ruprecht Nr. 51 vom 9.12.1997 in einer Datei


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Nicht nach Canossa!

Unverhofft, ungehemmt, uniweit: der Streik

Heidelberger Novembergrau, Unitrott, man sieht sich beim Mensen - alles wie gehabt. Die Entrüstung über die Studiengebühren, die Demos vom Januar sind vergessen, nur vereinzelt regen sich Proteste gegen die Kürzungen. Kaum ein Studi nimmt Notiz von den Kollegen jenseits der hessischen Landesgrenze, die ihrem Ärger über den Bildungsnotstand Luft machen. Doch als sich Unis außerhalb Hessens ebenfalls den Protesten anschließen, kommt auch Heidelberg - wer hätte das gedacht - so langsam in Bewegung.

Am Freitag, 21.11., informierte die FSK einige hundert Interessierte über die Finanzmängel an der Heidelberger Uni und die Schwachpunkte der geplanten Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG). Enthusiastische Streikboten aus Marburg und Frankfurt brachten den entscheidenden Funken dazu, der Anfang war gemacht. Die ersten AK's nahmen die Planung auf, bereits am Montag, 24.11., fanden Vollversammlungen in einzelnen Instituten statt. Ergebnis: Lucky Streik. Die ersten Transparente wurden gehißt, FSK und Politologen nahmen die Koordination in die Hand. Zur uniweiten Vollversammlung am Mittwoch, 26.11., pilgerten ungeahnte Massen in die Neue Uni. An die 4000 drängten sich in der Neuen Aula und einem zusätzlichen Hörsaal. Wer c.t. kam, mußte sich mit einem Stehplatz auf dem Gang begnügen. Während es auf den Institutsvollversammlungen noch einiges zu diskutieren gab (Was wollen wir eigentlich genau? Ist Streik der richtige Weg? Wer macht mit?), war hier die Stimmung eindeutig: Wir wollen den Streik. Sei es aus Solidarität, aus Empörung über die bundesweite Bildungspolitik und die HRG-Novelle oder aus Protest gegen die Sparpolitik von Trothas. Mit großer Mehrheit wurde der uniweite, aktive Streik bei vier Gegenstimmen und vier Enthaltungen beschlossen. Am Ende der Woche hatte sich der Großteil der Fakultäten den Protesten angschlossen, größtenteils im produktiven Streik, teilweise aber auch in Form von Aktionen, ohne zu streiken. DiePädagogischen Hochschule beschloß in einer Vollversammlung am Donnerstag ebenfalls den aktiven Streik und gingen mit Aktionen auf die Straße.

Parallel zu den immer zahlreicheren Aktionen in der Öffentlichkeit bildeten sich im Hintergrund weitere Arbeitskreise, um die Grundlagen des Streiks auszuarbeiten. Von den Fachschaften Politik und Geschichte ins Leben gerufen, befaßt sich beispielsweise der AK Zukunftswerkstatt mit den Chancen der Institution Universität, bei der FSK beschäftigen Studis sich mit dem Hochschulrahmengesetz und der BAföG- Reform.

Andere Gruppen kümmern sich um die Öffentlichkeitsarbeit. Zahlreiche Dozenten zeigten sich kooperativ, der Hauptbahnhof wurde zum bevorzugten Hörsaal für Seminare und Alternativveranstaltungen.

Im Anschluß an die Großdemo am Freitag, dem 28. November, wurde als Symbol des Streiks spontan die Neue Uni besetzt, in Koordination mit der FSK verwandelten sich ihre Räumlichkeiten zur Streikzentrale. "Ich habe nicht die Absicht, wenn das wie bisher weitergeht, da irgendwie einzugreifen", äußerte sich Rektor Jürgen Siebke am Samstag. Allerdings rechnete er nicht mit der Ausdauer der Besetzer. (vgl. Interview vom 29.11. im ruprecht aktuell, http://ruprecht.fsk.uni-heidelberg.de/aktuell/index.htm). In der folgenden Woche konnten die Passanten auf der Hauptstraße sich vor Aktionen kaum noch retten, ermutigt von der bundesweiten Ausdehnung der Proteste gaben die Heidelberger Studis ihr Bestes an Kreativität und Durchhaltevermögen. Die zweite Vollversammlung beschloß am 3. Dezember einen Forderungskatalog. Die Abstimmung war aufwendig organisiert worden - um die Zustimmung zu den zwölf Punkten des "AK Forderungen" zu ermitteln, wurden über 2000 Wahlzettel verteilt.

Nur die Forderung nach freiem Zugang zu den Hochschulen unter Verzicht auf Numerus Clausus und Auswahlgespräche wurde abgelehnt. Alle anderen Punkte erfuhren starke Zustimmung, darunter die Forderung nach sozialer Absicherung des Studiums, ein Verbot von Studiengebühren, Stopp der Mittelkürzungen und Verbesserung der Studienberatung. Besonders starkes Gewicht wurde im Katalog auf die Forderung nach Mitbestimmung der Studierenden bei universitären Entscheidungsvorgängen gelegt: zwei Punkte waren dem Postulat der Demokratisierung der Hochschule gewidmet. Stichworte sind hierbei die gesetzliche Verankerung der verfaßten Studierendenschaft mit allgemein-politischem Mandat sowie die Mitbestimmung bei Lehr- und Strukturentscheidungen. Die Vollversammlung unterstrich diese Punkte mit einer besonders ausgeprägten Zustimmung, wie sie sonst lediglich der zwölfte Punkt, der die grundlegende Reform der Studien- und Prüfungsbedingungen verlangt, bekam: Nur etwa 200 der 1600 abgegebenen Stimmen entschieden dagegen oder enthielten sich.

Einige der in dem Forderungskatalog enthaltenen Punkte sind auch eine Reaktion auf den Entwurf des HRG. Am offensichtlichsten ist dies beim zweiten Punkt der Fall, der Forderung des Verbots von Studiengebühren. Zwar wird die Frage der Studiengebühren im HRG nicht berührt, doch ist zu befürchten, daß die Länder in der Praxis ihren Spielraum zugunsten der Gebührenerhebung ausnützen. Ein weiteres Beispiel ist der vierte Punkt, der die Interpretation von Regelstudienzeiten als Richtlinie, nicht als Instrument der Studienzeitbeschränkung favorisiert. Im Entwurf zum HRG ist für Studiengänge, die zum Diplom- und Magistergrad führen, eine allgemeine Regelstudienzeit von viereinhalb Jahren festgelegt - ohne Berücksichtigung der Studienbedingungen der einzelnen Fächer. Es besteht zwar eine Ausnahmeregelung für "besonders begründete Fälle", allerdings ist dies nicht näher kommentiert. Vor allem BAföG-Empfänger, die geisteswissenschaftliche Fächer studieren, sind von den knapp bemessen Regelzeiten betroffen, da sich an ihnen die Förderungshöchstdauer orientiert.

Der auf der Vollversammlung verabschiedete Forderungskatalog stellt eindeutig klar, daß es sich beim Streik nicht um eine nette Spaßbewegung handeln soll, sondern um eine Protestbewegung mit deutlichem inhaltlichen Profil. Das ist auch bitter nötig: Das Ziel, durch den Streik eine breite Öffentlichkeit auf den desolaten Zustand der deutschen Unis aufmerksam zu machen, ist mittlerweile erreicht; landauf, landab ist der Streik Medienthema Nummer eins. Die aufmüpfigen Studenten sind die Darlings der Nation, Solidaritätsbekundungen kommen sogar aus dem Kanzleramt. Um den Streik nicht zu einer "Revolution der Kuscheltiere" (Süddeutsche Zeitung) abzuwerten, war also inhaltliche Konkretisierung gefragt.

Doch damit beginnen die Probleme erst: Nun müssen detaillierte Vorschläge für das Hochschulsystem der Zukunft her, doch alles, was den allgemeinen Konsens des "So kann's nicht weitergehen!" übersteigt, scheint umstritten. So fand zum Beispiel die Forderung nach freiem Zugang zu den Hochschulen in der Vollversammlung keine Mehrheit, und auch die pauschale Ablehnung von Studiengebühren oder größerer Autonomie der Universitäten teilen wohl nicht alle Studierenden.

Die Vollversammlungs-Forderungen können daher auch kaum mit neuen Ideen aufwarten, eher sollen alte Besitzstände verteidigt werden. Der Streik - ein wenig Unordnung, um die alte Ordnung wiederherzustellen? Zwar ist es zweifellos wichtig, auch in Zukunft Bildung nicht zum Privileg verkommen zu lassen, also beispielsweise gegen die BAföG-Kürzungspläne zu protestieren. Doch ob das humboldtsche Bildungsideal noch für die heutigen Massenuniversitäten angemessen ist, ob nicht vielmehr Umstrukturierungen nötig wären (Stichworte Hochschulautonomie, Evaluation der Lehre, Straffung der Studiengänge), wird kaum reflektiert. So mancher Prof sieht darin das große Manko des Streiks: Statt Alternativmodelle zu entwerfen, würden althergebrachte - wenn auch berechtigte - Forderungen, zum Beispiel nach mehr Mitbestimmung, mit den aktuellen Streikgründen verquickt, "nach dem Motto 'wenn wir jetzt schon beim Streiken sind, nehmen wir das auch noch mit rein'", so Prof. Dr. Christoph Schmidt von den Volkswirtschaftlern.

In den nächsten Wochen wird man sich indes wohl überlegen müssen, wie es denn nun weitergehen soll. Die Uni Gießen hat den Streik mittlerweile ausgesetzt, und auch in Heidelberg wird in vielen Veranstaltungen bereits wieder Normalbetrieb gefahren, trotz offiziellen Streiks. Ganz genau wußte man ohnehin nie, was "Streik" eigentlich bedeuten soll: Aktiver Vollstreik durch Boykott aller Seminare und Vorlesungen, "konstruktiver" Streik - also Abhalten der Veranstaltungen, aber in "anderem Rahmen" - oder Lehrbetrieb wie immer, nur bei Bedarf ein bißchen diskutieren? Ungelöst ist das Problem, daß der Begriff des Streiks nicht wirklich für das Unileben angemessen ist, noch immer: Zumindest in der Arbeitswelt möchte man mit einem Streik in erster Linie den Arbeitgeber schädigen, doch der ist sich der Studierende an der Uni eben selbst.

Schade wäre es gewiß, wenn die Proteste nach und nach im Sande verliefen oder nach den Weihnachtsferien schlicht nicht wieder aufgenommen würden. Vielleicht wäre da ein finaler Showdown, zum Beispiel in der Form einer intensiven "Streik-Abschlußwoche", die bessere Lösung. Und dann nach einer kreativen Denkpause ein erneuter Streik, wenn sich noch nichts geändert haben sollte - Aufhänger wie die endgültige Entscheidung über das HRG nächstes Jahr im Bundesrat gäbe es ja genug. (kh, kebi, gan)


Lausige Zeiten für Juristen?

Studierende wehren sich gegen unsinnige Reformen

Während anderswo der Mangel an Büchern und Geld im allgemeinen beklagt wird, richtet sich der Zorn von Baden-Württembergs Jura-Studierenden vor allem gegen drei geplante Neuerungen: Seit es die sogenannte "Freischuß-Regelung" gibt (wer bis zum 8. Semester ins Examen geht, hat bei Nichtbestehen noch einen zusätzlichen Versuch, und der Fehlversuch wird annulliert), gibt es auch die Möglichkeit der Notenverbesserung, d.h. wer nur ein mäßiges Examen hat, darf die Prüfung wiederholen, und nur das bessere Ergebnis zählt. Die Notenverbesserung soll nach dem Willen der Landesregierung nun wegfallen, um, wie es in der Verordnung heißt, "Qualität und Effektivität der Ersten Juristischen Staatsprüfung nicht insgesamt zu gefährden". Denn mehr als doppelt so viele Kandidaten unternähmen einen Verbesserungsversuch, als man erwartet habe. Dabei übersieht die Regierung, daß auch viele Studis dank des Verbesserungsversuchs ins Examen gehen, aber dann gar nicht wiederholen, weil die Note gut genug ist. Doch ohne den Verbesserungsversuch würden sich die meisten Kandidaten nicht mehr so früh ins Examen trauen und wesentlich länger studieren. Und damit wäre der ganze "Freischuß", der eingeführt wurde, um das Jura-Studium zu beschleunigen, praktisch wertlos. Denen, die mit ihrer Note im schriftlichen Examen nicht zufrieden sind, empfielt die Landesregierung deshalb allen Ernstes zu "pokern", nämlich einfach nicht ins Mündliche zu gehen, also absichtlich durchzufallen, um dann beim nächsten Versuch eine bessere Note zu erzielen (die dann allerdings auch noch schlechter werden kann und für immer bleiben würde). Ab April nächsten Jahres sollen nur noch 580 Referendariatsplätze zur Verfügung stehen - bei rund 1900 Kandidaten, die zur Zeit ihr erstes Staatsexamen ablegen. Nach Abzug der im Schnitt Durchfallenden und der Wiederholer wären das immerhin noch über 1500 Bewerber. Und von den 580 Plätzen sollen 60% an Bewerber vergeben werden, die Wehr- oder Zivildienst geleistet haben, von den übrigen jeweils 10% an Bewerber mit Wartezeit und an Härtefälle, so daß für die restlichen Plätze auf einen Platz sechs Bewerber kommen.

