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Reportagen


In den Kinderschuhen

Politikwissenschaft in Chile

[Hier treffen sich Chilenen und Heidelberger: die Universität in Santiago.]
Hier treffen sich Chilenen und Heidelberger: die Universität in Santiago.Foto: Flemes  

Der einzige annähernd mit dem deutschen Diplom- oder Magisterstudium vergleichbare Studiengang, der an einer chilenischen Hochschule angeboten wird, ist die fünfsemestrige ,licenciatura en ciencia política" an der Universidad Católica de Chile in Santiago. Neben der ,Católica" bieten einige andere Universitäten und Institute auch den ca. drei Semester dauernden ,magister" an, der aber nur als Aufbaustudiengang verstanden werden kann. Professor Carlos Huneeus, von 1990 bis 1993 Botschafter in der Bundesrepublik und heute Dozent für Politologie in Santiago, erklärt: ,Es werden einige Studentengenerationen nötig sein, um dieses Fach zu etablieren." Folglich wird es für die ersten fertigen Politologen auch nicht einfach sein, einen adäquaten Arbeitsplatz zu finden. Marcelo, 23 Jahre, wird nach diesem Semester seinen ,título profesional" in der Tasche haben: ,Die meisten von uns hoffen, in der Verwaltung oder der Politikberatung bei Parteien unterzukommen. Wie die Chancen dafür stehen, wissen wir allerdings auch nicht so genau."

Für die ,licenciatura" sind an der ,Católica" nur 45 Studenten eingeschrieben. Den Titel des ,magister" streben gar nur 30 Politologen an. Die Veranstaltungen sind überschaubar: Seminare mit fünf bis acht Teilnehmern sind die Regel. Diese 75 Studenten sehen sich 18 Dozenten gegenüber, die ihre Doktorwürde an ausländischen Universitäten wie Paris, Cambridge oder Princeton erhielten - Verhältnisse, von denen deutsche Hochschüler nur träumen können. Dabei darf nicht vergessen werden, daß neben leistungsorientierten Zulassungsbeschränkungen eine fette Studiengebühr für eine bedenkliche Auslese sorgt. Mit 1,2 Millionen Pesos (ca. 4800 DM) pro Jahr ist die ,licentiatura" wegen ihrer kurzen Dauer noch einer der billigsten Studiengänge.

Was bekommt der chilenische Politikwissenschaftler für seine Pesos? Das Niveau der Ausbildung ist mit dem deutschen oder US-amerikanischen Standard nicht zu vergleichen. Richtschnur ist das Niveau lateinamerikanischer Nachbarn. Doch selbst hier bleiben die chilenischen Politologen deutlich hinter den Brasilianern, aber auch hinter den Argentiniern und den Mexikanern zurück. Die Bibliothek des Instituts in Santiago, die bestausgestattete des Landes, läßt viele Standardwerke vermissen, andere Publikationen sind veraltet. Außerdem gibt es weder ein kommentiertes Vorlesungsverzeichnis, noch stehen Computer zur Verfügung. Hinzu kommt, daß nur eine Minderheit der Studenten ausreichende Englischkenntnisse mitbringt, die meisten Fachpublikationen aber nur in englischer Sprache vorliegen.

Die Veranstaltungen in Chile heißen ,cursos" und ,clases". Wer hinter diesen Bezeichnungen einen regen Austausch zwischen Studierenden und Dozenten erwartet, liegt jedoch falsch. Es dominiert der Vorlesungsstil. Veranstaltungen, die mit deutschen Seminaren vergleichbar sind, gibt es allenfalls im ,magister"-Programm der Universidad Católica. Außer Klausuren werden dort auch Referate gehalten und Hausarbeiten geschrieben. Die verschulte Form des Studiums bringt es mit sich, daß die Veranstaltungen sehr allgemein gehalten sind. Auch ist die Zeit mit fünf Semestern zu kurz für eine Spezialisierung. Erst im letzten Semester können die Studenten einen Schwerpunkt setzen. ,In vielen Bereichen ist das Angebot unserer Fakultät einfach zu klein", weiß die zwanzigjährige Anna María.

