<< >> Title Contents Contents


Heidelberg


Ein deutsches Schicksal

Die Abschiebung der 16jährigen Neshe

9. Juli 1997, Sandhausen: Früh morgens klingelt es an der Tür von Kyaseddin Özmer und seiner Familie. Draußen stehen zwei Polizeibeamte - sie wollen Kyaseddins Schwester Neshe mitnehmen, sie soll heute in die Türkei abgeschoben werden. Neshe wird zum Frankfurter Flughafen gebracht, doch der Pilot weigert sich, das weinende Mädchen mitzunehmen. Am nächsten Morgen trifft sie schließlich mit dem Nachtflug aus Köln in Ankara ein - in einem Land, aus dem sie vor drei Jahren fliehen mußte, weil ihre Familie nicht mehr für sie sorgen mochte.

Die Dinge wiederholen sich: schon zu Neujahr sollte das Autonome Zentrum geräumt werden - und damals wie heute wurde der Räumungstermin verschoben. Der Unterschied: wurde Ende Dezember bei dem Anwaltsvergleich zwischen dem AZ und der Stadt der Räumungstermin bis zum 31. Oktober nur verschoben, steht nun eine Alternative in Aussicht.

Bei dem Gebäude, das die Stadt dem Autonomen Zentrum zur Verfügung stellen will, handelt es sich um den Bahnhof in Schlierbach. "Schlierbach ist weit weg. Das Raumangebot wäre dort akzeptabel, doch Quadratmeter sind nicht alles", meinte dazu Michael, ein Vertreter des AZ. Die Autonomen fordern die Weiterführung des bisherigen Betriebes - vor allem bezüglich der Werkstätten und des täglich geöffneten Cafés. Die Stadtrandlage des Schlierbacher Bahnhofs würde eine Verschlechterung bedeuten. Außerdem habe das AZ noch keine rechtsverbindliche Zusage von seiten der Stadt, die einen Ersatz garantiere - bislang existiert lediglich eine Erklärung der Oberbürgermeisterin, in der ein Aufschub der Räumung bis zu einer für das AZ annehmbaren Lösung versprochen wurde.

Daß dem AZ dies nicht ausreicht, trifft im Rathaus auf Unverständnis. So sagte der persönliche Referent der Oberbürgermeisterin, Herr Braun, dem ruprecht: "Wir hoffen, daß sich weder Hausbesetzungen noch Schmierereien in der nächsten Zeit wiederholen, denn all das sind Punkte, bei denen wir uns fragen, warum man nicht darauf vertraut, daß die Oberbürgermeisterin zu ihrem Wort steht." Sonst wird im Rathaus ein eher versöhnlicher Ton angeschlagen. "Frau Weber hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß das AZ für Jugendliche notwendig und sehr wichtig ist." Doch es könnte außer dem Gebot der Toleranz noch einen weiteren Grund für das starke Interesse der SPD-Stadtregierung an einem friedlichen Ablauf des AZ-Umzugs geben. Nächstes Jahr ist Wahljahr in Heidelberg: Weder ein endloser Gerichtsprozeß noch ein Hausbesetzerkampf würden Weber Bürgersympathien einbringen - und die Opposition wäre der lachende Dritte. Ein Autonomes Zentrum an der Peripherie dagegen würde sich gemäß dem Motto "Aus den Augen, aus dem Sinn" in das Konzept der neuerdings auch bei der SPD modischen Sicherheitsdebatte einfügen.

Trifft diese Annahme zu, haben die Vertreter vom Verein "Gegendruck", der das AZ gegenüber der Stadtverwaltung vertritt, eine vergleichsweise günstige Ausgangssituation - zumindest, solange der Bogen nicht überspannt wird. Denn seit letztem Samstag kann das AZ theoretisch geräumt werden. Doch das sieht man im Autonomen Zentrum nicht als Grund zur Hektik: Zunächst soll jetzt in einer Vollversammlung das Angebot der Stadtverwaltung diskutiert werden. Nicht auszuschließen ist, daß das Angebot in Schlierbach abgelehnt wird. Daß die Toleranz der Stadtverwaltung irgendwann an ihre Grenzen stoßen könnte, wird kaum befürchtet. AZ-Sprecher Michael. "Eigentlich sind wir ganz optimistisch. Jetzt ist erstmal die Zeit für Verhandlungen." (gan)