Wer kein Prädikatsexamen hat, muß mit einer Wartezeit von bis zu zwei Jahren rechnen - nutzlos vertane Zeit, ärgerlich besonders für die, die schnell durchs Studium gekommen sind und nun als Lohn zum Herumsitzen verdammt sind.
Referendare, die ab April beginnen, sollen nicht mehr wie bisher verbeamtet werden. Das bedeutet, daß die Vergütung von bisher ca. 1800,- DM netto monatlich deutlich sinken wird, vielleicht sogar auf unter 1300,- DM. Dann aber könnten Referendare Sozialhilfe beantragen, und damit würden die Staatsfinanzen keineswegs entlastet.
Seit Bekanntwerden dieser drohenden Änderungen mobilisiert sich bei den Heidelberger Juristen Widerstand: Unterschriftenlisten und Flugblätter wurden verteilt, Arbeitsgruppen, bei denen jeder zum Mitmachen aufgefordert ist (wie etwa der AK "Juristen in der Warteschleife"), nahmen Kontakt mit Politikern, Presse und den anderen betroffenen Unis auf;eine Demo in Stuttgart wurde organisiert. Auch Professoren und Assistenten unterstützen den Protest tatkräftig und finanziell. 3500 Unterschriften gegen die Referendariatsänderungen liegen dem Landtag mittlerweile vor, davon 1500 aus Heidelberg. Mit dem Streichen des Notenverbesserungsversuchs scheint Justizminister Goll (FDP) inzwischen recht alleine dazustehen: Aus allen Parteien kommt Kritik, in Heidelberg und an anderen Unis hat sich der Fakultätsrat dagegen ausgesprochen. Was das Referendariat betrifft, bleibt zu hoffen, daß die Proteste bei der Haushaltsdebatte am 11. 12. Wirkung zeigen werden. (ah)


Ey!

Glosse

Nur noch wenige Tage und es ist wieder soweit: Ich kann mich der einzigen Freude in meinem ansonsten so freudlosen Dasein widmen. In einer der vielen ruhigen Minuten "zwischen den Jahren" (wie man so schön sagt) verkrieche ich mich mit einer Flasche Champagner in eine stille Ecke. Ich lege eine alte AC/DC-CD ein, damit die Ecke nicht zu still wird, zücke den Montblanc-Füller und schlage meinen blaßblauen Terminkalender auf, und zwar die Abteilung "Adressen": Na, wen haben wir denn da als erstes? "Markus Auberger - verflixt nocheins, wer war das nochmal?", frage ich mich und nehme einen tiefen Schluck Edelsekt. Aaaah ja, Fanta-Vier-Konzert in Hamburg, im April! Und schon wird M. Auberger mit einem fetten Tintenstrich ausgelöscht: Brauch ich nicht mehr, basta! Der nächste bitte! Der nächste ist eine Sie: "Judith Austad." Mmmmhhh... mal sehen...ja richtig: Marokko-Urlaub im Februar, hat mir doch 'ne Karte zum Geburtstag geschickt. Okay, sie findet Gnade vor meinen gestrengen Augen, kann drin bleiben. Auch alle anderen "A" sind in Ordnung. Schade eigentlich. Nichts ist lustiger als irgendwelche Assis, deren Adresse ich mir mal sturzbetrunken bei einer Party auf ein versifftes Stück Bierdeckel gepinnt habe, mit frischem Schwung aus meinem Leben zu streichen. Buchstäblich! Soziales Großreinemachen sozusagen. Hier kann man Menschen noch getrost in Schubladen stecken, ohne daß man gleich der politischen Inkorrektheit beschuldigt wird. Meine Bekannte Bettina Volkert hat zum Beispiel mal gesagt, sie hätte drei Arten von Freunden: Welche zum Zusammenwohnen, welche zum Reden und welche zum Bumsen. Eigentlich keine schlechte Einteilung, ein bißchen undifferenziert vielleicht, aber immerhin. Ich könnte das ja mit so kleinen roten, grünen und blauen Kringeln neben dem Namen kennzeichnen. Bettina habe ich übrigens, als ich nach der zweiten Flasche endlich bei "V" angelangt war, sofort und gnadenlos gestrichen. Wer Menschen derart zynisch klassifiziert, gehört schlicht nicht in mein Adressbuch! Und außerdem hat sie mir schon eine Ewigkeit nicht mehr geschrieben... (kw)


Zahlen des Monats

Prominente Politiker, die die Regelstudienzeit nicht eingehalten haben

Studienzeit in Semester

H.D. Genscher 16

Volker Rühe 16

Wolfgang Schäuble 18

Matthias Wissman 20

Guido Westerwelle 22

Quelle: Deutscher Bundestag, Bonn. Angaben in Semestern



Meinung


ruprecht point&counterpoint: Studierende auswählen?

Sollen die Hochschulen künftig verstärkt die Studierenden selbst auswählen?

In diesem Semester wurden erstmals in Deutschland in einigen zulassungsbeschränkten Fächern Auswahlverfahren eingeführt. Vom Rektorat gefördert und gelobt, löste die Auswahl bei Studierenden und Professoren ein geteiltes Echo aus. Wem nützt das Verfahren? Sind die Methoden praktikabel und gerecht? Zwei Geisteswissenschaftler streiten sich für den ruprecht um das Für und Wider der Auswahl.

"Ja"

Prof. Dr. Norbert Greiner
Prof. für Übersetzungswissenschaft, Heidelberg

"Solange es deutlich weniger Studienplätze als Studierwillige gibt, sind Studieneingangstests ein probates Mittel zur Auswahl der Besten."

Karl Jaspers hat meiner Meinung nach den Unterschied zwischen Schule und Universität treffend formuliert: "Unser Anspruch auf die Besten aus allen Bevölkerungsschichten wird unwahr als Anspruch aller, qualifiziert zu sein. Ein falscher Gleichheitsgedanke verwechselt den Anspruch auf gleiche Chancen mit einem Anspruch auf gleiche Begabung. ... An der Schule sollen alle mitkommen, damit die meisten ihr Ziel erreichen. Die Hochschule versagt, wenn sie diesem Prinzip folgt." Aus diesem wesentlichen Unterschied ergeben sich Konsequenzen für den Bildungsauftrag der Universität, den Leistungsnachweis aller ihrer Mitglieder sowie für die Zulassungsbedingungen. 1. Schulen sollen möglichst überall gleich und gleich gut sein. Nur so ist Chancengleichheit gewährleistet. Universitäten leben dagegen in und von der Konkurrenz miteinander. Nur so ist höchste Leistung möglich. Daher werden Professoren auch nach einem Wettbewerbsverfahren von den Universitäten ausgesucht, so daß durch die Berufungspolitik der Universität und das Selbstverständnis der einzelnen Fächer das Renommee einer Universität und ihr spezifisches Profil hervortreten. Studenten wählen sich ihr Studienfach und den Studienort vermutlich (hoffentlich) nach der Attraktivität und dem Renommee der Hochschule und dem dort erkannten Profil des gewünschten Faches. Wenn aber den Studierenden dieses Recht zugebilligt wird, muß man auch den Universitäten erlauben festzustellen, ob die Bewerber in Bezug auf Wissensstand, Leistungsvermögen und Motivation den Voraussetzungen des Faches entsprechen. 2. Das deutsche Abitur stellt die allgemeine Hochschulreife fest, aber eben nur auf eine sehr allgemeine Art. Denn erstens ist aufgrund der Länderhoheit im Schulwesen das Abitur faktisch nicht mehr vergleichbar. Und zweitens wird nirgends die Wahl des Studienfaches an die Wahl der Leistungs- und Grundkurse gebunden. Ich bestreite, daß das - sicher fundierte - Urteil eines Sportlehrers über die Leibesfertigkeiten eines Schülers eine gültige Aussage über dessen Befähigung zum Biologiestudium darstellt. Solange in Deutschland (a) keine allgemein verbindliche Übereinkunft über Inhalt und Niveau von Abiturleistungen herrscht und (b) das Abiturzeugnis zur Wahl eines jeden Studienfaches berechtigt, solange brauchen die Universitäten bei der derzeitigen Nachfrage nach Studienplätzen die Möglichkeit, ihre Studienanfänger ganz oder teilweise auszuwählen.

3. Hinzu kommt, daß wir nicht in allen Fächern nur motivierte und gut vorbereitete Studierende haben. Die trotz schlechtester Berufsaussichten zu verzeichnende Überfüllung vieler geisteswissenschaftlicher Studiengänge deutet darauf hin, daß nicht wenige die Wahl des Faches aus Verlegenheit treffen. Eine solche Motivation mag ausreichen, solange sie nicht zu Lasten derer geht, die trotz der Berufsaussichten das Fach aus voller Überzeugung studieren wollen. Hier scheinen Auswahlverfahren zur Entlastung der Fächer, der Lehrenden und Studierenden, durchaus sinnvoll. 4. Im übrigen verspreche ich mir positive Auswirkungen auf die Qualität der Lehre und der Betreuung. Gegenüber denen, die nach einer Prüfung Motivation und Befähigung für ein Fach bescheinigt bekommen haben, besteht eine andere Verantwortung als gegenüber jenen, die - angeblich unfähig und /oder unmotiviert - die Kapazitäten des Faches überlasten. Auch hätte die Evaluation der Leistungen in der Lehre durch die erstgenannte Gruppe einen höheren Überzeugungswert, könnte man doch bei der letztgenannten immer Zweifel anmelden, ob die Kriterien sachgerecht waren. Ich glaube, daß, solange es deutlich weniger Studienplätze als Studierwillige gibt, Studieneingangstests durch die Fächer ein probates Mittel sind, "die Besten aus allen Bevölkerungsschichten" auszuwählen.

Dr. Peter Gebhardt
Akad. Rat am Germanistischen Seminar, Uni Heidelberg
"Die Entwicklung spitzt sich immer stärker auf die Frage zu, ob die Universitäten am staatlichen Bildungsauftrag überhaupt noch festhalten wollen."

In seltsamer Verkehrung der Begriffe wird unter dem Etikett Hochschulreform ausgegeben, was sich aus der Sicht der Studierenden als Rückschritt darstellt. Ich nenne nur: die Erhöhung des Semesterbeitrages als Vorstufe zur Einführung allgemeiner Studiengebühren (demnächst 1000 DM pro Semester?); die "Geldstrafe" (1000 DM pro Semester) für Langzeitstudierende; die Einführung eines Numerus Clausus auf das Referendariat (einer Verkürzung der Ausbildungszeit sicher nicht dienlich). Und demnächst die Errichtung neuer Zugangsbarrieren, indem man die Eignungsfeststellungsverfahren für Studienanfänger - seit diesem Semester in den Fächern Biologie, Psychologie und Sportwissenschaft praktiziert - auf weitere Fächer ausdehnt?

Die Tendenz, eines nicht zu fernen Tages allen Studienfächern die Auswahl ihrer Studierenden zu erlauben oder gar zu verordnen, ist deutlich genug. Als "möglichen Vorgriff auf den Regelfall" (Michael Schwarz, unispiegel 5/97) stellen sich aus dieser Perspektive die bisherigen Heidelberger Versuche dar.

Grundsätzlich erscheint es sinnvoll und geboten, die Motivation und individuelle Eignung von Studienanfängern für das gewählte Fach zu prüfen. Worüber man streiten muß, ist das Verfahren, das man für diesen "Test" wählt. Beim jetzt praktizierten Modell punktueller Prüfungen durch kurze Klausuren und Auswahlgespräche - sie ergeben nicht mehr als eine Momentaufnahme - werden eher subjektive Eindrücke bewertet. Gewinnen werden vor allem diejenigen, die sich gut "verkaufen". Die Geisteswissenschaften könnten diesem Modell guten Gewissens nicht folgen. Ihre Alternative wäre ein studienbegleitendes bzw. -integriertes Verfahren: die Konzeption des ersten Semesters als ein Propädeutikum und durch kontinuierliche individuelle Studienberatung begleitetes Testsemester, in dem die Studienanfänger gehalten sind, ihre Eignung für das gewählte Fach durch Studienleistungen nachzuweisen. Die an der Universität Heidelberg eingeleitete Reform des geisteswissenschaftlichen Grundstudiums zeigt Ansätze in Richtung dieses Konzepts. Die Verschärfung des Numerus Clausus durch Eignungsfeststellungsverfahren für Studienanfänger leistet jenen als überholt geglaubten Vorstellungen von der Bildung als Privileg Vorschub. Schließlich könnten die Studierwilligen sich eines Tages in die Haltung von Bittstellern um Bildung gedrängt sehen. Privatuniversitäten können sich jederzeit ihre Studenten nach ihren eigenen Maßstäben aussuchen. Eignungsfeststellungsverfahren befördern die Privatisierung der Universitäten. Die Entwicklung spitzt sich immer stärker auf die Frage zu, ob die Universitäten am staatlichen Bildungsauftrag überhaupt noch festhalten wollen.