Im Gegensatz zur ,licentiatura" bietet der ,magister" die Möglichkeit zur Spezialisierung: Die Anwärter wählen entweder das Fachgebiet ,Institutionen und politische Prozesse" oder ,Internationale Beziehungen". Dieser Ergänzungsstudiengang versäumt es jedoch, für ein umfangreiches Wissen seiner Absolventen über ihr Spezialgebiet hinaus zu sorgen. Die Möglichkeit zur Promotion besteht in Chile nicht. Ein Auslandsaufenthalt wäre dazu zwingend. Austauschprogramme machen es den Católica-Studenten leichter, ein oder zwei Semester in den USA oder Europa zu verbringen. Deutsche Partneruniversitäten sind Heidelberg und Tübingen.

Zur Zukunft seines Studienfaches befragt, meint Huneeus: ,In den kommenden Jahren ist eine Verbesserung der Rahmenbedingungen genauso vonnöten wie die rasche Umsetzung der gewonnenen Erfahrungswerte. Denn fünfzig Jahre wollen weder wir noch die Studenten der Politologie in Chile warten, bis der Standard deutscher Hochschulen erreicht ist." (Daniel Flemes)

Was in Deutschland seit Jahrzehnten im Angebot keiner renommierten Universität fehlt, können Chilenen erst seit einigen Jahren studieren: Politische Wissenschaft. Kein Wunder also, daß der Vergleich der Studiengänge neben Eigenheiten der beiden Hochschulsysteme ein deutliches Qualitätsgefälle zu Tage fördert. Der fünfzigjährige Vorsprung der Demokratie in der Bundesrepublik - bis 1989 hatte der Militärdiktator August Pinochet in Chile regiert - ist nicht der alleinige Grund für die schleppende Entwicklung des Faches.


Der lange Abschied

Die ganz alltägliche Rückkehr bosnischer Flüchtlinge

[Stuttgart, Omnibusbahnhof: Erste Station auf dem Weg ins Ungewisse.]
     Stuttgart, Omnibusbahnhof: Erste Station auf dem Weg ins Ungewisse.Foto: Dirk Nothnagel   

Die zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien läuft auf Hochtouren. Allein in Baden-Württemberg sind in den letzten Monaten fast 15.000 Bürgerkriegsflüchtlinge von den Ausländerbehörden unter Androhung ihrer Abschiebung zur Ausreise aufgefordert worden. Fast scheint es, als wetteiferten die Innenminister der Bundesländer in einer Art Wettlauf darum, sich in möglichst kurzer Zeit möglichst vieler ihrer Flüchtlinge zu entledigen. Daß diese Massenabschiebung den Friedensprozeß in Bosnien-Herzegowina gefährden könnte, bedenken die wenigsten.

Stuttgart, Omnibusbahnhof. Unruhig rutscht die junge Frau auf ihrem Sitzplatz hin und her. Während der nächsten 24 Stunden wird sie nur selten Gelegenheit haben, sich die Füße zu vertreten. Alima, 25 Jahre, ist bosnische Muslimin und an diesem Nachmittag die einzige im vollbesetzten Bus nach Tesanj bei Sarajevo, die ihr Rückfahrticket nicht in der Tasche hat. Die Mehrzahl der Reisenden sind Bosnier islamischer Religion: darunter Gastarbeiter, die schon seit zwanzig Jahren in Deutschland leben und nach zehntägigem Besuch wieder zurückkehren, aber auch Bürgerkriegsflüchtlinge, die im Rahmen sogenannter Orientierungsreisen in ihre Heimatorte fahren, um sich vor ihrer Rückkehr ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.

