Meinung


Meinung: Im Gericht mit den Gerichten - oder doch nur "Hokus-Focus"?

Es war ja abzusehen, daß irgendwann nach den Skigebieten, den Kliniken und Unihörsälen sich auch die Mensen einem Test mit anschließender Hitparade nicht würden entziehen können. So bewertete die Burda-Postille Focus in ihrer Ausgabe vom 15. Januar zwanzig deutsche "Uniküchen" (Zitat Focus), darunter die Heidelberger Zentralmensa im Neuenheimer Feld. Das Ergebnis: Durchschnittsnote 3,7 und Platz 17 (von 20) für Heidelberg.

Das hiesige Studentenwerk fand das Ergebnis unverständlich (ich auch!) und verfaßte eine Stellungnahme, die sogar von der Rhein-Neckar-Zeitung veröffentlicht wurde.

In der Tat: Das Magazin Focus ist für seine oberflächliche, teils schlampige Recherche bekannt. Denn am Essen der "Uniküchen" ist ausnahmsweise mal nicht Ulmers Uni-Apparat schuld, wie Focus unterstellt, sondern das Studentenwerk. Ebenso gibt es keinen grünen PVC-Boden, das wäre ja mal eine fröhliche Farbe, vielmehr finden wir in allen Heidelberger Mensen ein depressives Farbgemisch vor, das entsteht, wenn man einen verdreckten Wasserfarbkasten reinigt.

Manche kritisieren ja, daß der Focus-Tester nicht über einen längeren Zeitraum in der Mensa aß, doch das möge man ihm verzeihen, denn wer riskiert schon freiwillig Mangelerscheinungen (z.B. Eisen, Kalzium und Jod S11).

Für die Öffnungszeiten gab's die Note 4, was für Studentenwerkschef Gutenkunst "nicht nachvollziehbar" ist. Man könne "von 9 Uhr bis Mitternacht warm essen"... von 14 Uhr bis 18 Uhr mal abgesehen, abends gibt's im Marstallhof ein Einheitsgericht, oder man schlemmt ganz zentral, im "Bistro im Feld". Wie soll man da das Klischee vom faulen, nichtstuenden Studenten aufrechterhalten, wenn dieser schon vormittags zum Essen aufstehen muß?

"Ein Rätsel" sei die Note 4 für Sauberkeit, so das Studentenwerk. Scheinbar fehlt es an Geschirrspülmittel, sonst könnte man sich ja im blankpolierten Porzellanteller spiegeln. Die Gestaltung wurde mit einer 5 bewertet, sie "entspricht dem Geschmack der 70er Jahre", was wohl wirklich etwas zu kritisch betrachtet wurde, denn solange die Nahrungsmittel nicht aus dieser Epoche stammen, kann man darüber hinwegsehen.

Außerdem müsse die Qualität des Essens doch toll sein, wenn täglich 10 000 Studis die Mensen frequentieren, meint das Studentenwerk. Was bleibt den Studenten denn aus finanzieller Sicht auch anderes übrig? Täglich zur Mensa nach Mannheim pilgern?

Zwei Kritikpunkte werden vom Studentenwerk gnädigerweise "ernster genommen": die mangelnde Freundlichkeit des Personals (Note 4) wird geprüft (mit dem Personal kann man's ja machen!), und die durchsichtigen Einweghandschuhe bei der Ausgabe sollen ersetzt werden... (etwa durch bunte Mehrweghandschuhe?) Aber mal im Ernst: Anläßlich der 14. Sozialerhebung, die in den "Mensa-Mitteilungen" (Januar-Ausgabe) veröffentlicht wurde, werden wir vom Studentenwerk gebeten, unser Feedback zum Mensa-Angebot zu erhöhen. Konstruktive Vorschläge sind gefragt und sollten von möglichst vielen gemacht werden, damit jedeR irgendwann ohne Gewissensbisse der/dem anderen "Guten Appetit" wünschen kann.


"Ich bin kein Pazifist!"

Der Kölner Schriftsteller Ralph Giordano über Politik, Gewalt und Vaterland

Ralph Giordano, Jahrgang 1923, hat das Ende des Krieges in einem Keller unter Hamburg erlebt. Heute lebt er in Köln als freier Schriftsteller und Publizist, fast alle seine Bücher wurden zu Bestsellern, sein autobiographischer Roman "Die Bertinis" wurde für das Fernsehen verfilmt. Im Mai erscheint sein neues Buch: "Mein Irisches Tagebuch". ruprecht besuchte ihn in Köln.

ruprecht: In diesem Monat hat ein Asylbewerberheim in Lübeck gebrannt. Jetzt scheint sich herauszustellen, daß es kein rechtsradikaler Anschlag war. Als das bekannt wurde, da hat man richtig bemerkt, daß die Bevölkerung aufatmete.