Streik


Aktiv

Streik macht Spaß

Phantasie! Ideen! Initiative! Wer in den letzten Wochen in der Hauptstraße seine Weihnachtseinkäufe erledigen wollte, stolperte an jedem zweiten Kaufhaus über lachende, lärmige, und irgendwie auch protestierende Studis.

Die Frage "Was machet Sie denn do?" leitete häufig einen Zusammenprall sonst streng nebeneinander lebender Kulturen - Heidelberger Eingeborene und "Schtudendebagg" - ein, dem ein freundlicher Meinungsaustausch folgte und ein bißchen zum Vorurteilsabbau beisteuerte. Meistens jedenfalls. Aufmerksamkeit gewinnen ist das höchste Gebot dieses Protestes. Man will die Erfahrungen der 60er Jahre nutzen: ausgebrannte Springer-Busse und Diskussionen über die Berechtigung nichtstaatlicher Gewalt sind zwar medienwirksam, erhöhen aber nicht unbedingt den Rückhalt in der Bevölkerung. Dementsprechend mühten sich Fachschaften und Arbeitskreise ab, ihre Demos und Aktionen so zu gestalten, daß auch durch die Medien Unterstützung finden.

Die Sportler veranstalteten als Bürgerschreck in Jogginghosen am Montag vergangener Woche einen Staffellauf durch die Hauptstraße - den ganzen Tag lang. Es gab sogar einige mit besonders viel Puste, die im Chor dazu sangen... Etwas weniger an die Substanz ging die Psychoberatung, die auf dem Bunsenplatz in bequemen Stühlen für Passanten angeboten wurde. Einen kulturellen Höhepunkt setzte am 3. Dezember die Fachschaft Germanistik mit einer Faust-Inszenierung - natürlich umgedichtet auf die Studiproteste. Den Eindruck babylonischen Literaturvergnügnens hatte schon tags zuvor die Lesekette am 2. Dezember gemacht - vom Bismarckplatz bis zum Café Villa standen alle Meter Studies und lasen vor - Wondratschek, Roth, Molière.
Hausaufgabenhilfe für Schüler, die sich schon mal daran gewöhnen sollen, nichts mehr zu lernen, Lichterketten, die für Bildung und gegen die ausgehenden Lichter an der Uni stehen, Brillenputzen "für guten Durchblick" - wäre der Protest ein Kreativwettbewerb, würden die Streikenden lauter erste Preise gewinnen. Bleibt zu hoffen, daß die Botschaft auch ankommt. (gan)


Abschied von Ho Chi Minh

Warum, wann und wie Studierende protestieren

Studierende sind eine Naturkatastrophe. Im Normalfall sind sie ruhig; ab und zu beginnen sie, längere Zeit unbemerkt vor sich hinzubrodeln und stauen ihre Energien langsam an, bis sie schließlich losbrechen - wie der Vesuv oder das Kobe-Erdbeben.
Für Soziologen ist die derzeitige Protestbewegung an den Hochschulen ein ganz natürliches Phänomen, nichts anderes eben als ein Erdbeben oder Herzinfarkt. Doch wie kommt es, daß gerade jetzt, ohne erkennbaren Anlaß, eine solche Welle an Protest losgetreten wurde und sich wie ein Lauffeuer in ganz Deutschland ausgebreitet hat?

Eigentlich kommt der Streik ein Jahr zu spät, jedenfalls in Baden-Württemberg. Als damals die Einschreibegebühren eingeführt wurden und die Wellen der Empörung hochschlugen, versuchten die Studierenden zwar, mit der Treuhand-Aktion den Beschluß noch abzuwenden, doch dies schlug mangels Beteiligung fehl. Desillusioniert fügte man sich in sein Schicksal, und der ursprünglich für das Sommersemester anberaumte Streik erstarb, bevor er überhaupt geboren war.

Den Hessen jedoch war eine solche Desillusionierung erspart geblieben. Als zu Beginn dieses Semesters in Gießen über 600 Teilnehmer in ein Pflichtseminar strömten und alle Erstsemester hinausgeschickt wurden, empfand man dies als provokative Ungerechtigkeit. Spontan wurde eine Vollversammlung einberufen, auf der am 29. Oktober der bundesweit erste Streik beschlossen wurde.

Mit dieser hübschen Anekdote erklärt sich das plötzliche Aufbegehren der Studierenden ganz bequem - allerdings nicht ganz zurecht: Denn ein konkreter Anlaß, der die verzweifelten Menschen endlich zum Handeln treibt, ist gar nicht nötig, meint zumindest die Wissenschaft. "Die Voraussetzungen für einen Protest", erklärt der Diplom-Psychologe und wissenschaftliche Angestellte der Universität Heidelberg, Peter Freytag, "sind folgende drei: ein Ungerechtigkeitsempfinden, die Identifikation mit einer Gruppe, die gegen etwas ankämpfen will, und das Gefühl, auch tatsächlich etwas bewirken zu können. Und gerade im letzten Punkt hat man jetzt offene Türen eingerannt und scheinbar zur richtigen Zeit das Richtige getan." Vor einem Jahr war man in Heidelberg noch nicht davon überzeugt. Die Soziologen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Die "Arbeitsgruppe Hochschulforschung" an der Universität Konstanz beschäftigt sich schon seit Beginn der 80er Jahre mit dem Phänomen des studentischen Protestes. Sein Leiter Tino Ernst Bargel nennt als Voraussetzung eine latente Unzufriedenheit, die sich gegen einen öffentlich regulierten Bereich wendet - in diesem Fall also die Hochschule - und dem eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Mit der aufkommenden Diskussion um Studiengebühren war eine Protestbewegung vorhersehbar - wenn auch nicht deren Zeitpunkt. Im Gegensatz zu den Psychologen sehen die Soziologen allerdings keine Notwendigkeit in dem Gefühl, auch wirklich etwas bewirken zu können. "Die Erfolgschancen sind derzeit nicht klar, und doch wird protestiert, quasi aus Trotz", erläutert Bargel.

Einig sind sich beide Disziplinen jedoch darin, daß die platte - materielle - Not die Studierenden zum Widerstand bewegt und kein politisches oder gar ideologisches Bewußtsein dahinter stehen muß. Die am eigenen Leib spürbaren Mißstände treiben die Studierenden auf die Straße; erst dann entwickelt sich aus den diffusen Protesten ein politisches Bewußtsein, und es wird für etwas gekämpft, statt wie bisher nur gegen etwas anzurennen. Wichtig für den weiteren Kampf ist, daß dann bestimmte Ziele festgelegt werden. In Heidelberg war man beim Koordinieren relativ schnell, was größtenteils an der Vorarbeit der Treuhand-Aktion liegt, die ein funktionierendes Netzwerk hinterließ.

Die Protest- und Gewaltbereitschaft stieg im letzten Jahrzehnt, nach bewegten 60er und 70er Jahren, vom vorläufigen Tiefpunkt zwar wieder etwas, aber eine Radikalisierung der jetzigen Bewegung ist äußerst unwahrscheinlich. Die 68er waren nicht nur in ihrem Vorgehen radikaler, sondern in ihren Forderungen auch weitgehender, eben ideologischer: Während heute für mehr Geld demonstriert wird, warfen die 68er für Ho Chi Minh Steine. In der Gewaltfreiheit sieht Freytag einen Vorteil, da mehr Macht auf die Regierung ausgeübt werden kann.

Anläßlich des Streiks hat Freytag zu Beginn letzter Woche kurzerhand eine Umfrage über das Protestverhalten durchgeführt. Die Mehrheit der Befragten - leider nur Studierende aus der Altstadt, besonders Psychologen, VWLer, Politologen und Germanisten - konnte sich mit den Streikenden und deren Motiven gut identifizieren; eher überraschend ist, daß bei den Protesten kaum Rücksicht auf persönliche Nachteile, z.B. Scheinverlust, genommen wird. Dies scheint der Schlüssel zur hohen Beteiligung zu sein, denn erst, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis zugunsten der Aktionen ausfällt und einem der Schein egal ist, wird tatsächlich gestreikt. Umso erstaunlicher sind diese Ergebnisse, als gerade die Ökonomen neben den Juristen zu der Grupppe mit dem geringsten Protestpotential gehören. Die Sozialwissenschaftler hingegen, die von den Geisteswissenschaftlern und den Medizinern langsam den Rang abgelaufen bekommen, werfen am ehesten mit Steinen - oder besetzen wenigstens Institute.

Gerade dieses Mittel des Protestes scheint jedoch weniger Anhänger zu finden als zum Beispiel das Demonstrieren oder die Teilnahme an Veranstaltungen in Bahnhöfen und Bussen, ergab Freytags Umfrage. Allerdings bedarf es mehr Überwindung, sich zu einer unbequemen Nacht in einem zugigen Gebäude aufzuraffen, als an einer gemütlichen Straßenbahnfahrt teilzunehmen. Allgemein gilt die Regel: Je radikaler die Methode, desto geringer die Teilnahmebereitschaft. Was vor dreißig Jahren noch als studentische Pflichtübung galt, ist heute eben nicht mehr gesellschaftstauglich. (gz)


Die Vorlesungsnacht

Stimmungsbericht von einer Nacht im Streikbus auf dem Bahnhofsplatz

Nachts friert es. Fast die ganze Zeit fallen winzige Eiskristalle vom Himmel. Ein kaltlähmender Wind weht leise durch die Kleider und Glieder der Menschen: nicht gerade ein Grund, sich draußen aufzuhalten, anstatt am heimelich bullernden Ofen der Studentenbude die Sorgen hinwegzuwärmen.

Doch am Hauptbahnhof steht ein Grüppchen frierender Gestalten um einen Bus herum. Ein merkwürdiger Anblick: ein Glühweinstand ohne Glühwein, statt dessen gibt es Kaffee und Gebäck, viel Gelächter und einige lautsprecherverstärkte Wortfetzen, die von chemischen Verbindungen erzählen. Mittendrin der Bus, augenscheinlich der Ursprung der Vorlesungstöne. Das Vehikel steht da wie ein seit langem gestrandetes Hausboot: Plakate hängen rundherum, die beschlagenen Fenster und das warme Licht dahinter vermitteln Geborgenheit, und wie ein Steuermann, der noch immer auf die Erlaubnis seines Käpt'ns wartet, endlich seinen Posten verlassen zu dürfen, sitzt der Busfahrer hinter seinem Lenkrad und sieht sehr, sehr gelangweilt aus.

Vorlesungs-Marathon! Vom 3. bis zum 4.12. fast achtundvierzig Stunden Wissen in sich aufsaugen, verarbeiten. Und die Aktion als Ganzes soll auffallen - denen, die sonst keinen Blick in überfüllte oder schlecht ausgerüstete Hörsäle werfen.

Als die letzte Straßenbahn am Hauptbahnhof eintrifft, ist der Strom der "arbeitenden Bevölkerung" schon lange verebbt. Doch das Grüppchen am Bus läßt sich nicht beirren: Ein Vortrag endet, ein neuer beginnt. Thema jetzt: das Altern, aus biochemischer Sicht. Oder ist es Philosophie? Der Referent könnte bald das Mikro beiseite legen, so still wird es innen. Doch dann könnten die, die wegen Platzmangels oder des lieben Nikotins draußen bleiben, nichts hören. Plötzlich, es ist schon nach zwei, ist es sehr voll geworden, und man kann sich glücklich schätzen, hat man einen Sitzplatz ergattert.

Am Ende des Vortrags Applaus. Der Referent geht auf einen Glühwein hinaus. Vor dem Tisch mit dem warmen Gesöff Unklarheit: Wer liest jetzt?, fragt ein Mädchen ihren Nachbarn. Der rät ihr, den Organisator zu suchen. Das bin ich, antwortet sie. Da kommt schon die Nachricht, daß es weitergeht. Geologie. Flüssige Einschlüsse in Gesteinen. Oder so. Der Bus wird schnell wieder voll.

Während der Dozent, ein holländischer Gast, sein Thema vorträgt, wird die Gruppe vor dem Bus immer größer: Die letzten Kneipen haben geschlossen, der Vorlesungsbus ist die richtige Fortsetzung für einen außergewöhnlichen Abend - der Bus bleibt voll. Da sieht man, was gute Studienbedingungen (Standheizung) zuwege bringen.

Nach dem Referat erobern einige das herrenlose Mikro und beginnen Gedichte vorzulesen: Spontaneität oder Alkohol? Draußen wird gelacht - ein paar Sätze bleiben hängen, glimmen kurz und verschwinden dann zwischen entlegenen Hirnlappen.

Nach vier, fünf Texten ist Schluß - Beifall und Pfiffe quittieren die Darbietung. Dann wieder ein Vortrag, der letzte: "Lebt die Erde?" Der Dozent hat alles mitgebracht, von Overheadfolien bis zu kopfgroßen Gesteinsbrocken. Die "Passagiere" im Bus drängen sich um die Plätze, von denen aus die Projektionsleinwand draußen zu sehen ist. Um den Bus wogt inzwischen ein kleines Fest - trotz der Kälte. Oder auch wegen ihr.