Auch Alima lebt nun schon seit über fünf Jahren in Deutschland. 1991 floh sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter vor den anrückenden Serben aus ihrer Heimatstadt Doboj im heute serbisch besetzten Teil Bosnien-Herzegowinas nach Deutschland. Aufgrund der Härtefallregelung für Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien erhielt sie seinerzeit recht unbürokratisch eine Arbeitsgenehmigung. Seitdem arbeitete sie in einer Gastwirtschaft bei Aschaffenburg. ,Zehn Stunden am Tag und mehr", erzählt sie mit leisem Stolz in der Stimme. Sehr gut gefallen habe es ihr dort und sie habe viel gelernt: In fließendem Deutsch erzählt Alima, wie die Wirtin ihr beim Erlernen der deutschen Sprache geholfen habe. Aber auch bei ihren Kolleginnen und Kollegen im Gastgewerbe war Alima sehr beliebt und voll integriert.

Anfang des Jahres erhielt Alima dann ein Schreiben von der Aus-länderbehörde, das sie zur Rückkehr in ihre Heimat aufforderte. Sie hat Pech: Da sie weder verheiratet ist noch Kinder hat, gehört sie zur ersten Personengruppe, die nach Inkraftreten des Daytoner Friedensschlusses nach Bosnien zurückgeschickt werden soll. Die Duldung ihres Bruders, der mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern noch in Aschaffenburg lebt, läuft erst im Herbst aus. Eine Frist von drei Monaten, behördlich festgelegt, das war alles, was das Land, das Alima vor fast sechs Jahren großzügig aufgenommen hatte, ihr jetzt noch an Zeit bis zur freiwilligen Ausreise zubilligte - andernfalls drohe die zwangsweise Abschiebung in ihre vom Bürgerkrieg zerstörte Heimat. Drei Monate, um ihren Job und ihre gemütliche Wohnung zu kündigen. Drei Monate, um sich von der mittlerweile so vertrauten Umgebung und von ihren deutschen Freunden zu verabschieden. Man merkt der jungen Frau mit dem Pferdeschwanz und den dunklen Haaren an, wie schwer ihr der Entschluß zur freiwilligen Rückkehr gefallen ist. Das Gesicht ist blaß, die Augen gerötet und durch die unzähligen schlaflosen Nächte vor der Abfahrt von Schatten umlagert. Doch Alima will keine Probleme machen: ,Ich bin ja so dankbar, daß Deutschland mir damals geholfen hat".

Ungeachtet der während eines fast fünf Jahren dauernden Bürgerkrieges verursachten erheblichen Zerstörungen und der ethnischen Vertreibungen, die auf allen Seiten stattfanden, sollen die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach dem Willen der deutschen Innenminister nun möglichst schnell wieder dorthin zurückkehren, woher sie vor fünf Jahren geflohen waren. Dabei interessiert die deutschen Politiker weder, ob die Flüchtlinge überhaupt in ihre ursprünglichen Heimatorte zurück können, noch, ob diese im Laufe des Krieges ,ethnisch gesäubert" wurden und ihnen als Minderheit daher heute keinen sicheren Aufenthalt mehr bieten können.

Genau dies kritisiert auch das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR): Judith Kumin, Sprecherin des UNHCR in Bonn, warnt die deutschen Behörden eindringlich davor, mit der Androhung von Abschiebungen eine Atmosphäre von Abschreckung und Angst unter den noch in Deutschland lebenden Bürgerkriegsflüchtlingen zu verbreiten. Noch sei die Lage im vom Daytoner Friedensvertrag künstlich zusammengefügten Dreierbund Bosnien-Herzegowina ,wenig ermutigend", die Rückkehr von Flüchtlingen in Gebiete, in denen sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung stellten, ,so gut wie nicht möglich". Zudem dürften die Behörden der Aufnahmeländer die Bürgerkriegsflüchtlinge nicht nur rein nach Kategorien wie Familienstand und Alter abschieben, sondern müßten auch prüfen, welcher Volksgruppe der jeweilige Flüchtling angehöre und aus welchem Ort er stamme.