Giordano: Daß aufgeatmet wird, ist angesichts der Leute, die umgekommen sind, überhaupt nicht angebracht. Aber das zeigt, wie wenig eigentlich getan worden ist in der Zwischenzeit, um uns von der Angst zu befreien. Weder hat der Staat seine Macht eingesetzt, um diese Leute so zu behandeln, wie sie zu behandeln wären, noch scheint mir der Mangel an Zivilcourage reduziert zu sein. Solange diese Republik, der demokratische Verfassungsstaat, gegen diese Rechte nicht stärker vorgeht, solange werden wir jeden Morgen einer solchen Nachricht entgegenbangen.

ruprecht: Wenn Sie Regierungsbefugnis hätten, wie könnten sie sich ein ideales Einwanderungsgesetz vorstellen?

Giordano: Eine ideale Lösung gibt es nicht, das ist wichtig. Denn es ist nicht meine Art, immer nur Utopien und Visionen zu entwickeln, dann die jämmerliche Wirklichkeit daran zu messen, aber nichts zu tun, um diese Wirklichkeit zu humanisieren - sondern einfach nur gegen sie anzustinken. Man muß Gesetze machen, die sicherstellen, daß Menschen, die wirklich in Gefahr sind, auch bei uns die Zuflucht haben, die die Verfassung ihnen garantiert. Der Einzelfall muß geprüft werden, es ist auch richtig, daß man fragt, ob in dem Herkunftsland wirklich politisch verfolgt wird. Aber das ist auch eine gefährliche Sache. Länder, in denen es jedenfalls formal demokratisch zuging, die können ihren Status von heute auf morgen verloren haben. Politisch Verfolgten Asyl zu geben ist sehr wichtig, das hat ja nichts besser gelehrt als unsere eigene Geschichte.

ruprecht: In ihrem Buch "Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein" schreiben Sie, daß viele ehemalige Nationalsozialisten in den Staatsdienst der beiden deutschen Staaten übernommen worden sind. Ist dieses Problem immer noch aktuell oder könnte man eventuell sagen, daß es sich "biologisch" erledigt?

Giordano: Die Fakten, die die Tätergeneration geschaffen hat, die zweite Schuld, das heißt also die Entstrafung der Täter, das ist etwas, was seine Schatten bis in unsere Zeit wirft. Auf der anderen Seite muß man sehen, daß es in Deutschland immer auch die Gegenkräfte gegeben hat, die gegen die zweite Schuld gekämpft haben, die Verdrängung hat in diesem Punkt publizistische Löcher bekommen. Doch die Täter sind bis auf wenige Ausnahmen nicht nur davongekommen, sie konnten auch ihre Karrieren unbeschadet fortsetzen bis in die höchsten Ränge. Hitler ist zwar militärisch besiegt, aber ideologisch ist er immer noch nicht geschlagen. Die Verdrängung ist etwas, was die politische Kultur bis auf den heutigen Tag mitbestimmt.

ruprecht: Die große Mehrheit der Leute, die jetzt den rechten Verführern folgt, wird eher aus der "sozialen Unterschicht" rekrutiert. Sind diese Leute für Pädagogisierungen überhaupt zugänglich?

Giordano: Unkenntnis ist gefährlich. Das ist etwas sehr Wichtiges. Es gibt die geistigen Urheber, das sind Frey und Co., die wissen natürlich, was war, lügen die Geschichte um, sind irreversibel . Bei diesen Menschen, die wir ansprechen, ist noch etwas zu machen. Aber, da haben sie recht, diese Leute sind am schwersten zu erreichen. Aber das ist natürlich alles mit Kosten verbunden. Wo sich mental für die Zukunft so Entscheidendes tut, da wird der Geldhahn zugedreht, oder er ist gar nicht erst geöffnet worden, weil das eine Größe ist, die von oben einfach vernachlässigt wird.

ruprecht: Laufen wir nicht Gefahr, uns nur gegenseitig auf die Schulter zu klopfen?