Als es gerade um Magma geht und Erdplattenverschiebung, unterbricht ein starke Stimme. Ein Polizist bittet zunächst um Gehör, dann um Ruhe: Leute im Hotel gegenüber hätten sich beschwert, es sei schon halb vier, man könne nicht schlafen. Wir drehen die Lautsprecher leiser und geloben Besserung, allein der Beamte bleibt skeptisch. Schließlich gibt er nach: ob wir die leisegestellten Lautsprecher auch so belassen würden - bei der Kälte wolle er nicht ein zweites Mal 'raus. Und ist verschwunden. Das Magma kann weiterströmen.

Irgendwie ist es den Hörern des Marathons dabei wieder etwas wärmer geworden. Der Protest wirkt wie Lava - eine Nacht Vorlesungsmarathon macht Mut. Die Befürchtung, die Kälte könnte den Protest einfrieren, hat sich nicht bewahrheitet. (gan)


Streik-Chronik

29.10. Universität Gießen beschließt den Streik, Unterstützung des Unipräsidenten Heinz Bauer

10.11 Universität Marburg beschließt den Streik

13.11 Universität Frankfurt/M. beschließt den aktiven Streik

17.11. weitere Hochschulen schließen sich den Protesten an, die Streikwelle geht über Hessen hinaus

25.11. Demo in Frankfurt/M. mit 10.000 Studis; keine Aufstockung des Bonner Bildungsetats, lediglich ein Notprogramm für Uni-Bibliotheken

26.11. mehr als dreißig Bildungseinrichtungen streiken bundesweit, darunter mehrere hessische Gesamtschulen; Bundeskanzler Helmut Kohl versichert seine "Unterstützung" der Proteste, die Bundesregierung habe allerdings ihre Verantwortung in der Bildungspolitik wahrgenommen

27.11. 40.000 Studis bei bundesweiter Demo in Bonn

01.12. 60 Hochschulen an den Protesten beteiligt mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen und Bayern; Beginn einer bundesweiten Aktionswoche; Jürgen Rüttgers will die Hochschulen in Zukunft von weiteren Haushaltskürzungen aussparen, angesichts der Gesamtsituation kann er keine zusätzlichen Mittel in größerem Umfang versprechen; erste Anzeichen für ein Streikende an hessischen Hochschulen (FH Gießen)

03.12. bis zum 10.12. müssen die Länder eine Einigung über die BAföG-Reform vorlegen, sonst nimmt der Bundeskanzler das Thema von der Tagesordnung des Gipfelgesprächs mit den Ministerpräsidenten am 18.12.; Ultimatum des Senats der Uni Frankfurt/M. für die Streikenden: wenn der Lehrbetrieb nicht bis zum 09.12. wieder aufgenommen wird, ist die Anerkennung des laufenden Semsters nicht gewährleistet

04.12. mehr als 100.000 Studis auf mehreren Großdemos bundesweit; Peter Grottian, Berliner Politologe: "Es steht jetzt auf der Kippe - der Protest ist möglicherweise zu zahm."

05.12. 500.000 - 700.000 Studis an etwa 100 deutschen Hochschulen beteiligen sich an den Protesten; Treffen von Studis aus ganz Deutschland in Bonn, um am Wochenende über weitere Aktionen zu beraten; 5000 Schüler demonstrieren in Frankfurt/M. gegen die Bildungsmisere (kh)


Meinung: Pfeifen allein genügt nicht

von Gundula Zilm

Schön, daß die Studierenden endlich gegen die langjährige Politik des Kaputtsparens aufbegehren - darüber freuen sich sogar die angegriffenen Politiker und setzen beim Anblick einer Kamera sofort ihr mitleidig gönnerhaftes "Ich-verstehe-euch"-Lächeln auf. Schließlich sind es nur noch zehn Monate bis zur Bundestagswahl. Nicht weniger herablassend schaut die Presse auf die studentischen "Kuscheltiere", die allerorts zwar kreativ, aber brav und friedlich protestieren. Zum revolutionären Bürgerschreck taugen sie wahrlich nicht; auch nicht die Besetzer der Neuen Universität, deren Sorgen sich eher um den Kaffee- und Kuchennachschub als um einen gesellschaftlichen Umsturz drehen. Yuppie und Autonomer wischen Hand in Hand den Boden auf und hängen bunte Luftballons neben hübsche Plakate ins Foyer. Sogar brave Bürger verirren sich vom Weihnachtsmarkt ab und zu in das besetzte Gebäude und bekunden spontan ihre Solidarität.

Der Rückhalt in der Bevölkerung, die mit vielen phantasievollen Aktionen gewonnen wurde, ist sehr groß; nicht eine kleine außerparlamentarische Minderheit begehrt dort auf, sondern ein Teil der Bevölkerung, viel heterogener und selbstbewußter, als es die Alt-68er wahrhaben wollen. Nicht einmal die Besetzer der Neuen Uni lassen sich in das Format des autonomen, linksradikalen Gesellschaftsumstürzlers pressen, geschweige denn die große Mehrheit der Protestierenden. Sind fliegende Pflastersteine und Straßenschlachten mit der Polizei, wonach die Medien gieren, wirklich nötig? Und wie sollen diese Bilder auf die Titelseiten der Zeitungen kommen, wenn sich sogar die Polizei mit den Besetzern solidarisch erklärt hat? Unsere Gesellschaft ist schon lange über die verkrusteten Strukturen von '68 hinaus, und die meisten Studierenden scheinen schlauer als die spottenden Chefredakteure zu sein: Sie wissen, daß sie mit weniger radikalen Methoden mehr erreichen, da die große Masse hinter ihnen steht und sie von der Politik ernst genommen werden. Dies ist ihre derzeitige Stärke, und auch die vielen falschen Solidaritätsbekundungen, mit denen die Politiker derzeit die Bildschirme honigsüß überziehen, sollten nicht von der jetzigen Strategie abbringen. Langfristig sind die Erfolgschancen des gemäßigten, aber beharrlichen Protests größer, denn spätestens zur nächsten Wahl bekommen die Parteien die Rechnung für ihre bisherige Poltitik und werden zum Umdenken gezwungen. Auf die Schnelle kann man sowieso nicht mehr als eine kleine Finanzspritze erwarten, die den Hochschulen auf lange Sicht wenig hilft.

Viele Studierende entdecken erst jetzt, durch die Protestwelle zum Nachdenken angestoßen, die Politik. Ein schöner Nebeneffekt wäre es schon, wenn sich das derzeit in vielen Köpfen bildende politische Bewußtsein auf die nächsten Hochschulwahlen auswirkte; bisher lagen die Wahlstuben stets verlassen wie Klassenzimmer am Heiligabend da. Die eingetretene Politisierung, die der jungen Generation stets abgesprochen wurde, sollte man auf alle Fälle ausnutzen und die Proteste solange fortführen, bis sich die Politik handlungsbereit zeigt. Zwischendurch darf ruhig mal pausiert werden - wie es die Gießener schon tun -, um den Parteien Gelegenheit zum Nachdenken zu geben; falls diese jedoch drohen, in ihre alte Lethargie zurückzufallen, sollten sie schnell wieder auf ihre Posten zurückgepfiffen werden.

Mit der Trillerpfeife mehr Geld und Demokratie einzufordern, genügt allerdings nicht. Wer wirkliche Reformen will, muß sich von der Behäbigkeit der Hochschule verabschieden - Lernende ebenso wie Lehrende. Wieso Konkurrenz und eine leistungsorientierte Finanzierung von Forschung und Lehre von einer Mehrheit der Studierenden abgelehnt werden - wie bei der Vollversammlung letzten Mittwoch geschehen -, bleibt unverständlich; diese Rolle dürfte doch wohl eher den im sicheren Schoß der Hochschule sitzenden verbeamteten Professoren zukommen? Auch über Zulassungsbeschränkungen muß nachgedacht werden, wenn sich knapp die doppelte Menge Hochschüler auf den vorhandenen Studienplätzen drängeln. Wieso wird von Eliteuniversität und Auslese gesprochen, wenn von den inzwischen 36 Prozent Abiturienten eines Jahrgangs nur ein Teil die Hochschule besuchen soll, nicht aber, wenn nur fünf Prozent das Abitur und damit den Hochschulzugang schaffen, wie früher? Ein nach hinten verlagertes Sieben bedeutet keine stärkere Auslese. Gründlich ausgearbeitete und kontrollierte Auswahlverfahren können auch eine Chance bedeuten, und zwar für diejenigen, die bei einem reinen NC, der wenig über die Studierfähigkeit für ein bestimmtes Fach aussagt, niemals den gewünschten Studienplatz bekämen.

Auf kürzere Studienzeiten pochen nicht nur die Wirtschaft und die Professoren, sondern auch die wenigsten Studierenden wollen ewig an der Alma mater bleiben. Stärker strukturierte und entrümpelte Lehrpläne sind ein Weg zu diesem Ziel; ist nicht auch das oft geschmähte "Credit-Point-System" ein Vorteil für die Studierenden? Wer bekommt keine Panikattacken vor der Abschlußprüfung, bei der es um Alles oder Nichts geht, statt mit einem satten Scheinepolster und der Gewißheit, daß man den Abschluß damit schon fast in der Tasche hat, locker - und oft wohl auch schneller - ins Examen zu gehen?

Die jetzt stattfindenden Proteste sind lange überfällig gewesen und dringend nötig. Was noch fehlt, ist mehr Flexibilität und die Bereitschaft zu wahren Reformen; auch wenn man damit hinter dem warmen Ofen hervorkommen und sich in die Kälte der unwirschen Realität begeben muß.


Hier sind unsere Profs!

Was Heidelberger Dozenten vom Streik halten

Wer sich während des Streiks gefragt hat, auf welcher Seite sein Lieblingsprofessor steht, kann es hier vielleicht nachlesen. ruprecht-Mitarbeiter schwärmten aus und befragten Heidelberger Dozenten, wie sie zu den Forderungen der Studierenden und zu deren Methoden stehen: Unterstützen sie den Schrei nach mehr Geld, mehr BAföG und einem Verbot von Studiengebühren? Sind sie gar für stärkere studentische Mitbestimmung in den Uni-Gremien? Was halten die Befragten vom Hochschulrahmengesetz (HRG)? Wie stehen sie zu der Art der Proteste, zu Besetzung und Streik?

Prof. Dr. Klaus von Beyme (Institut für Politische Wissenschaft)

Professor von Beyme hat "nichts dagegen, wenn der Eurofighter nicht kommt." Das eingesparte Geld könnte für die Sanierung der Hochschulen verwendet werden. Weniger Verständnis zeigt er dagegen für die Forderungen, Studiengebühren generell zu verbieten: Es sei "unsolidarisch", wenn Studierende ihren Beitrag zur Gemeinschaft nicht leisten wollten. Allerdings sollten diejenigen, die diese Gebühren nicht aufbringen könnten, vom Staat unterstützt werden, etwa durch Stipendien.
Bei der Frage nach studentischer Mitbestimmung plädiert Professor von Beyme "auf jeden Fall" für eine Demokratisierung der Hochschule und stuft eine Art Studentengewerkschaft oder eine verfaße Studentenschaft als "wünschenswert" ein.
Von der angestrebten Kürzung des BAföGs hält der Professor nichts. Die studentischen Protestaktionen finden bei ihm Unterstützung, solange sie nicht in "Nötigung und Rempeleien" ausarten. Aktionen, bei denen Studenten mit Gewalt von ihren Hörsälen abgehalten werden sollen, hält er für problematisch; vielmehr sollte um die Zögerer "geworben werden". Alternativ-Seminare außerhalb des Hörsaals findet Herr von Beyme "fabelhaft", auch wenn er selbst aus gesundheitlichen Gründen davon absieht. (cl)

Prof. Willi Birkenmaier (Institut für Übersetzen und Dolmetschen/Russische Abteilung)

Soweit es die russische Abteilung des IÜD angeht, fühlt sich Professor Birkenmaier vom Streik nicht betroffen. In seiner Abteilung herrschten keinerlei Mißstände. Ebenso sei eine stärkere studentische Mitbestimmung nicht notwendig,da es die geringe Größe der Abteilung möglich mache, anfallende Probleme auszudiskutieren. Herr Birkenmaier spricht sich für Studiengebühren aus; die Uni brauche Geld. Im Gegenzug müßte aber mehr Hilfe für finanziell schwächere Studierende geschaffen werden. Ausdrücklich begrüßt Professor Birkenmaier die gewählten Streikmethoden, da so die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam werde. Eine Schließung der Uni während des Streiks hält Professor Birkenmaier für einen großen Fehler. (st)

Prof. Dr. Bubner (Philosophisches Seminar)

Professor Bubner begrüßt die Aktionen der Studenten für eine Verbesserung der Situation grundsätzlich, meint aber, daß ein Streik nur etwas nütze, wenn er jemandem wirtschaftich schade. Hier könne es lediglich darum gehen, eine Öffentlichkeit zu erreichen. Professor Bubner sieht das Grundproblem darin, daß Bildungspolitik ein Teil der Sozialpolitik geworden sei. Das Abitur habe längst seine ursprüngliche Bedeutung verloren, im Grunde könne jeder alles studieren. Zudem seien die Studenten in der Massenuniversität heute oft isoliert, es fehle der Ansporn durch die Zusammenarbeit mit Kommilitonen. Wer mehr Marktmechanismen fordere, so Professor Bubner, müsse die amerikanischen Verhältnisse ansehen. Dort sei der Wettbewerb so hart, daß die Eltern oft von Geburt an für das Studium ihrer Kinder sparen müßten. Und als Wissenschaftler müsse man sich dabei vor allem gut verkaufen können. (jba)