Wie die meisten der muslimischen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina kann auch Alima nicht in ihre Heimat zurück: Doboj, wo sie vor dem Krieg in einer Textilfabrik arbeitete, ist von bosnischen Serben besetzt und deren international nicht anerkannten Teilrepublik Serbska einverleibt worden. Dort, in den ,ethnisch gesäuberten" Gebieten, leben jetzt fast ausschließlich Serben, zum Teil in ehemals von Muslims erbauten und bewohnten Häusern. Auch die multinationale Friedenstruppe SFOR kann an dem während eines fast fünfjährigen Krieges geschaffenen Status Quo nichts ändern. Wo früher drei Volksgruppen - Serben, Kroaten und Moslems - in gemischten Siedlungen halbwegs harmonisch zusammenlebten, da haben Krieg, Massenmord und Vertreibung heute drei ethnisch ziemlich klar voneinander getrennte Gebiete geschaffen. Selbst die Busse des deutschen Touring-Unternehmens, das mittlerweile mehrmals am Tag von vielen deutschen Städten aus Zielorte innerhalb Bosnien-Herzegowinas anfährt, müssen bestimmte Strecken einhalten, je nachdem, welcher Volksgruppe die Passagiere angehören: So tief sitzt noch der Haß aufeinander.

Das im Friedensvertrag von Dayton festgelegte Recht aller Flüchtlinge auf Rückkehr in die angestammten Gebiete Bosnien-Herzegowinas steht dagegen nur auf dem Papier. ,Es kann Monate, aber auch Jahre dauern, bis wir unser Haus wiedersehen", glaubt Alima. In gut 24 Stunden wird sie in Zenica, einem Ort knapp 50 Kilometer nordwestlich von Sarajevo, zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder bosnischen Boden betreten. Von dort geht es dann weiter nach Zavidovici, einer kleinen Industriestadt im muslimisch bewohnten Teil Bosnien-Herzegowinas, die vom Krieg halbwegs verschont geblieben ist. Dort ist sie zwar noch nie gewesen, doch haben Freunde ihr und ihrer Mutter dort für die nächste Zeit erst einmal Unterschlupf gewährt. Aber auch hier werden sie Fremde sein - Flüchtlinge auf der Suche nach einer verlorenen Heimat, die es für sie nach diesem Krieg nicht mehr gibt.

,Überall wo ich hinkomme, werde ich immer nur ein Flüchtling sein", stöhnt Alima traurig, doch trotzig fährt sie fort: ,Sobald ich kann, komme ich zurück nach Deutschland und besuche meine alten Freunde". Damit sie in der Zwischenzeit die deutsche Sprache nicht verlernt, hat sie sich für die lange Fahrt am Bahnhofskiosk gleich noch mit einem dicken Packen deutscher Groschenromane eingedeckt. (sf)


Spiel mit der Ewigkeit

[Konserviert in Formalin und Spiritus]
Foto: rot  

Im Anatomisch-Pathologischen Museum der Berliner Charité machen die Toten Halt auf ihrem Weg ins Jenseits. Konserviert in Formalin und Spiritus (im Bild: eine Ischiopargus-Mißbildung an Säuglingen), erzählen sie ihre Geschichten aus der Vergangenheit. Geschichten vom Leben und vom Tod. Hier sind 280 Jahre davon.

Hier in der Charité ist das Reich der persönlichen Ewigkeit Grau der Linoleumboden, weiß die Wände. Hier stehen die Vitrinen, vollgepackt mit dreidimensionaler Vergangenheit, Speicher eines kleinen Stückes Unendlichkeit in Formalin und Spiritus. Manches seit über 200 Jahren. Bereits 1713 wurde unter der Leitung von Christian Maximilian Spener in Berlin ein Anatomisches Institut gegründet, in dem Mitte des Jahrhunderts Johann Gottlieb Walter ein Museum einrichtete. Das ist der Beginn der Vitrinen. Ärzten und Öffentlichkeit kam diese Sammelei von Walter und dessen Sohn allerdings entschieden unreligiös vor. Denn wie sollte ein Mensch auffahren gen Himmel, solchermaßen zerlegt und in Spiritus eingeweicht, verstaut in ein Einweckglas? Dabei waren zumindest Obduktionen am Anatomischen Institut seit 1713 keine Seltenheit mehr, neidisch blickten die Chirurgen Europas auf die Leichenvorräte des Doctor Spener. Sie selber mußten mit Schaufeln heimlich Friedhöfe besuchen, um wenigstens oft schon leicht verweste Tote auseinandernehmen zu können. Trotzdem, diese zu Tage geförderten Einzelteile auch noch auszustellen, schien vielen unheimlich, die Grenze zur Intimsphäre war vollends überschritten. Und außerdem: Was war schon anzufangen mit einem Lager voll verbrauchter Ersatzteile des Menschen.