Wechsel

... in der Studi-Liste

Nachdem sie drei Jahre lang die Studi-Liste im Gemeinderat vertreten hat, beschloß Jutta Göttert nun, ihr Studium abzuschließen und ins normale Leben einzukehren. Am 23.10. rückte Christian Weiss für sie in den Heidelberger Gemeinderat nach. Die Schwerpunkte der letzten Jahre (Semesterticket, Radwegeplanungen, Förderung und Ausbau des ÖPNV) sollen auf diese Weise weiterhin im Zentrum der Studi-Liste Aktivitäten stehen. Zur Unterstützung der Gemeinderatsarbeit sucht Christian Weiss eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter für 10 bis 15 Wochenstunden (auf der Basis 15 DM pro Stunde). Kommunalpolitisch Interessierte mit organisatorischen Talenten können sich melden bei: C. Weiss, Tel.: 06221/393011.


Das AZ bleibt! - unentschlossen

Trotz eines Angebots der Stadt ist der Umzug noch unsicher

Für die einen ist es wichtiger Bestandteil der Heidelberger Alternativkultur, für andere, wie für den CDU-Stadtbezirksvorsitzenden Ahlhaus, eine "Brutstätte von Konflikten". Nun sollen die Räume des Autonomen Zentrums (AZ) in der Alten Bergheimer Straße, seit 1991 von der Stadt kostenlos zur Verfügung gestellt, einem Komplex mit Läden, Büros und Wohnungen weichen. Mit einer Demonstration und der symbolischen Besetzung eines Hauses in der Plöck hat das AZ in den letzten Wochen auf seine bedrängte Lage aufmerksam gemacht.

Geboren ist Neshe 1981 in Cizre, einem Dorf im türkischen Teil von Kurdistan. Kurz vor ihrer Geburt wird das Dorf von türkischem Militär geschleift. Neshes Vater kommt dabei um, ihre Mutter wird mißhandelt, ist seitdem querschnittsgelähmt und kann nicht sprechen. Neshe ist allen Symbol der Zerstörung: Sie bekommt den Namen Fena (übersetzt bedeutet das "übel" oder "schlecht"), der Bruder ihrer Mutter nimmt sie auf, isoliert sie aber in seiner Familie. 1994 schickt man sie schließlich nach Deutschland, wo ihr acht Jahre älterer Bruder Asyl gefunden hat - er war in türkischen Gefängnissen wegen seiner politischen Aktivitäten gefoltert worden.

In Heidelberg beginnt für Neshe ein neues Leben: In der Türkei hat sie nicht einmal lesen und schreiben gelernt, nun macht sie an der Internationalen Gesamtschule innerhalb von drei Jahren ihren Hauptschulabschluß. Bald ruft man die beliebte Mitschülerin Neshe, "die Fröhliche". Anders als die meisten ihrer Klassenkameraden hat sie sogar schon eine Lehrstelle sicher.

Doch bereits im Oktober 1994 lehnt das Bundesamt für die Anerkennung Ausländischer Flüchtlinge in Rastatt ihren Antrag auf Asyl ab. Daraufhin klagt sie beim Verwaltungsgericht in Karlsruhe, auch dies ohne Erfolg. Über Neshes erneuten Asylantrag wird zum Zeitpunkt ihrer Abschiebung noch verhandelt.

Kurz nach der Abschiebung macht die "Initiativgruppe Neshe", gegründet von Neshes Mitschülern und Lehrern, beim badenwürttembergischen Petitionsausschuß eine Eingabe, die allerdings am 1. Oktober mit den Stimmen von CDU und Republikanern abgelehnt wird - schließlich sei das Gremium "weder ein Gnadenausschuß noch ein Ausschuß zur Aushebelung rechtsstaatlich einwandfrei gefällter Entscheidungen", so Heidelbergs CDU-Landtagsabgeordneter Werner Pfisterer. Für Wirbel sorgt außerdem ein Fax, das Baden-Württembergs Innenminister Thomas Schäuble (CDU) im Juli von der deutschen Botschaft in Ankara erhalten, aber nicht an den Petitionsausschuß weitergereicht hat. Darin heißt es, daß man "aufgrund Neshes familiärer Verhältnisse in der Türkei die Abschiebung ernsthaft überdenken sollte." Da ohne dieses Fax der Ausschuß auf falscher Grundlage entschieden habe, konnte die Initiativgruppe eine erneute Abstimmung am kommenden Mittwoch durchsetzen. Doch selbst bei einem positivem Votum liegt die endgültige Entscheidung bei Innenminister Schäuble, dem obersten Dienstherrn der Landes-Asylbehörden - er lehnt Neshes Einreise kategorisch ab.

