegt, das Wiedererstarken faschistischer Bewegungen. Wo liegen für sie die Ursachen ?

Nooteboom: Das ist natürlich das große Wunder der Welt, daß Menschen nicht genauso denken wie man selbst. Das ist das allererste.

Die meisten Menschen haben einfach nicht den Überblick. Sie hören nur Slogans und bestimmte Phrasen. Als mich eine jüdische Freundin in Berlin besuchte, sagt sie - sie ist Französin : "Ici on parle trop de juif". (Es wird hier zuviel über Juden gesprochen.) Wenn man die intellektuellen Fähigkeiten nicht besitzt und immer bestimmte Wörter hört, dann ist das das erste, was aufgegriffen wird, wenn Aggressivitäten entstehen. Man muß sich auch in die Position von Leuten hineindenken, die nicht die Möglichkeit haben, differenziert darüber zu denken und Unterschiede zu machen. Das wird aber ein sehr ernsthaftes Gespräch...

ruprecht: Dann lieber etwas Leichteres. Sie selbst bezeichnen sich ja als tapferes Versuchskaninchen der Europäischen Idee.

Nooteboom: Ja, ach, das sollten Sie nicht so ernst nehmen. Da wird man auf irgendwelche Kongresse eingeladen und muß dann etwas sagen. Ist ja auch kein Unsinn, was ich sage, aber erstmal muß man sich klarmachen, daß man schon Europäer ist. Das Europa, von dem man redet, ist schon lange da. Das ist das Europa von Goethe, Voltaire und Cervantes. Worum es jetzt noch geht, ist das Geld und der Markt, das müssen die Politiker jetzt in den Griff bekommen.

ruprecht: Sie betonen immer ihre niederländische Herkunft, was ist dann an ihrer Literatur das Niederländische.

Nooteboom: Die Sprache. (Lacht.)

Na ja, ich bin eben doch ein Niederländer. Das ist eine Mentalität, die im Ausland normalerweise nicht so gut verstanden wird. Es gibt ein gewisses Maß an Frechheit im Umgang miteinander, etwas sehr Protestantisches auch, daß man sich nicht so leicht etwas sagen läßt. Und dann passieren bei uns auch Dinge, die man in anderen größeren Ländern nicht so sieht.

Nur ein Beispiel: Es hat vor einigen Jahren einen Poesieabend gegeben, wo unser Verteidigungsminister meine Gedichte vorgetragen hat. So etwas sehe ich nicht in Deutschland.

ruprecht: Das würden sich viele auch verbitten.

Nooteboom: Ja, dann waren da Nato-Gegner im Auditorium. Die haben ein paarmal Pang Pang Pang gerufen, und so weiter, nachher sind sie dann zum Verteidigungsminister gegangen und haben gesagt: "Aber Sie haben das sehr schön gelesen." Der ist jetzt Außenminister.

ruprecht: Ein weiterer zentraler Gedanke ihrer Schriften ist die Tatsache, daß Schriftsteller andere Schriftsteller immer wieder nur reformulieren können. Sie empfinden "die Welt der Literatur als einzigen Querverweis."

Nooteboom: Besser als ich es dort gesagt habe, kann ich es nicht sagen. Man kann nicht mehr unschuldig leben, man hat schon so viel gelesen, und die Thematik ist beschränkt. Aber die kann man immer, und das ist das Wunder, auf seine eigene Weise ausdrücken. Man ist immer auf dem Gipfel einer Pyramide.

ruprecht: Sie bezeichnen Schriftsteller als Jäger und Sammler. Es scheint zur Zeit so, daß man in den Niederlanden oder in Österreich viel jagen kann, in Deutschland hingegen stagniert die literarische Entwicklung.

Nooteboom: Na ja, Literaturen reflektieren doch auch etwas Nationales, natürlich. Ich muß sagen, ich fühle mich mehr von spanischer oder amerikanischer Literatur angezogen. Da bin ich irgendwie offener. Hier gibt es teilweise noch eine Sicht vom Schriftsteller als Hohepriester - etwas Hohes, etwas Fernes - das Bild des zurückgezogenen, "heiligen Schriftstellers". Davon halte ich, offen gesagt, sehr wenig.

ruprecht: Viel diskutiert wurde ja hier über Günter Grass und sein "Weites Feld".

Nooteboom: Also, ich kann darüber nicht urteilen. Ich habe das Buch (noch) nicht gelesen,

ruprecht: Wir auch nicht.

Nooteboom: (Lacht.) Ja, jetzt wird es eine wirkliche europäische Intellektuellendebatte: Mehrere Menschen sprechen von Dingen, die sie nicht verstehen. Es kann ja kein Zweifel daran bestehen, daß Günter Grass ein großer Schriftsteller ist. Andererseits bin ich politisch mit ihm absolut nicht einverstanden. Ich kann dem Gedanken, daß da im Osten eine Art bulgarisches Deutschland gelegen haben soll, unabhängig und sogenannt glücklich, nicht folgen. Also, dann hätten sie wirklich das Gefühl gehabt, vom Westen kolonialisiert zu sein. Sie brauchten nun mal dasselbe Geld. Im Westen hatte man zur gleichen Zeit ein riesiges Asylproblem. Das ist ein Alptraum, wenn man versucht durchzudenken, wenn es so gekommen wäre, wie Grass das gerne gesehen hätte. Aber das ist genau sein Punkt, er will die Einheit einfach nicht. Er hat in Holland ein Interview gegeben, da hat er das klar gesagt. So eine Position haben wir Schriftsteller nicht; wir haben nichts zu wollen. Wichtig ist, was die Bevölkerung will.

ruprecht: Günter Grass wurde von Reich-Ranicki nicht gerade mit Samthandschuhen angefaßt.

Nooteboom: Nein, das kann man sagen.

ruprecht: Sie dagegen wurde von ihm hochgejubelt. Was haben sie dem Kritiker und seiner FAZ zu verdanken?

Nooteboom: Daß er mich hochgejubelt hat, das tat er natürlich völlig zurecht. (Lacht.) Ich hoffe, das Lachen nehmen sie auch mit. - Aber wenn er es nicht gemacht hätte, wäre das Buch genau dasselbe geblieben. Das ist nun dabei die Lotterie. Es ist ungerecht, daß ein anderes Buch vielleicht nicht bejubelt wird, das vielleicht auch sehr gut ist. Als Rituale in Deutschland erschien (1983), verkaufte man 2000 Exemplare davon. Dadurch wurde das Buch nicht ein Gramm schlechter aber auch nicht besser. Hat das Buch es nun verdient, so gelobt zu werden?

Ich bin jedenfalls froh, daß Sie es gelesen haben. Sehr froh bin ich auch über Reich-Ranickis positive Kritik, denn für mich hat es einen großen Unterschied gemacht. Es macht mir das Leben wirklich leichter - schwerer auch. (eile, fw, hee)


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