,Der Kopf eines Frauenzimmers von einigen 20 Jahren. Die stärkste venerische Zerfressung der Knochen des Kopfes, die sich in unserer Sammlung befindet und in dieser Art das einzige Beispiel. Aus dem Stirnbeine ist rechter Seite ein Stück, welches ein und einen halben Zoll (ca. 4 cm) im Durchmesser hat, ausgefressen. Das rechte Scheitelbein ist dergestalt durchlöchert, daß es wie ein Sieb aussiehet und ganz locker erscheint. , So beschrieb Doktor Walter den Schädel einer an Syphilis erkrankten Frau. Lediglich die Symptome kannte man damals, seit der Entdeckung der Krankheit gegen Ende des 15. Jahrhunderts war man kein bißchen weiter. Erst 1905 gelang es zwei Ärzten, den Erreger zu identifizieren. So blieb Johann Gottlieb Walter nur übrig, zu betrachten und zu beschreiben.

,Von einem Frauenzimmer von einigen 30 Jahren. Der Knochen ist sehr aufgetrieben. Sein äußerster Umfang beträgt 18 Zoll (ca. 50 cm). Er ist ganz blättrig und hin und wieder durchlöchert, so daß man Zellen in ihm findet und er beinahe einem Bienenstock ähnlich siehet." Untersuchungen an einem Oberschenkelknochen einer Knochentuberkulosekranken vor 200 Jahren. Windrose nannte man damals diesen Bienenstock.

König Friedrich I. war alles andere als ein spendabler Monarch, doch mit dem Schwarzen Tod im Rücken gelang es, ihm einige Tausend Taler für ein Pesthaus vor den Toren der Stadt abzuringen. Das Pesthaus am Ufer der Spree, 1711 fertiggestellt, wurde jedoch nie seiner eigentlichen Bestimmung übergeben. Die Pest zog an Berlin vorbei, der Backsteinbau blieb leer. Steinernes Monument, Erinnerung an ein europäisches Schreckgespenst. Mit Bettlern und Huren wurde es zunächst gefüllt, doch Thronfolger Friedrich Wilhelm I. hatte nicht nur den Kopf voller Soldaten, er war auch ein Verehrer der Medizin. Wußte wohl, daß vom Krieg Krankheit bleibt. So sollte das Pesthaus zunächst eigentlich Garnisonslazarett werden. Doch dem dickköpfigen Militär war der Weg vor die Tore der Stadt zu weit. So wurde es zum bürgerlichen Krankenhaus, der Name schrieb Medizingeschichte: "Es soll das Haus die Charité heißen", beschloß der Soldatenkönig am 9.1.1727. Ein Ort, der zum Zentrum medizinischer Forschung in ganz Europa wurde, Krankheiten wie die Leukämie oder Embolie, Operationsmethoden wie die Niedrigdruckkammer für Operationen an der Lunge oder der Kaiserschnitt sollten in den folgenden Jahrhunderten hier entdeckt werden. Unter Ärzten wie Virchow, Sauerbruch und Henckel. Der Sog von Berühmtheit riß auch das ,Museum anatonicum" des J. G. Walter mit. 1803 verkaufte dieser seine ehemals verhaßte Sammlung für 10000 Taler, rund 30 000 Mark, an den preussischen Staat. Sieben Jahre später wurde sie von der frischgegründeten Humboldt-Universität übernommen.