Neshe ist in Ankara einstweilen bei einem Menschenrechtsverein untergekommen, doch dessen Mitglieder stehen selbst unter massivem politischen Druck und sind deshalb durch ihr Engagement für die Abgeschobene zusätzlich gefährdet. In ihrem Heimatdorf möchte weder die Familie des Onkels noch die behinderte Mutter Neshe aufnehmen. Außerdem ist über das Gebiet der Ausnahmezustand verhängt, nicht einmal Presseteams wagen sich noch dorthin. Zu befürchten ist weiterhin, daß man Neshe über die politischen Aktivitäten ihres Bruders verhören wird - und was ein "Verhör" in der Türkei bedeuten kann, ist bekannt. War sie vor einigen Wochen noch zuversichtlich, so sei sie nun in einem "desolaten Zustand", berichtet ihr Anwalt Berthold Münch, der sie letzte Woche in Ankara besucht hat.

Für Heidelberg hat die Asylproblematik mit Neshe ein Gesicht bekommen - die restriktive Praxis der Asylbehörden läuft unterdessen täglich weiter. Nach streng juristischer Lesart ist "asylwürdig" nur, wer politisch verfolgt wurde; humanitäre Erwägungen wie drohende Verfolgung oder ethnische Benachteiligung werden ausgeblendet. Neshe ist nur eine von 6000 Kurden, die jährlich aus der BRD abgeschoben werden. "Der öffentliche Druck aus Deutschland ist im Moment Neshes einziger Schutz", resümiert ihr Lehrer Gerd Jünger, "aber wir werden weiter kämpfen, bis sie wieder hier ist - notfalls bis zur letzten Instanz, dem Europäischen Gerichtshof." (kebi)


Zwischen Ästhetik und Ekel

Die Körperwelten eines Heidelberger Anatomieprofessors

Pietätlos? Ekelhaft? Makaber? Bereits im Vorfeld gab es emotionsgeladene Diskussionen um die am vergangenen Donnerstag eröffnete Ausstellung "Körperwelten". Kaum ein Fernsehsender, der das Ereignis im Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit nicht ausgeschlachtet hätte. Der Heidelberger Anatom Prof. Dr. Gunther von Hagens steht in der Schußlinie: Er sei ein zweiter Frankenstein, der mit seinem Horrorkabinett die Menschenwürde verletze, so die Vorwürfe.

Bereits vor zwanzig Jahren erfand von Hagens die Plastination, eine Methode zur trockenen, geruchsfreien Konservierung von Leichen. Die toten Körper oder Teile davon werden in Scheiben geschnitten oder vollständig belassen, wobei dann wahlweise Knochen, Muskulatur oder Nervensystem zu sehen sind. Für Studierende, Ärzte und Wissenschaftler können gerade die dreidimensionalen Präparate äußerst lehrreich sein. Nun wenden sich von Hagens und seine Frau Dr. Andrea Whalley als Veranstalterin an Laien. Der angestrebten Aufklärung steht Befremden gegenüber. Dem Meister selbst ist die "hohe emotionale Ambivalenz" bewußt: "Ich habe den Präparaten eine Ästhetik gegeben, und deshalb kann sich der Laie, vom Ekel befreit, ohne Abscheu in die Anatomie vertiefen." Von Hagens wird in den Medien als "Besessener" bezeichnet. "Wenn eine Hand nicht so gut wird, dann ärgert mich das", und daß die Augen noch nicht perfekt gelingen, wurmt ihn sichtlich. Doch bleibt er stets geduldig und freundlich, und wenn die Fotografen es wünschen, stellt er sich auch mal zwischen die beiden Teile eines längs geteilten Körpers. Scherzend deutet er auf einen präparierten Magen:"Das hier war ein Vielfraß".