Giordano: Das ist ein großes Problem, aber ich würde es doch nicht allein so sehen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es sehr wohl Abstufungen. Wenn ich das mal so sagen darf, ohne in den Verdacht der Unbescheidenheit kommen zu wollen, der Vordenker Giordano hat die Begriffe gegeben - die zweite Schuld, kollektiver Affekt -, das hilft schon, Zusammenhänge aufdecken. Auch wir brauchen Unterstützung durch Gleichgesinnte. Aber entscheidend ist, daß das, was man sich erarbeitet hat, natürlich auch an Leute geht, die anders denken. Was Sie sagen, ist ein Fakt, daß sich hier ganz einfach bestimmte Ebenen nicht berühren. Das ist ein höchst bedenklicher Zustand, allerdings darf man die Kreise, die sich aktiv auseinandersetzen, nicht unterschätzen, denn eine aktive Minderheit kann mehr bewirken als eine passive Mehrheit.

ruprecht: In diesem Zusammenhang: Die Lichterketten, waren die ein geeignetes Mittel? Da waren ja auch viele Leute, die sich vorher nicht mit der Problematik auseinandergesetzt haben.

Giordano: Ich mache diese Anti-Lichterketten-Koketterie nicht mit, und ich finde sie ganz scheußlich! Die Lichterketten haben den rechten Gewalttätern den Slogan "Wir sind das Volk" aus der Hand gerissen. Sie haben bewiesen, die sind nicht das Volk. Nur, es darf nicht bei den Lichterketten bleiben! Die Energie, die da sichtbar wird von unten, die muß über die Transmissionsriemen in die Exekutive und in die Legislative. Ich habe immer große Skepsis gegenüber Leuten, die das so absolutistisch abgelehnt haben. Wenn man sie fragt, wie denn ihr eigener Beitrag ist, dann ist von der Seite nichts als heiße Luft gekommen. Die Lichterketten sind meines Erachtens etwas gewesen, was seine Wirkung auch nicht verfehlt hat.

ruprecht: Können sie sich Situationen vorstellen, wo es legitim ist, Gewalt auszuüben, auch wenn es nicht primär um den Selbstschutz geht? Können Sie Gewalt, die von Links ausgeübt wird, bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen?

Giordano: Alle, die glauben, sie hätten die alleinseligmachende Wahrheit gepachtet, sie hätten den Stein der Weisen gefunden, sind gefährlich, ganz egal welcher Couleur. Aber ich würde schon unterscheiden zwischen Gewalt und Gewalt. Ich bin kein Pazifist, ich möchte, daß Sie das abdrucken. Wie kann ein Mann Pazifist sein, der sein Leben der Antihitlerkoalition des zweiten Weltkrieges zu verdanken hat? Tatsächlich in des Wortes buchstäblicher Bedeutung, ich bin befreit worden am 4. Mai 1945 in Hamburg durch die 8. britische Armee, und wenn die nur acht Tage später gekommen wäre, dann wären wir verhungert in der Illegalität, in dem Keller, Rattenkellerloch, in dem wir da gelebt haben. Solange die Welt von Diktatoren bevölkert ist, solange es die Saddams gibt, solange ist es auch nötig, Gewalt auszuüben. Wenn bei der Baader-Meinhof-Gruppe zunächst mal gegen diese Verdrängergesellschaft Wut, Zorn, Empörung aufgekommen ist, es also humane, moralische, ethische Antriebe waren, die diese Gruppe geformt haben, dann ist das zu verstehen. Der Weg der Gewalt, den sie gegangen sind, ist - auch im revolutionären Sinne - total kontraproduktiv, ein klarer Irrweg, den ich nicht gehe. Jede gewalttätige Auseinandersetzung bleibt problematisch. Da kann es natürlich viele Vorwände geben, hinter denen sich etwas anderes verbirgt, als die vorgegebene Absicht.

ruprecht: Eines ihrer letzten Bücher war "Ich bin angenagelt an dieses Land". Hat sich da grundsätzlich was verändert, sind sie immer noch "angenagelt"?

Giordano: Daran hat sich nichts geändert, und daran wird sich auch nichts ändern, das ist eine Bindung, die mit konventionellem oder gar konservativem Patriotismus gar nichts zu tun hat. Vor der Befreiung war ganz klar, daß wir Deutschland verlassen würden. Wir haben aber sehr bald gemerkt, daß die Täter davonkommen. Wenn ich da weggelaufen wäre, wäre ich mir vorgekommen wie ein Deserteur. Ich war immer ein Mann gewesen, der gerne schreiben wollte. Das war nur mit meiner deutschen Muttersprache möglich. Es hat Menschen gegeben, denen wir unser Leben zu verdanken hatten, und die sollten wir allein lassen in diesem Hunger und der Kälte Deutschlands? Mir ist klargeworden, daß hier in Deutschland Millionen Menschen genauso denken wie ich. Das ist eine verhältnismäßig späte Erkenntnis gewesen, aber umso nachhaltiger. Inzwischen hat die ganze Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich eine neue Dimension erreicht, alles das sind Dinge, die mich auf dieses Land nageln, das wird bis an mein hoffentlich sehr fernes Ende gültig sein.

ruprecht: Wie sieht es denn mit der Zukunft aus? Wie sieht der Weg Deutschlands unter den zur Zeit gegebenen Vorzeichen aus?