,Wohlgeborener Herr, zusonders hochzuverehrender Herr Professor Rudolphi. Zufolge der Verfügung des Hohen Ministeriums des Innern, Berlin den 27.2.1811, sollen Monstren und pathologische Präparate von einiger Wichtigkeit Euer Wohlgebornen eingesandt werden. Nach Anzeige des hiesigen Stadtphysikers Doctor Class ist dieser Tage die hiesige Schuhmachersfrau Schoeps von einer solchen monströsen Frucht entbunden worden, und wir ermangeln nicht, solche Euer Wohlgebornen in der beifolgenden Kiste ganz ergebenst zu übersenden. Übrigens hat uns der Class in Bezug auf diese Natur-Merkwürdigkeit noch referiert, daß die Wöchnerin keine andere Ursache von der Deformität ihrer Frucht anzugeben vermag, als daß sie vor mehreren Monaten, wo sie zwar schwanger, solches aber noch nicht gewußt, über eine Meerkatze, die sie unvermutet bei einem mit fremden Tieren umherziehenden Mann gesehen, sich entsetzt habe."

Nicht lebensfähige Ergebnisse des kreativen Chaos namens Leben, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Nicht von dieser Welt sein konnte. Föten mit zusammengewachsenen Beinen wurden zu wunderschönen Sirenen, Einäugige zu Zyklopen. Spiegelbildlich verdoppelte Rümpfe in Asien zu Gottheiten. Nichts schien Doctor Rudolphi, der die anatomische Sammlung der Universität jetzt führte, so fasziniert zu haben wie diese Rätsel unheimlicher Menschlichkeit. Im Jahre 1811 bewirkte er eine Verordnung der preußischen Regierung, alle im Land entbundenen Mißgeburten waren nun unverzüglich und nach Erstattung der Konservierungs- und Transportkosten nach Berlin zu schicken. Da kamen sie an, in ihren Kisten, umspült von Spiritus. Früchte des Mutterleibes wie eingemachtes Obst. Immer öfter tauchen nun innere Organe und komplette Gliedmassen in den Vitrinen auf. Kleine Reste eines ganzen Lebens, wie Visitenkarten.

Seit 1811 hatte neben dem Anatomischen Institut auch die Charité ein Leichen- und Sektionshaus. Aber sehr dringlich schienen den dortigen Ärzten Obduktionen nicht gerade zu sein, viele hatten ihre Ratlosigkeit und religiösen Zweifel gegenüber anatomischen Präparaten in den vergangenen 100 Jahren nicht geändert. Kaum eines gelangte von dort in die Sammlung Rudolphis. So umfaßte diese bei dessen Tod 1832 nur 7197 Stück.

Noch einmal 14 Jahre mußten vergehen, bis die gesamte Medizin Obduktionen und Präparate als eine vielversprechende Forschungsmethode begriff. Eine Entwicklung, die in der Charité einen Namen trägt: Rudolf Virchow. Als Prosektor des Leichenhauses war er der Überzeugung, nur durch dreidimensionales Anschauungsmaterial wirkungsvoll Anatomie und Pathologie lehren und die wahren Krankheitsursachen feststellen zu können. Eine Überzeugung, die ihm zur Entdeckung der Embolie und Leukämie verhalf, davor war das eine einfach nur eine Venenentzündung, schlicht Eiter das andere. Schon mit 24 Jahren war er damit so berühmt, daß auf einem Ball seine Tanzpartnerin ihn unbedingt für ,den Sohn dieses Vaters" halten wollte, ,der die Vorlesungen über Pathologische Anatomie hält". Der Erfolg stachelte ihn an, ,kein Tag" sollte ,ohne ein Präparat" vergehen. Viele wurden ihm alleine wegen seines Rufes zugeschickt, darunter auch immer wieder Mißgeburten. So manche hatten die entbindenden Ärzte ihren Patientinnen wohl nicht ganz rechtmäßig abgeschwätzt. Versprachen den Müttern hohe Belohnungen, falls sie ihre Fehlgeburt nach Berlin schicken würden. Ein Geldsegen, der bei den Betroffenen allerdings nie eintraf, erfunden von Ärzten, um sich an der Sammlung des berühmten Virchow beteiligen zu können. Im Jahre 1899, Rudolf Virchow war 78 Jahre alt, eröffnete er mit 23600 Objekte das erste öffentlich zugängliche Pathologische Museum der Charité. Keiner vor ihm hatte jemals diese Menge zusammengetragen.