Prof. Werner Giesselmann (Historisches Seminar)

Professor Giesselmann begrüßt die Protestaktionen. Allerdings bemerke er einen Widerspruch zwischen dem Bild des aktiven Vollstreiks, das die Medien von den Protesten wiedergeben, und den weiterhin vollen Vorlesungen des Historischen Seminars - hier hätte er eine noch stärkere Bereitschaft der Studierenden zum Boykott erwartet. Die Diskussion um Studiengebühren führt Professor Giesselmann auf "standortbedingte Wahrnehmungsstörungen" der Befürworter zurück. Aus Sicht der Studierenden seien 1000 Mark pro Semester "kein Pappenstiel", sondern eine bedeutende zusätzliche Belastung. Von Aufnahmeprüfungen bei Studienbeginn hält Professor Giesselmann gar nichts. Jeder, der ein Studium angehe, blicke schon auf die Erfahrungen eines langen Bildungsweges zurück und könne daher am besten selbst seine Eignung zu einem Studiengang beurteilen. Eine vielleicht 15minütigeAufnahmeprüfung liefere dagegen nur ein Zerrbild. Im Zuge der Kompetenz- und Autonomieerweiterung der Hochschulen im HRG hält Professor Giesselmann eine verstärkte Mitbestimmung der Studierenden für notwendig: Universitäten, die nach außen hin unabhängiger sind, seien verpflichtet, die interne Demokratisierung im gleichen Maße voranzutreiben. (gan)

Prof. Dr. Reinhard Mußgnug (Juristisches Seminar)

Angesprochen auf seine Haltung zu den Studierendenprotesten, befürwortet Professor Mußgnug die kritische Auseinandersetzung mit den Problemen des Hochschulsystems. Schwierigkeiten machten die Mittelkürzungen, sowie die ähnlichen Aufgabenbereiche von Universitäten und Fachhochschulen - sinnvoll seien zwei Hochschulreformen nur, wenn ihre Zielsetzungen klar abgegrenzt blieben. Professor Mußgnug erwartet für die Struktur der Hochschulen durch das HRG kaum wesentliche Änderungen. Der Diskussion um eine verstärkte Demokratisierung der Hochschulen, beispielsweise durch ein erweitertes Mitspracherecht der Studierendenschaft, will er sich nicht anschließen. Wichtig ist ihm trotzdem der verstärkte Meinungsaustausch zwischen Studierenden und Lehrkörper. Professor Mußgnug begrüßt die Form des Protestes am juristischen Seminar, die auf dem Gespräch von Professoren und Studierenden begründet sei. Allerdingshält er die anderorts praktizierte Form des Protestes für übertrieben: "Das Geschrei und die Trillerpfeifen sind mir zuwider. Geistiges Klima braucht Ambiente." Er setzt stattdessen aufdie Initiative der Professoren zur Verbesserung der Bedingungen an den Universitäten - so habe eine von ihm initiierte Annoncenaktion im Dezember letzten Jahres im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsministerium zum Erfolg geführt. Im Gegensatz dazu blickt er skeptisch auf Aktionen wie Vorlesungen in Straßenbahnen und im Hauptbahnhof: "Bei Leuten, die nicht wissen, wieviel Arbeit hinter einer Vorlesung steckt, macht das den Eindruck, wir würden unsere Zeit verschwenden." (gan)

PD Dr. Peter Schlotter (Institut für Politische Wissenschaft)

Dr. Schlotter hält die studentische Forderung nach mehr Geld für notwendig, doch "liegt hier nicht das Hauptproblem". Vielmehr seien die Unis in der jetzigen Form nicht mehr gesellschaftlich passend, die Ausbildung gehe an den Bedürfnissen vorbei. Sein Vorschlag: kürzere Studiengänge, die berufsspezifischer ausbilden. Zu der Frage nach Studiengebühren ist Dr. Schlotter kein grundsätzliches "Nein" zu entlocken, doch hält er es für sehr wichtig, daß damit nicht eine soziale Auswahl getroffen wird. Für sinnvoll hält er ein am australischen Modell orientiertes Finanzierungskonzept - der Staat zahlt den Studenten die Studiengebühren in Form eines zinslosen Darlehens, und wenn sie später im Berufsleben eine bestimmte Einkommensgrenze überschreiten, müssen sie den Betrag zurückzahlen. Laut Dr. Schlotter ist studentische Mitbestimmung generell natürlich sinnvoll, die Praxis hat das jedoch auch oft widerlegt. "In Hessen haben die Studenten ein weitaus größeres Mitspracherecht als in Baden-Württemberg, und doch sind die Problem dort nicht besser gelöst als hier." Dr. Schlotter hält die jetzige Form des Heidelberger Protests für vollkommen in Ordnung. Wichtig ist ihm, daß es zu keiner Gewalt gegen Personen oder Sachen kommt. (mg)

Prof. Dr. Christoph Schmidt (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät)

Mit den Studentenprotesten ist Professor Schmidt "vollkommen d'accord", die Aktionen seien allgemein sehr konstruktiv. Er warnt allerdings davor, zu viel und zu Unterschiedliches zu fordern: "Eine Initiative wird konterkariert, wenn man aus allen möglichen issues ein Paket von Forderungen schnürt, das dann von keiner Mehrheit mehr getragen werden kann." Auch er findet, daß die zur Zeit durchgeführten Kürzungen am Bildungsetat zu weit gehen. Eine prinzipielles Verbot von Studiengebühren zu fordern, lehnt er ab, da "Gebühren, verknüpft mit abfedernden Instrumenten wie Stipendien, die nach Leistung vergeben werden, durchaus ein sinnvolles Instrument sein" könnten. Die Möglichkeiten studentischer Mitbestimmung sieht er im Moment ausreichend gewährleistet und findet daher eine "pauschale Forderung" nach mehr Einfluß überzogen. Zur BAföG-Frage meint er , daß eine bezahlbare Studienförderung in Zukunft Hand in Hand gehen müsse mit einer Studienzeitverkürzung durch Leistungsanreize. (kh)

Prof. Dr. Eva Terberger (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät)

Auch Professor Terberger hält den Streik für "eine gute Sache": "Ich empfinde ihn nicht als Protest gegen, sondern für die Hochschule." Bei den Forderungen mangele es jedoch zum Teil an Konkretisierung; so sei zum Beispiel die pauschale Ablehnung von Studiengebühren wenig reflektiert. An anderer Stelle werde nicht diskutiert, ob nicht ein Stipendiensystem gegenüber pauschaler Förderung auch Vorteile haben könnte. Bei aller Freude über das Engagement der Studenten wundert sich Frau Terberger über den späten Zeitpunkt des Streiks, da in Baden-Württemberg die wichtigsten Entscheidungen (Stichwort Solidarpakt) "schon gelaufen" seien. Zu den Forderungen nach stärkerer studentischer Mitbestimmung meint sie, daß solche Forderungen eigentlich erst erhoben werden sollten, wenn die vorhandenen Möglichkeiten wirklich genutzt würden. Zur Zeit ruhe jedoch die FSK-Arbeit "auf den Schultern weniger, bei vielen Studenten scheint kein Interesse dafür vorhanden zu sein". Zur BAföG-Frage sagt sie, sie könne sich ein kombiniertes "System aus Stipendien und anderen Förderungsmöglichkeiten" vorstellen. (kh)

Prof. Dr. Michael Ursinus (Geschäftsführer des Seminars für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients; Fachvertreter für Islamwissenschaften/Osmanistik)

Professor Ursinus begrüßt den Streik als Anstoß für eine längst überfällige Debatte über die Zukunft der deutschen Hochschulen. Schließlich säßen Studierende und Lehrende im gleichen Boot und sollten sich nicht auseinanderdividieren lassen. Würden Seminare in seinem Fachbereich wegen des Streiks nicht besucht, werde dies nicht den Verlust der Scheinberechtigung nach sich ziehen. Die Forderungen der Studierenden kann er ebenso unterstützen, nur in der Frage der studentischen Mitbestimmung sieht er keinen Handlungsbedarf: Wichtiger als eine institutionell abgesicherte Mitbestimmung sei die inhaltliche Mitarbeit der Studenten, und die bewege sich schon im Moment auf sehr hohem Niveau - so seien z.B. die einzelnen Fachschaften über die Vorhaben der Landes-Strukturkommission oft besser informiert gewesen als das Rektorat. Einige Vorteile des angloamerikanischen Uni-Systems, das er als Professor in Birmingham selbst kennenlernen konnte, würde er allerdings gerne aufDeutschland übertragen, so z.B. die intensive Betreuung der Studierenden. Im Moment warnt er jedoch vor einer allzu raschen Angleichung an jenes System, da dessen deutsche Befürworter mit einem solchen "Umbau" eigentlich den "Abbau" ansteuerten: Mit dem Ruf nach Studiengebühren wolle sich das Land aus seiner finanziellen Verantwortung stehlen, die geplante Einführung des Bachelor-Abschlusses solle lediglich die "Durchlaufgeschwindigkeit" der Studierenden erhöhen und so mehr Studienplätze schaffen. Der Bachelor-Abschluß leiste aber einer "Verschulung" des Studiums weiter Vorschub und qualifiziere deshalb nicht ausreichend für die vielfältigen Anforderungen des Arbeitsmarkts: Dort sei nicht kanonisiertes Wissen gefragt, sondern "konstruktives Denken über komplexe Tatsachen" - eine Schlüsselqualifikation, die die deutschen Unis immer noch am besten vermittelten. Durch Studiengebühren drohe zudem die Gefahr einer "sozialen Selektion" und einer Verschlechterung der Uni-Qualität: Nicht die begabtesten Studenten bekämen einen Studienplatz, sondern die finanzkräftigsten. (kebi)

Mehr Professorenmeinungen gibt's auch im Internet bei ruprecht aktuell auf: "http://ruprecht.fsk.uni-heidelberg.de/aktuell/index.htm", unter: "Wo stehn die Profs? Was Heidelberger Gelehrte über den Aufruhr denken".

Redaktion: gan, kw, vb


Hochschule


Happy Birthday!

Das Studi-Werk kommt in die Jahre

Am 18. Dezember feiert das Studentenwerk Heidelberg sein 75-jähriges Bestehen. Grund genug, diese Einrichtung, die vielen Studierenden nur als "BAföG-Amt" bekannt ist, genauer unter die Lupe zu nehmen.

Als es sich Johann Hermann Mitgau 1922 zur Aufgabe machte, die existentielle Not der Heidelberger Studierenden zu lindern, war wohl kaum abzusehen, daß er damit den Grundstein für ein modernes Dienstleistungsunternehmen legte. Was einst in einer Dachkammer des Marstalls als Notstandshilfe für finanziell schwache Studierende ins Leben gerufen wurde, nahm im Laufe der Jahrzehnte immer neue Formen studentischer Betreuung an: Heute ist das Studentenwerk Schutzherr über 350 Mitarbeiter, 19 Mensen und Cafeterien, sowie über fünfzig Wohnheime im Raum Heidelberg und Heilbronn.

Hunger, Armut und die rasende Inflation machten auch den Heidelberger Studierenden die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg schwer. Beherzt nahm sich der Studentensekretär des AStA, Johann Hermann Mitgau, der Forderung nach Studentenfürsorge an und gründete in Kooperation mit dem Universitätssenat die "Studentenhilfe Heidelberg". In Form von Darlehen gelang es Mitgau, "die studierende Jugend ohne Rücksicht auf Rasse, Partei und Konfession" wirtschaftlich abzusichern. Gestaltete sich die Fürsorge zunächst darin, Studierenden billige Lebensmittel, Kleidung und Lehrmittel anzubieten, so vergab man ab dem Jahre 1925 Stipendien an die "arme Intelligenz". In den folgenden Jahren widmete sich der Verein verstärkt der Errichtung von Wohnheimen. Mit Hilfe von Spenden konnte u.a. das Sibley-Haus am Heumarkt im Jahre 1927 die ersten Studierenden aufnehmen.

Mit der Machtergreifung Hitlers erfolgte die Gleichschaltung aller Studentenwerke. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurden die geförderten Studierenden unter Mißachtung der Satzung nach politischen und rassischen Kriterien ausgewählt. Über den Alltag im Studentenwerk während des Hitler-Regimes ist wenig bekannt; der Aktenbestand endet 1934. Mit der Beschlagnahmung des gesamten Vermögens durch amerikanische Truppen wurde das Studentenwerk 1945 der Nazi-Kontrolle entrissen. Obwohl die Mensa bald nach Kriegsende ihre Pforten wieder öffnete, konnten die Studierenden nur mit Hilfe amerikanischer Unterstützung ausreichend versorgt werden.

Eine Erweiterung des Aufgabenspektrums erfolgte im Jahr 1958: Das Studentenwerk war nun zentrale Verwaltungsstelle der ersten finanziellen Beihilfen des Staates.