Rund zweihundert Exponate erwarten die Besucher der Ausstellung, die in Tokio bereits eine Million Menschen gesehen haben. Lungen mit und ohne Teer, Geschlechtsorgane, Blutgefäße und Ganzkörperpräparate. Fingernägel, Wimpern und Schamhaare sind meist noch erhalten. Laut von Hagens hat jeder Mensch ein individuelles "inneres Gesicht", die Plastinate sind "Kunstwerke", nicht aber Kunst.

In der Fachwelt ist die Arbeit des Professors umstritten, die Kirche ist entsetzt. "Hier wird die Würde des Menschen verletzt", echauffiert sich der evangelische Stadtdekan Günter Eltenmüller und fordert die Museumsleitung auf, die Veranstaltung zu stoppen. Hagens hält dagegen, daß die Kirche unwidersprochen tote Körper für Touristen präsentiere, außerdem: "Die Vorwürfe werden dem altruistischen Handeln der Spender nicht gerecht". Mannheims OB Gerhard Widder, auch Vorsitzender des Stiftungsrats, weist ausdrücklich auf die "Gratwanderung" hin.

Wer seine sterblichen Überreste in dem privaten "Institut für Plastination" in Rohrbach zersägen läßt, möchte posthum der Wissenschaft dienen oder vermeiden, "von Würmern zerfressen" zu werden. Reiche Egozentriker, die sich auf diese Weise verewigen wollen, wimmelt Hagen jedoch ab. Er selbst wird sich von seiner Frau in Scheiben schneiden lassen.

Die Finanzierung sichert der Verkauf von Kunststoffen, Präparate läßt sich das Institut nach Arbeitsstunden bezahlen. Zur Kostendeckung der Ausstellung seien mindestens 200.000 Besucher nötig. Zweifellos ist sie informativ und eindrucksvoll. Eines aber bleibt merkwürdig: dieser schwarze Hut. Allen Unkenrufen zum Trotz zeigt sich Gunther von Hagens niemals ohne - außer in seinem Informationsheftfür potentielle Körperspender. (sv)


Heidelberger Profile: Von Nazis und Emanzen

Marie Marcks zum 75. Geburtstag

Die First Lady der Karikatur ist eine Heidelbergerin: Marie Marcks, in Berlin aufgewachsene Graphikerin, Cartoonistin, Autorin, verschlug es kurz nach Kriegsende in die Stadt am Neckar. Nicht zuletzt verdanken wir ihr das CAVE, das sie 1954 zusammen mit Freunden gründete. Mit einem Architekten als Vater, einer Schriftkünstlerin als Mutter und dem Bildhauer Gerhard Marcks als Onkel wurde ihr die Kunst schon an der Wiege gesungen - ihr turbulentes Leben vielleicht weniger...

Als ich in Marie Marcks' efeuumrankten Handschuhsheimer Landhaus ankomme, müssen auf dem Arbeitstisch erst einmal Berge von Abrechnungen und geschäftlichen Korrespondenzen zur Seite geschafft werden - "bis jetzt war mein Buch dran, nun muß ich das endlich mal abarbeiten." Gemeint ist ihre vor kurzem erschienene Cartoonsammlung "Du siehst nie, was ich für Dich tue!", in der sie Lust und Frust einer fünffachen Mutter aus eigener Erfahrung schildert.