,Schneidergeselle Wilhelm Basein, gestorben 4.11.1898 im Alter von 73 Jahren mit verkohlter Lunge." Jetzt steht sie auf dem untersten Regalbrett einer Vitrine in den Gängen des Instituts. Blau ist die Kohle geworden von der jahrelangen Spirituswirkung. 73 Jahre lang, Partikel um Partikel, hat sie sich dort niedergelassen. Bis alles dicht war. Verkohlt. Kleine Geschichte eines privaten Umweltdesasters.

,Am 18.3. brachte mir Doctor Davidsohn ein Präparat einer 71jährigen Frau aus dem Siechenhaus der Charité, die an Gallenblasenkrebs verstorben war." Kein Name. Niemand dachte zu dieser Zeit, 200 Jahre nach Beginn der anatomischen Forschung in Berlin, daran, den Körper nach dem Tod zu schützen, schon gar nicht einen aus dem Siechenhaus, dem Sterbebett der Ärmsten. Jetzt war er nur noch Hülle, mit Bausteinen ohne Individualität. Wie Lego. Unter anderen Bedingungen hätte Rudolf Virchow wohl nie diese Menge Anschauungsmaterial sammeln können.

Im Jahr 1902 stirbt Virchow, doch seinen Körper werden die Ärzte komplett zu Grabe tragen. Keiner wird ihn sezieren. Seine Nachfolger sammeln weiter, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges umfaßt das Museum 25900 Organe, Knochen, Gliedmaßen und Föten. Danach waren es 24000 weniger. Bruchstücke längst vergangener Leben beschritten den Weg der Einäscherung, lange nach den dazugehörigen Körpern. Vielleicht war darunter auch alles, was in den Konzentrationslagern gesammelt wurde von den Sadisten der Neugierde. Mengele in Auschwitz. Viele andere anderswo. ,Jedenfalls", so Professor Krietsch, der jetzige Leiter des Pathologisch-Anatomischen Museums, ,sind bei einer Generalinventur 1980 keinerlei Hinweise auf Objekte aus dieser Zeit aufgetaucht."

Mittlerweile sind es wieder 9000 Präparate, doch viele sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Aber ein neues Museum ist in Arbeit und soll fünfstöckig im Jahre 1999 eröffnet werden. Grau der Linoleumboden, weiß die Wände. Hier werden irgendwann wieder Vitrinen stehen. Gefüllt mit Visitenkarte des Lebens. Diejenige von Reichspräsident Friedrich Ebert zum Beispiel. Dessen Blinddarm steht, so groß wie ein Daumen, aufgebrochen nach wochenlanger Entzündung, im Arbeitszimmer von Professor Krietsch. In einem kleinen flachen Glasgefäß auf dunklem Holz. Unschuldiger Mörder eines großen Mannes. ,Vor einigen Wochen", so erzählt Krietsch ein bißchen amüsiert, ,war Eberts Enkel hier, um sich den Blinddarm seines Onkels anzuschauen."

Irgendwo ganz unten links in einer Vitrine steht ein Stück Haut eines Oberarms. Der Arbeiter Richard Pfeiffer, am 26.1.1902 mit 34 gestorben, hatte sich hier ein buntes Bild eintätowiert. Warum das jemand aufgehoben hat? Visitenkarten, die alle eine Geschichte erzählen, ihre Geschichte. ,Bahnwärter Bruggisch, gestorben 10.10. 1902 mit 45 Jahren durch Zertrümmerung des Hirns nach Schädelbruch, blutige Infiltration der weichen Hirnhäute." Und die vielen kleinen Geschichten fügen sich zu einer großen. Zur Geschichte einer Sammlung. (rot)


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