Aufgrund der rapide wachsenden Studentenzahl nahm man in den 60er Jahren den Ausbau von Studentenwohnheimen in Angriff, besonders im Neuenheimer Feld. Während der Studentenproteste 1968 zogen auch die Heidelberger gegen die Erhöhung von Mensapreisen und für eine Erhöhung der staatlichen finanziellen Leistungen zu Felde. Adressat: das Studentenwerk. Dennoch würdigte man dessen Vorreiterrolle, die es mit der Trägerschaft für eine studentische Kinderkrippe übernahm. Als erstes Studentenwerk der Bundesrepublik reagierte es damit auf den damaligen Babyboom und die Probleme der Studi-Eltern.

Die Einrichtung einer Psychotherapeutischen Beratungsstelle, die Überführung des Studentenwerks in eine Anstalt des öffentlichen Rechts, die Eröffnung neuer Mensen sowie der Bau von weiteren Wohnheimen bestimmten das Tätigkeitsfeld der 70er und 80er Jahre.

Der konsequente Abbau des Sozialstaats in den 90er Jahren hinterläßt auch im Finanzbereich des Studentenwerks seine Spuren: Betrugen die staatlichen Leistungen 1976 noch 50% des Gesamtetats, so sind es heute weniger als 20%. Erste Auswirkugen machen sich in neuen Mensapreiserhöhungen bemerkbar und in dem Mißstand, daß nur noch 15% der Heidelberger Studierenden BAföG-berechtigt sind. Zahlen sprechen bekanntlich für sich. (cl)

HeidelbergÖkoPlan

Einkauf ganz grün

Wo kann man Biolebensmittel kaufen? Welche Umweltverbände und -ämter gibt es in Heidelberg? Wo liegt die nächste Car Sharing-Station und wie ist sie zu erreichen?

Bis vor kurzem mußte man sich selbst in der diesjährigen "Umwelthauptstadt" des Landes lange durchfragen, um Antwort auf diese und ähnliche Fragen zu bekommen. Jetzt geht es schneller: mit dem ersten Öko-Stadtplan Heidelbergs.Der Plan präsentiert die wichtigsten Anlaufstellen für Bürger, die an umweltbewußtem Leben und Einkaufen interessiert sind. Er bietet einen Überblick über umweltrelevante Ämter, ökologische Anbieter, Rad- und Wanderwege, Recyclinghöfe, über die "teilAuto"-Stationen (Car Sharing) und über alle Umweltverbände Heidelbergs. Er enthält Telefonnummern und Adressen, die durch Pfeile leicht auf der Karte gefunden werden können.

Der ÖkoPlan Heidelberg zeigt mit seiner Vielfalt von Angeboten, daß es nicht schwierig ist, den täglichen Konsum nach ökologischen Kriterien auszurichten und dabei einen wichtigen Teil zum Schutz der Umwelt beizutragen. Erschienen ist er in Absprache mit dem Umweltamt bei "umwelt direkt" im Wolf-Verlag.
Erhältlich ist der ÖkoPlan ab sofort kostenlos in vielen Geschäften, Kinos, Copy-Shops und Ämtern. Außerdem kann er gegen Einsendung von DM 5,- in Briefmarken bei umwelt direkt, Hostackerweg 21, 69198 Schriesheim, bestellt werden. (vb)


Zwei Stunden Ehrenamt pro Woche!?

Die "heidelberger tafel e.V." sucht ständig neue Mitarbeiter

Jeden Tag werden in Heidelberg und anderswo große Mengen von Lebensmitteln weggeworfen: Waren, die kurz vor dem Verfallsdatum stehen, Brot vom Vortag, Obst und Gemüse, das sich nicht verkaufen läßt und Essen, das bei Feierlichkeiten übrig geblieben ist. Gleichzeitig gibt es unzählige Menschen, für die eine ausreichende Portion Essen am Tag keine Selbstverständlichkeit ist.

Fünf Medizin-, zwei Jurastudenten und eine Lehrerin setzten im Juli 1995 ihre Empörung darüber konstruktiv in Taten um. Sie gründeten die "heidelberger tafel e.V." und stellten es sich zur Aufgabe, eben diese Lebensmittel einzusammeln und an Menschen zu verteilen, die auf Essensspenden angewiesen sind.

Mittlerweile zählt der Verein an die dreißig ehrenamtliche Mitarbeiter, die täglich gespendete Lebensmittel aus Heidelberger Hotels, Supermärkten, Bäckereien und von den lokalen Wochenmärkten abholen, um sie dann an Bedürftige weiterzuleiten. Zielgruppe sind nicht nur die Obdachlosen, sondern vor allem auch Menschen, die in "verdeckter Armut" leben, hauptsächlich einkommensschwache Haushalte alter Menschen und kinderreicher Familien, die sich ihrer finanziellen Situation schämen. Dabei arbeitet die "heidelberger tafel" eng mit dem Sozialamt, der Diakonie und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zusammen. Sie versorgt unter anderem die vom Sozialdienst katholischer Männer betreute "Wärmestube" und eine Kinderlernhilfe der Caritas mit Essen.

Vorbild für die "heidelberger tafel" waren "Tafel-Organisationen" in Hamburg, München, Frankfurt, Berlin und anderen deutschen Städten, ausgehend von der Idee eines New Yorker Projekts. Bereits im November 1995 gründeten die Organisationen einen Dachverband in Berlin, die "Deutsche Tafelrunde".

Das größte Problem der "heidelberger tafel" zur Zeit ist die Sorge um den Mitarbeiternachwuchs. Die jetzige Gruppe besteht aus Menschen jeden Alters und Berufes, die Spanne reicht von Studierenden bis hin zu Rentnern und Hausfrauen. Studis sind es allerdings immer zu wenige, da viele der früheren Mitarbeiter bereits den Studien- und Wohnort gewechselt haben. Engpässe entstehen besondes auch während der Semesterferien. Ein Werbekampagne in den Heidelberger Mensen brachte leider wenig Erfolg ein. Und das, obwohl sich die "heidelberger tafel" schon über zwei Stunden Mitarbeit pro Woche freuen würde!

Nebenbei sucht der Verein ein Ladenlokal, um in Zukunft auch Lebensmittel direkt an die Bedürftigen abzugeben, die sie auf ihren täglichen Verteilungstouren nicht berücksichtigen können.

Die "heidelberger tafel" trifft sich jeden Dienstag um 20.00 Uhr im Heidelberger Selbsthilfebüro in der Alten Eppelheimerstr. 38 (im Hinterhof) und ist montags bis freitags von 10-12 Uhr telefonisch erreichbar unter 06221 - 166579, sonst per Anrufbeantworter oder per Fax unter 06221 - 161331. (vb)


Heidelberger Profile: Schräger Typ mit Hut

Der Alltag des "Körperwelten"-Initiators Gunther von Hagens

Der Zeiger rückt auf zehn. Der Mann mit dem schwarzen Hut erscheint. Selbstverständlich pünktlich, steuert er geradlinig auf uns zu, reicht uns die Hände. Wasserblaue Augen, verborgen unter der Filzkrempe, scheinen uns geradewegs zu durchdringen... Was ist nun dran an diesem Mann, der das Zerschneiden von Leichen zu seinem Lebensziel gemacht hat? Wird er auch uns plastinieren? Sieht er auch uns nur als potentielle Ganzkörperpräparate?

Die natürliche Scheu vor dem Tod, Anatomie a n "echten Körpern" und Aufklärung für Laien wie für Fachleute - das sind seine Maximen. "Mein Lebenswerk beruht auf der uneigennützigen Körperspende vieler Menschen, die sich meinem Institut und mir persönlich anvertraut haben."
Wie sieht ein Tag im Leben des Gunther von Hagens aus?
Während gewöhnliche Menschen morgens um sieben das Haus verlassen, um für acht Stunden ihrer Arbeit nachzugehen, sich dann Familie oder Freizeit widmen, ist für Workaholic von Hagens die Arbeit auch sein einziges Hobby. Um für seine Professur an einer chinesischen Universität auch sprachlich gerüstet zu sein, ist der frühe Morgen zunächst mit Chinesisch lernen verplant. Es folgen die unausweichlichen Pressetermine, denen er sich zwei- bis dreimal täglich stellen muß. Wer Säuferlebern und Raucherlungen - am Stück oder in Scheiben - in einer Ausstellung zeigt, muß mit hohem Medieninteresse rechnen.
Doch diese Chance nutzt er auch, um sei- ne Philosophie von Leben und Sterben mitzuteilen.
Dabei orientiert er sich an fernöstlichen Lehren: "In Japan erhält der Mensch nach dem Tod einen neuen Namen auf dem Grabstein. Es vollzieht sich ein vollkommener Identitätswandel."

Seine praktische Anwendung: Von Hagens grenzt die Emotionen deutlich von seiner Arbeit ab. Wenn eine Leiche in sein Institut für Plastination eingeliefert wird, hat sie das Stadium "individueller Trauer und Pietät" bereits überwunden. Im Präpsaal "eilt der Tote dem Lebenden zur Hilfe". Für den Erfinder der Plastination steht der Wille des Spenders - Umwandlung in ein instruktives, gutes Studienobjekt - im Vordergrund.

Mit diesem langsamen Arbeitsprozeß verbringt er seine Nachmittage.

Oft vergehen bis zu 1000 Arbeitsstunden, bis sich von Hagens mit einem lebensnahen Präparat zufrieden gibt. Doch das ist nicht alles: Auch die Weiterentwicklung der Kunststoffe und die Ausbildung von zukünftigen Plastinatoren steht auf seinem Nachmittagsprogramm. Dabei arbeiten zur Zeit zehn Fachkollegen aus allen Teilen der Erde mit ihm zusammen: Japaner, Kirgisen, Russen, Chinesen und Deutsche sind in seinem Labor anzutreffen.

Daß er nach seinem Ableben von seiner Frau - ebenfalls Plastinatorin - plastiniert werden will, sieht er nicht als außergewöhnlich an, sondern nur als Konsequenz seines Lebenswerks.

Der öffentlichen Kritik an "Körperwelten" ist er sich bewußt, doch vertritt er selbstbewußt sein Konzept: "Viele meiner Gegner haben die Ausstellung noch nicht einmal besucht."

Und was sind die Zukunftspläne eines Wissenschaftlers, der beim Anblick von Brotschneidemaschinen unweigerlich an das Zersägen von Schädelhälften denkt? "Ein Menschenmuseum wäre für mich ein großer Reiz, das nicht auf Sensationen beruht, sondern den Menschen in seiner ganzen Ästhetik zeigt." (krs,mg)


Feuilleton


Bubikopf und Hühnerauge

Ausstellung zur Frau in der Weimarer Republik

Sie wurden dargestellt als moderne Selbstbewußte mit Bubikopf, als treusorgende Mutter oder als gleichgestellte Kameradin des Mannes: Nachdem die Frauen nach 1919 zu gleichberechtigten Staatsbürgerinnen geworden waren, warben auch die Parteien der Weimarer Republik auf ihren Plakaten gezielt um die weiblichen Wählerstimmen. Die Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte hat nun eine Ausstellung zum Thema "Zwischen Wahlurne und Waschmaschine - Frauen in der Werbung der Weimarer Republik" erarbeitet.

Neben über neunzig politischen Plakaten aus Wahlkampf und Propaganda sind auch etwa vierzig kommerzielle Anschläge zu sehen: In ihrer Darstellung eines selbstbestimmten und vereinfachten Lebens stehen sie in einem auffälligen Gegensatz zu den häufig sehr realistischen Politplakaten.

Bemerkenswert ist die hohe künstlerische Qualität einer großen Anzahl der Entwürfe - besonders, wenn man sie mit heutigen Parteiwerbungen vergleicht. Genaues Hinschauen lohnt sich also: beispielsweise bei einem Entwurf, der mit einem Ringelreigen von Mutter und Kinderschar wirbt, gezeichnet im Jugendstil - und zwar für die USPD, deren linker Flügel im Spartakusaufstand ihre demokratischen Ideale auch mit Waffengewalt verteidigte. Oder Plakate, die durch ihre Symbolik zunächst auf eine sozialistische Zielsetzung schließen lassen - aber rechtskonservative oder Nazipropaganda vertraten. Schade nur, daß es nicht gelang, mehr themenrelevante Plakate der NSDAP auszustellen - gerade hier wäre der Kontrast zur Darstellungsweise der Frau in den Plakaten der demokratiebejahenden Parteien interessant.

Insgesamt ist das Kunststück gelungen, eine Ausstellung zur politischen Geschichte mit Unterhaltungswert zusammenzustellen - nicht zuletzt durch die Auswahl der kommerziellen Werbeträger. Die reizen auch schon mal zum Lachen - zum Beispiel, wenn eine modisch gekleidete, junge Mutter von ihrem engelsgleichen Kind umjubelt wird: "Mutti hat neue Füße" und das ganze zum Kauf von Hühneraugenpflastern animieren soll.

Doch diese Auflockerungen haben auch einen praktischen Nutzen: Der Unterschied zwischen damaligem Lebensideal und Wirklichkeit wird greifbar. Erst bei der Betrachtung der Werbeplakate wird verständlich, welche Wirkung der Anblick der verhärmten, wehrlosen Frauen auf den Anschlägen, die vor vermeintlichen Gefahren von Demokratie und Sozialismus warnen sollten, auf die Menschen gehabt haben muß. (gan)

Die Ausstellung ist in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Pfaffengasse 18, noch bis zum 25. Januar 1998 täglich, außer montags, zu sehen.
Öffnungszeiten: 10.00 bis 18.00 Uhr, donnerstags bis 20.00 Uhr, Eintritt frei.