Giordano: Ob Deutschland wieder gefährlich wird, in dem alten Sinne, wie es gefährlich war, da komme ich eher zu einer verneinenden Antwort mit vorsichtig zweifelndem Optimismus. Die Deutschen von heute halte ich für die unkriegerischsten Deutschen, die es je in der Geschichte gegeben hat, ich halte sie auch für unnationalistisch. Es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht auch ein Gesinnungswandel vollzogen hätte - vielleicht sogar der Backlash nach der anderen Seite: Daß Heimat und Vaterland für die Menschen gar nichts mehr bedeuten, in dieses Vakuum werden die Rechten stoßen. Die junge Generation, die schuldlos ist, muß ein Selbstbewußtsein haben, Sie müssen die Trauerarbeit leisten, die Ihre Vorfahren nicht geleistet haben. Da bin ich eigentlich ganz zuversichtlich. Es bestehen aber große soziale Gefahren. Vier Millionen Arbeitslose, das hat genügt damals, um Hitler an die Macht zu bringen. Da ist die soziale Unruhe bei uns sehr gering. Aber ich würde nicht darauf vertrauen, da können sich Verwerfungen ergeben.

ruprecht: Sie arbeiten gerade an "Mein Irisches Tagebuch". Die Ähnlichkeit zu Böll ist ja sicherlich nicht unbeabsichtigt.

Giordano: Nein, die ist nicht unbeabsichtigt. Ich kann nur über etwas schreiben, was mich entflammen kann. Nicht nur wegen dieses nordirischen Konflikts, sondern weil diese Insel am Rande Europas eine ganz spezifische Historie hat, die mit nichts vergleichbar ist. Da kommen noch andere Dinge hinzu, die Menschen, dann die Landschaft, dieses Bukett hat es mit sich gebracht, daß ich beschlossen habe: Nach "Ostpreußen ade" machst du Irland. Ich bin im März dahingefahren, im August zurückgekehrt, habe 100 Kassetten vollgesprochen, und daraus destilliere ich jetzt dieses Buch. Es wird ein sehr farbiges Buch, ein Erlebnisbuch, in das ich wieder mal mein Herz lege. Bölls Buch habe ich Mitte der 60er Jahre gelesen, da habe ich schon ein tiefes Verhältnis zu Irland gehabt, aber dieses Buch hat einen gewissen Anstoß gegeben. Giordanos Bücher sind selbstständig, jeder ernsthafte Leser wird das sofort merken, mit eigenen Erlebnissen, Erfahrungen, auch aus der Tiefe meiner Biographie. Böll sagt, die Iren sind die Nation, die niemals eine andere unterdrückt haben. Ich will da nichts idealisieren, aber die Iren sind ein ganz tolles Volk, die Unbefangenheit, das ist etwas, von dem wir wirklich nur träumen können.

ruprecht: Gibt es etwas, was Sie unseren Lesern gerne noch mitteilen würden?

Giordano: Ich glaube, daß ein Mensch, der sich von der fürchterlichen Vergangenheit nicht angetastet fühlt, auch in anderen Bereichen seiner Persönlichkeit nicht sensibel sein kann. Die Moral eines Menschen ist sehr wohl gekennzeichnet durch die Frage, wie man sich als junger Deutscher zu dieser Problematik stellt, die nicht verdrängt werden kann, wie man sieht. Das wollten die Verdränger ja, ist ihnen ja nicht geglückt, das Dritte Reich ist überall, jeden Tag ist es da. Jedem denkenden und fühlenden Menschen muß klar sein, was für ein Verbrechersystem hier im Herzen Europas die Macht erobert hatte und daß es die Väter und Großväter waren, die da mitgemacht haben. Unter diesem Aspekt rate ich Ihnen, sich selbst zu beobachten, wie dolent oder indolent Sie sind gegenüber dem Nationalsozialismus, weil das über ihre Reife, über ihre persönliche Entwicklung ganz wesentlich mitentscheidet.

ruprecht: Herr Giordano, ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch! (hpc)


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