Ihr erstes Kind bekam sie während der letzten Kriegswirren, in einer Zeit, als ihr die Greueltaten des Nationalsozialismus erstmals voll bewußt wurden. Ihre Eltern waren schon immer auf Distanz zum Hitler-Regime gewesen - für den Vater war Hitler ein "Verbrecher", die Mutter deckte die jüdischen Studenten ihrer privaten Kunstschule. Marie Marcks selbst fühlte sich lange Zeit hin und her gerissen: Einerseits übten auf ein kleines Mädchen, das am liebsten Indianer spielte, die schwärmerisch-abenteuerlichen, heldenhaft-martialischen Elemente der NS-Propaganda eine gewisse Faszination aus; andererseits geriet sie in der Schule oder bei den verordneten Reichsarbeitsdienst-Einsätzen mit der spießbürgerlichen Kleingeistigkeit der NS-Getreuen in Konflikt - dem BDM hatte sie sich zum Glück entziehen können. Zum Schlüsselerlebnis wurde ihr erst der Bericht eines Soldaten auf "Fronturlaub": Er hatte in Litauen Güterzüge gesehen, randvoll mit vergasten KZ-Häftlingen. "Den ganzen Umfang dieser Machenschaften begriff ich über Jahre und Jahre, bis heute lerne ich da nicht aus", beschreibt sie die schwierige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Während der ersten Zeit in Heidelberg holte sie all das nach, was ihr die zwölf Jahre des "Tausendjährigen Reiches" vorenthalten hatten: Um Sartres "Fliegen" zu sehen, trampte man bis nach Hamburg; in Heidelberg waren die Mittelpunkte des kulturellen Lebens der Filmclub und der Jazzkeller CAVE. Ihr Geld verdiente sich Marie Marcks mit Plakatemalen für Feste der US-Army. Bald war jedoch Arbeit am heimischen Schreibtisch angesagt, denn mittlerweile wollten zwei Kinder versorgt werden - und das alleine, da sie sich von deren Vater getrennt hatte. Auch einige Plakate für CAVE-Konzerte sind dabei entstanden - "die hingen in jeder Studentenbude, aber außer Ehre gab's dafür natürlich keine Bezahlung." Trotz der Armut eine glückliche Zeit: "Rauschende Feste haben wir gefeiert, dem Krieg waren wir ja endlich entronnen." Umso erschreckender also die drohende Gefahr eines neuen Krieges: Die BRD wurde wiederbewaffnet, die USA produzierten Atombomben in Serie, Ost und West hielten sich im "Gleichgewicht des Schreckens" - für Marie Marcks der Anlaß, erstmals politische Karikaturen zu zeichnen, anfangs für die wissenschaftspolitische Zeitschrift "atomzeitalter", dann für die "Süddeutsche".

1967 konnte sie bei einem Aufenthalt in San Francisco Hippie- und Studentenbewegung miterleben. Mit diesen eher spielerischen, phantasievollen Protesten verglichen, seien die Heidelberger Studenten zu ideologisiert, zu verbissen gewesen.

In diese Zeit fallen auch Marie Marcks' erste feministische Karikaturen. Nicht von der allmählich erstarkenden Frauenbewegung sei der Anstoß für diese Thematik ausgegangen, sondern von eigenen Erfahrungen: "Ich war ja zwei Jahrzehnte lang die einzige Frau, die ihre Pfoten in der politischen Karikatur hatte, und da merkte ich langsam, daß ich oft einen ganz anderen Blick auf die Dinge hatte als meine männlichen Kollegen." Als Feministin hat sie sich nie bezeichnet - das, was man wohl emanzipiert nennt, war sie ohnehin schon immer, was sollte denn daran nun revolutionär sein? -, außerdem auch hier wieder der Vorbehalt gegenüber allem Dogmatischen: "Die von der Frauenbewegung waren mir zu bierernst mit ihrer ewigen 'Wut und Betroffenheit'." Sich nicht vereinnahmen lassen, immer kritisch Abstand bewahren, ist für Marie Marcks "Karikaturistenpflicht". Über den Polit-Künstler und SPD-Wahlkampftrommler Klaus Staeck urteilt sie lakonisch: "Ein Parteigraphiker - Karikaturisten sollten keiner Partei angehören."

Jüngstes Zeugnis ihres feministischen Engagements ist gewiß Marie Marcks Biographie über ihre Mutter Else Marcks-Penzig, eine für ihre Zeit außergewöhnlich fortschrittliche Frau - "sie war wie ein Rennpferd unter lauter Salatschnecken", charakterisierte sie einmal ihr Mann. Das Buch soll dazu beitragen, die Arbeit der Mutter dem Vergessen entreißen, werden doch die Bucheinbände, die sie Anfang des Jahrhunderts für den Fischer-Verlag gestaltete, allesamt ihrem Lehrer Emil Rudolf Weiß zugeschrieben.

Müde ist Marie Marcks also noch lange nicht, auch wenn ihre Erlebnisse sicherlich zwei oder drei Leben hätten füllen können. Und dann halten sie schließlich noch die fünf Kinder und sieben Enkel in Atem - "nun ja", spöttelt sie zum Abschluß, "die Liebe höret eben nimmer auf." (kebi)


<< >> Title Contents Contents