Öffentliche Führungen:14.12.1997 und 6., 25.1.1998, jeweils 14.30 Uhr.


Dreck

Von Haß und Liebe

Ein Mann sitzt in seinem Sessel und motzt über Ausländer. Das ist die Haupthandlung des Stückes "Dreck" von Robert Schneider, das derzeit das Theater Gutmacher zum Besten gibt. Diesen Inhalt könnte man ohne weiteres als rassistisch abtun, wenn - ja, wenn dieser Mann nicht selber Ausländer wäre. Sein Monolog ist natürlich keine endlose Schimpftirade. Vielmehr führt uns der Schauspieler eine ganze Bandbreite von Emotionen vor, von der Xenophobie bis zur Liebe. Das Stück überrascht mit seiner Vielfältigkeit und seinen unerwarteten Wendungen. Alles wäre aber nur halb so farbig, wenn nicht der Hauptdarsteller die Fähigkeit besäße, jede feinste Nuance seiner Rolle überzeugend auszuleben.

Ein interessantes Stück in einer gelungenen Inszenierung. Wer sie noch nicht gesehen hat, sollte seine letzte Chance nutzen : Am Donnerstag, den 11. Dezember um 20 Uhr im Marstall. (st)


Viel Lärm um Nichts bei den jungen Wilden?

Stücke der neuen Spielzeit am Mannheimer Nationaltheater

Während das Heidelberger Stadttheater meist eher behäbig daherkommt, weht in Mannheim seit dem Antritt des neuen Intendanten Ulrich Schwab vor einem Jahr ein frischer Wind. Auch in dieser Spielzeit hat man sich wieder einige freche Stücke junger Autoren vorgenommen, darunter gleich zwei Uraufführungen: Kerstin Hensels "Klistier" und Barbara Freys "Das Geheimnis des Lebens", beides recht leichte Kost. Für grüblerische Gemüter ist schließlich noch Albert Ostermaiers sperrige "Tollertopographie" im Angebot.

Im Klinikum Broadwitz des Professor Becherling sucht man seit nunmehr 102 Jahren eine Anwort auf die faustische Frage, was "die halswirbelkranke Welt zusammenhält". Doch Becherlings Untersuchungsgegenstand, die "Veränderung der Frakturtechnik im Halswirbelbereich zu Beginn, im Verlauf und zum Ende eines Krieges", kann man mangels Forschungsobjekten nicht nachgehen. So muß sich das untätige Personal, ein skurriles Panoptikum verwirrter Gestalten, fern jeglichen Wirklichkeitsbezugs damit begnügen, die Wahrheit aus der Petersilie zu lesen und von der Weltrettung durch die Wissenschaft zu träumen.

Die Vorgeschichte von Kerstin Hensels "Klistier" ist abenteuerlich: Geschrieben in der DDR der 80er Jahre, war es lange Zeit verschollen, bis es nach der Wende in den Stasi-Akten der Autorin wieder auftauchte und neu überarbeitet nun seinen Weg auf die Bühne fand. Wer in der bleiernen Erstarrung und im verschrobenen Fanatismus von Broadwitz Parallelen zur DDR-Realität finden möchte, muß allerdings enttäuscht werden: Mit den Mitteln der Groteske versucht Hensel eher, das Chaos des Weltganzen zu fassen, den immergleichen "verkrampften Karneval unter wechselnder Diktatur", wie sie sagt. Neu ist das nicht, ebensowenig wie das Motiv des Außenseiters aus der Wildnis, das schließlich bemüht wird, um den seelenlosen Klinikbetrieb mit der Idee von Freiheit und Unverfälschtheit zu kontrastieren. Doch unbeschädigt ist auch der Fremde (fulminant gespielt von Jörg Hartmann) nicht mehr: Er ist einer Anstalt entronnen, in der mißliebige Elemente eingesperrt werden, von deren Existenz man aber eigentlich gar nicht wissen darf, "weil es in unserem Land keine Anstalten gibt, nur freie Bürger". Immerhin: Das Klinikum geht an der Irritation durch den Fremden zugrunde und findet sich zuletzt zu einem - wohl nach der Wiedervereinigung eingefügten - Schlußtableau zusammen, in dem aus dem trüben Klinik-Kollektiv ein grelles, aber ebenso freudloses Party-Kollektiv geworden ist.

Kann in "Klistier" nur die temporeiche Inszenierung von Corinna Bethge die schlechte Vorlage retten, geht Regisseurin Barbara Frey in "Das Geheimnis des Lebens. Ein Mörderinnen-Seminar" gar nicht von einem vorgegebenen Text aus, sondern montiert die Geschichten mordender Frauen aus der Weltliteratur - von Salome und Judith über Penthesilea bis zur Loreley - zu einem Theaterabend zusammen. Als Rahmen dient ein Lesesaal voll schwerer Folianten, in dem zwei herrisch-altjungferliche Bibliothekarinnen (Friederike Wagner und Nina Kunzendorf) ihre Besucher in die Geheimnisse der Mörderinnen-Psyche einführen. Zwischen den Texteinlagen zeigen die weiblichen Lesehungrigen eindrucksvoll, wie die Frau von heute ihren unterdrückten Killerinstinkten Luft verschafft: Die "Haus- und Gartenfreundin" gibt sich beim Zwiebelhacken Zerstörungsexzessen hin, die Emanze schreckt die anwesenden Männer durch ihre leidenschaftliche Identifikation mit der kinder- und männermordenden Medea des Euripides, die zwei Bibliothekarinnen weiden sich an den Kriminalgeschichten der Sensationspresse. Die immer wieder obsessiv aufgeworfene Frage, warum Frauen morden, kann Freys Collage jedoch nicht beantworten, den roten Faden hat sie bei ihrem Patchwork-Drama nicht mitgestrickt.

Ein einfühlsames Seelenpanorama des Dichters Ernst Toller zeichnet indes Albert Ostermaier mit seinem Stück "Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie", in dem er die Stunden kurz vor Tollers Selbstmord am 22. Mai 1939 im New Yorker Hotel "Mayflower" heraufbeschwört. Glühender Revolutionär der Münchner Räterepublik, gefeierter Künstler der Weimarer Zeit, schließlich vom NS-Regime ins Exil getriebener Repräsentant des "anderen" Deutschland, war es Tollers Tragik, Privatschicksal und öffentlichen Kampf in einem selbstinszenierten Gesamtkunstwerk zu vermischen: Als seine politischen Pläne mit dem Sieg der Franco-Faschisten im spanischen Bürgerkrieg endgültig fehlschlugen, zogen sie seine Person mit in den Abgrund.

Um den Gründen für Tollers Scheitern nachzugehen, spaltet Ostermaier seinen Helden in zwei Figuren: Auf der einen Seite der narzißtische Dichter Toller (Matthias Brandt), der immer noch von vergangenen revolutionären Großtaten träumt und sich nun in fiebriger Verzweiflung in die Rolle des letzten Aufrechten unter lauter Mördern hineinsteigert; auf der anderen Seite sein alter ego Tollkirsch (Peter Knaack), der die egomane Gestik des "guten politischen Menschen" längst durchschaut hat - "an Blumenworten frißt du dich satt", politische Agitation als Lebensform und Mittel der Selbstdarstellung.

Vor seiner "Tollertopographie" hat Ostermaier eher mit Gedichtbänden ("Herz Vers Sagen", "fremdkörper hautnah") auf sich aufmerksam gemacht, und so ist auch sein erstes Drama im Grunde reine Lyrik, hochexpressiv: "mit totenfingern / schlägt splitter wie / granatentrichter / ins hinterland der augen ...". Den sehr statischen Text hat Regisseur Christoph Biermeier gekonnt aufgelockert, indem er Tollers Seelenkämpfe in rasante Bewegungsfolgen umsetzt, grausam ausgeleuchtet in einer kahlen hermetischen Verhörzelle, einem spitz zulaufenden Angstraum. Alles in allem ein virtuoses Spiel, anstrengend zwar, doch dafür weit entfernt von der Beliebigkeit eines leerlaufenden Klinikum-Klamauks oder oberflächlicher Mörderinnen-Psychogramme. (kebi)

Weitere Termine:
Klistier: 3. und 27. Januar
Das Geheimnis des Lebens: 11. Dezember, 2., 7., 27. und 28. Januar
Tollertopographie: voraussichtlich erst wieder im Februar


Die Toten leisten ihm Gesellschaft

Das Romandebüt von Andreas Höfele: "Der Spitzel"

Andreas Höfele, Professor für Anglistik in Heidelberg, nutzt für seinen Erstling eine bescheidene Anzahl von Dokumenten als Basis für eine literarische Reise ins England des ausgehenden 16. Jahrhunderts.

Diese Dokumente betreffen zwei Personen: einen gewissen Robert Poley und den Literaten Christopher Marlowe. Beide haben eines gemeinsam: Sie waren Spitzel. Die mysteriösen Todesumstände Marlowes und die spärlichen und uneindeutigen Aussagen über Poley bindet Höfele in die Geschehnisse der zweiten Hälfte der Regierungszeit Elisabeths I. ein.

Das Kind Robert Poley lebt auf dem Land als Schweinehirt. Eine Begegnung mit einer Wilddiebin kostet ihn beinahe das Leben. Um nicht verlacht oder bestraft zu werden, berichtet er im Dorf von einem Überfall mehrerer Männer. Aus seiner Lügengeschichte wird schnell eine Tatsache, durch die er das Talent zum Lügen erkennt.

Als zu Weihnachten Schauspieler in die Stadt kommen, entdeckt er unter ihnen die Wilddiebin. Auch er wird erkannt, doch man läßt ihn wieder laufen, weil die Älteste es so will: "Er ist ein Todbringer", murmelt sie, "aber er stirbt nicht".

Einige Jahre später steht er in Diensten des Secretary Walsingham Elisabeths I. Poley wird eingesetzt, um Anhänger der im Exil befindlichen Maria Stuart auszuspionieren. Er knüpft Kontakte zu Anführern des Widerstands, schließt enge Freundschaft mit dem Anführer des Aufruhrs in England, Anthony Babbington.

Es beginnt ein raffiniertes Intrigenspiel, bei dem die katholischen Gegner jederzeit voll überwachbar sind und durch das Taktieren und Manipulieren von Secretary Walsingham und seiner Handlanger zu Taten getrieben werden, die ihnen schließlich Verfolgung und Tod einbringen, letztlich sogar die Grundlage für die Hinrichtung Maria Stuarts bilden. Poley ist dabei ein Werkzeug, am Ende bleibt ihm trotz seines Erfolgs eine Inhaftierung im Tower nicht erspart. Walsingham kennt ihn nicht mehr.

Er versucht sein Glück als Hintertreiber und Denunziant in Cambridge, kreuzt dort aber zum ersten Mal den Weg Marlowes, der seine Pläne durchschaut und ihn zur Aufgabe zwingt. Marlowe, wortgewaltiger Dichter, schwul, ist ebenfalls Spitzel. Es beginnt ein rasantes Wechselspiel zwischen den beiden Rivalen. Marlowe selbst wird denunziert, soll gegen Sir Walther Raleigh, einen in Ungnade gefallenen Günstling der Königin, eine Aussage machen, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Mit dem Fortgang der Ereignisse wird immer deutlicher, daß jeder Spitzel und Intrigant nur Handlanger eines weiteren Spitzels und Intriganten ist, Rivalität und Feindschaft herrscht überall, auch wenn Ziel und Auftrag die gleichen zu sein scheinen. Wer im einen Moment begünstigt wird, kann im nächsten bereits selbst unter Verdacht stehen, über seine eigenen Denunziationen stolpern. Die Todbringer geraten schließlich selbst in Gefahr, getötet zu werden. Nur Poley nicht. Er bewahrt die Symbole, die mit dem Tod seiner Opfer verbunden waren, in einer Kassette auf. Im Alter bewegt seinen Geist nur noch das Geschehene. Die Toten leisten ihm so auf zweierlei Weise Gesellschaft.

Andreas Höfele hat einen historischen Roman geschaffen, der spannend und unterhaltsam ist. Im einzelnen betrachtet, nimmt sich die Qualität des Romans jedoch sehr unterschiedlich aus. Während das erste Kapitel über Poleys Jugend inhaltlich brillante Fiktion mit unvorhersehbaren und einfallsreichen Wendungen bietet, bleibt es sprachlich an einigen Stellen unterhalb des Niveaus des übrigen Romans. Dessen Stil bezeichnet Höfele im Epilog übrigens als "Gelsenkirchener Barock". Packender geschrieben, dafür inhaltlich etwas blasser, sind die Passagen, in denen Poley als Erzähler auftritt. Ermüdend schließlich das letzte Kapitel, in welchem dem Leser suggeriert wird, daß letztlich alle Ereignisse doch von der zuvor scheinbar so entrückten Königin gesteuert wurden. Zu diesem Zweck plaudert Höfele zuviel aus seiner Schublade für englische Geschichte.

Durchweg ansprechend sind hingegen die Einsprengsel aus der Alltagsgeschichte und vor allem sämtliche erotische Passagen. Sowohl der Weiberheld Poley als auch der homosexuelle Marlowe erhalten im Buch reichlich Gelegenheit, ihren Bedürfnissen nachzugehen oder über deren Unbefriedigtheit zu sinnieren. Trotz großer Derbheit gelingt es dem Autor, Platitüden zu vermeiden und Klischees zu umgehen. Was den Realitätsbezug der Geschichte betrifft, so ist Höfele allzu oft darum bemüht, die Bezüge zu den Quellen herzustellen. Das hemmt den Handlungsfluß und bietet im wesentlichen keine wichtigen Informationen. Die Kraft der Fiktion ist stark genug, um den historischen Hintergrund ausschalten zu können, sie deklariert ihn zu überflüssigem Ballast. (papa)


ruprecht goes to the movies

Filmtips - und vor allem Meinungen

(in Klammern die Anzahl der ruprechte)

ruprechts Notenskala:

kein ruprecht - nicht empfehlenswert
ein ruprecht - mäßig
zwei ruprechts - ordentlich
drei ruprechts - empfehlenswert
vier ruprechts - begeisternd

Am Ende der Gewalt (4)

Der gefühlskalte, millionenschwere Investment-Banker Nicolas van Orton (Michael Douglas) wohnt in einem Riesenhaus, speist in den nobelsten Etablissements und bewegt jeden Tag gut fünfzig Millionen Dollar. Deshalb hat sein Bruder Conrad (Sean Penn) ein Problem: Was schenkt man einem Mann, der schon alles hat? Conrad befreit sich aus der Bredouille, indem er Nicolas die Eintrittskarte zu einem seltsamen Spiel schenkt: Das Unternehmen CRS (Customer Recreation Service) verspricht ihm ein Vergnügen der ganz besonderen Art: "Die Ferien werden zu Ihnen kommen!". Doch was in der folgenden Woche passiert, ist keineswegs erholsam. Nicolas wird auf CNN rüde und live beschimpft, ihm wird gleich ein ganzes Album schmieriger Sex-Photos mit seinem Konterfei untergeschoben und eines Abends findet er sein Haus von Einbrechern mit Graffittis beschmiert vor. Nicolas geordnetes Leben gerät plötzlich aus den Fugen, er entgeht nur knapp mehreren Mordanschlägen. Auch die Rolle der geheimnisvollen Christine wird immer undurchsichtiger. Erst ganz zum Schluß klärt sich das Rätsel, wobei die etwas kitschige Lösung à la Hollywood nicht ganz überzeugt. Trotzdem muß man Regisseur David Fincher ("Sieben") zugute halten, daß sein Thriller nicht vorhersehbar und äußerst spannend ist. Passendes Fazit des Films ist das Bibelzitat, das Nicolas von einem Bekannten, der das Spiel bereits absolviert hat, hört: "Nur das eine weiß ich, daß ich blind war und jetzt sehen kann." (Joh 9, 25) (mi)

The Game (2)

Ein millionenschwerer Filmproduzent (Bill Pullman) wird entführt. Er befreit sich und beschließt, unterzutauchen und ein armes Leben zu beginnen. Seine Frau (Andie MacDowell), die bis dahin im goldenen Käfig ihrer Ehe in verzweifelter Einsamkeit lebte, übernimmt nach dem Verschwinden ihres Mannes dessen Rolle: Sie wird zum eiskalten Geschäftsmenschen. Eine dritte Figur (Gabriel Byrne) thront wie Big Brother persönlich inmitten von Monitoren in einem Observatorium über Los Angeles; von dort aus überwacht der Informatiker mit tausenden Kameraaugen die Stadt. Doch auch er erweist sich als austauschbares Rädchen eines Molochs.
Aber der Film (Buch: Nicholas Klein) beschränkt sich nicht auf das Erzählen der drei Schicksale und die Beschreibung der sie umgebenden Menschen. Manchmal hat der Zuschauer sogar den Eindruck, daß der Plot um das Protagonistentrio zur Nebensache wird: wenn Regisseur Wim Wenders über dem Betrachter ein Füllhorn von Bildmetaphern, Zitaten und Eigenironie ausschüttet. Edward Hoppers Bilder werden Kulisse, Kultregisseur Sam Fuller mimt einen sabbernden Alten, dessen aktiver Wortschatz aus Floskeln besteht und der damit doch Wesentliches ausdrückt.
Verkopftes Intellektuellenkino also? Nein: "Das Ende der Gewalt" ist ein Beispiel für das seltene Kunststück, einen "intelligenten" Film ohne Brutalität oder endlose Dialoge zu drehen, der den Zuschauer doch sehr gut unterhält: einer der cineastischen Höhepunkte des Jahres. (gan)

L.A. Confidential

Curtis Hanson hat James Ellroys Erfolgsroman, der lange Zeit als zu komplex fürs Kino galt, mit vielen Stars verfilmt. Zahlreiche Handlungsstränge, mehrere Protagonisten und viele Nebenhandlungen kennzeichnen die Story. Hanson entführt in das L.A. der 50er Jahre. Kleinere Verbrechen geschehen, weil sie von der Polizei inszeniert, von der Presse bezahlt und von der Masse begafft werden. Morde in einer Bar, bei denen unter anderem ein ehemaliger Polizist ums Leben kommt, stellen den Anfang einer Ermittlungsaktion dar, bei der die unterschiedlichen Protagonisten sich zunächst auf ihre Weise Genugtuung verschaffen.

Ed Exley, früher auf Gerechtigkeit, jetzt mehr auf Karriere bedacht, nutzt den Fall zunächst, um sich zu profilieren. Jack Vincennes, schneidig und ohne Ideale, braucht Erfolg, um weiter bei einer Hollywood-Produktion den Berater spielen zu können. Budd White, ein Schlägertyp, scheinbar ohne Hirn, haßt selbstgerecht und tötet die vermeintlichen Mörder. Alle drei hegen kurz danach Zweifel an deren Schuld. Mit der Arbeit an der Entlarvung der wahren Täter geraten alle drei an ihre Grenzen und besinnen sich auf frühere Ideale.
Hansons Film ist gewaltig und gewalttätig. Gewaltig sind die Bilder, meisterhaft untermalt mit Musik von Altmeister Jerry Goldsmith.
Gewalttätig ist die Story, zutiefst unmoralisch und zugleich moraltriefend, weil einmal mehr die zum Guten Bekehrten mit den Mitteln des Bösen den Sieg über das Böse davontragen. (papa)

Die Hochzeit meines...

Besser spät als nie: Erst als ihr langjähriger bester Freund Michael ihr eröffnet, daß er heiraten wird, bemerkt Julianne (Julia Roberts), daß sie selbst mehr für ihn empfindet als nur Kameradschaft. Sie beschließt, das Traumpaar in den verbleibenden vier Tagen bis zur Hochzeit auseinanderzubringen und Michael für sich zu erobern.
Regisseur Hogan ("Muriels Hochzeit") konnte sich offenbar nicht zwischen kitschiger Romanze und spritziger Komödie entscheiden: Die Charaktere handeln theatralisch und sprunghaft, und auf heftige Gefühlsausbrüche folgen skurrile Slapstick-Einlagen. Diese Mischung macht es unmöglich, mit den Personen zu leiden - man nimmt sie einfach nicht ernst. Der Film enthält jedoch ein paar nette Ideen und einige gute Gags und ist als seichte Abendunterhaltung völlig akzeptabel. Falls er jedoch länger in Erinnerung bleiben sollte, dann nur, weil Julia Roberts so schöne Rehaugen hat. (stw)

Siddharta (3)

Mit der Verfilmung von Hermann Hesses "Siddharta" hat sich Conrad Rooks einer großen Herausforderung gestellt. Doch das Ergebnis kann sich sehen lassen: In eindrucksvollen Natur- und Landschaftsaufnahmen Nordindiens illustriert der Film die rastlose Suche des adligen Brahmanensohnes Siddharta nach dem Sinn des Lebens. Die Erfahrungsstationen seines Weges werden dargelegt und die Stufen der geistigen Entwicklung in szenischer Abfolge verdeutlicht. Siddhartas Weg führt von den geistigen Lehren der Askese und Meditation über die sinnliche Liebeserfahrung zu weltlichen Genüssen von Reichtum und Macht. Angewidert besinnt er sich und findet letztendlich Frieden am Ufer eines Flusses. Der Fluß ist Leitmotiv: "Nichts bleibt wie es ist, alles ändert sich, alles kehrt wieder" und wird als Sinnbild für den Gang des Lebens immer wieder in die Handlung eingebaut. Stellenweise läßt der Film Tiefe vermissen, muß der Zuschauer Sprünge in der Handlung in Kauf nehmen. Die von expressiven Bildern und traditioneller indischer Gesangs- und Instrumentalmusik untermalte - nahezu mystische - Atmosphäre mag diese kleine Schwäche vergessen lassen. Auch die sich teilweise an der Grenze zum Kitsch befindliche Dramatik mancher Szenen ist verzeihlich. Die Botschaft Hesses, das Erlebnis der Einheit höher zu werten als geistige Erkenntnis und den Wert der Liebe anzuerkennen, wird jedenfalls schön herausgestellt und systematisch erleuchtet. Das macht den Film sehenswert. (ko)


ruprecht on the record

Musiktips

Jacqueline du Pré:
Haydn, Beethoven, Schumann: Cellowerke

Bereits zu Lebzeiten war die britische Cellistin Jacqueline du Pré ein Mythos, wie keine andere zog sie das Publikum in den Bann der Musik. Als Zwanzigjährige eroberte sie mit ihrem exzessiven Spieldie Bühen Europas und faszinierte die Großen von Rostropowitsch bis Casals. "Es war ein erstaunliches Wechselspiel", beschrieb William Pleeth seine Schülerin, "je mehr sie bekam, desto mehr gab sie zurück." 1967 heiratete Jacqueline du Pré den Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim, zu den schönsten Dokumenten ihres künstlerischen Zusammenwirkens gehört die Einspielung des Cellokonzerts von Robert Schumann. In den 70er Jahren nahm das Leben der Cello-Königin eine tragische Wendung: Sie erkrankte an Multipler Sklerose, an der sie am 19. Oktober 1987 im Alter von 42 Jahren starb. Die Protrait-CD präsentiert eine Kostprobe ihres musikalischen Werks. Die wilde Mischung vom Klassik-Papa bis zum verträumten Romantiker sollte keinen abschrecken, zumal sie durch Portemonnaiefreundlichkeit besticht. Einmal vom Celloklang Jacqueline du Prés gebannt, wird es bei der einmaligen Begegnung allerdings nicht bleiben. (kh)

Pat Metheny Group
Imaginary Day

Phantasie schon beim Booklet: Es ist verfaßt in einem eigenen Schriftcode, nur zu entschlüsseln mit der Silberscheibe. Experimentierfreudigkeit beweist Metheny aber vor allem in seiner Musik, beispielsweise bei der Instrumentierung: eine eigens für ihn angefertigte 42saitigen Pikassogitarre,die wie eine Mischung aus Harfe, Hackbrett und Windspiel klingt, setzt er in "Into the Dream" ein. Doch das innovativste Element der Gruppe bleiben die Kompositionen von Metheny/Mays: Ihr Einfallsreichtum macht die einzelnen Songs zu Reisen in überraschende Klangwelten. Dabei besucht der Hörer Landschaften voll von unberührter, wilder Schönheit, wie in "The Roots of Coincidence", in dem der Gegensatz von akustischen und elektronischen Gitarren aufgehoben scheint. Etwas künstlich klingt "In the Heat of the Day", das mit andalusischen Rhythmen bei gleichzeitigem Einsatz von Sitar viel amerikanischen Sinn für Folklore beweist. Eine Reise birgt immer die Gefahr unschöner Erlebnisse wie dieser, und bei "Imaginary Day" überwiegen die guten Begegnungen: "A Story within the Story" beispielsweise, tatsächlich ein Ausflug für sich. (gan)

Joe Jackson
Heaven and Hell

Joe Jackson zählt zu den Exzentrikern unter den Songwritern. Selten blieb sein Sound lange gleich, Jackson sann immer nach Veränderung. Mit "Night Music" hat er 1994 Fans erschreckt und Kritiker überrascht, weil er sich der klassischen Musik zuwandte. Auch das neue Album ist von Pop weit entfernt. "Heaven and Hell" vereint unterschiedlichste Stilrichtungen, Instrumente und Sänger, thematisch orientiert an den sieben Todsünden. Die Fortsetzung der Einbindung klassischer Elemente und der Auftritt von Gastsängern dominieren dieses Album neben der thematischen Vorgabe. Die Texte sind kurz, die Aussagen konzentriert. Die Musik ist daher entscheidend bei der Umsetzung der Idee der einzelnen Passagen zu den Todsünden. Dies gelingt Jackson recht unterschiedlich. Eher enttäuschend ist der Abschnitt "Anger", musikalisch ganz in der Nähe von Jacksons Stil Ende der 70er Jahre, nicht gerade einfallsreich. Brilliant hingegen "Pride" oder "Envy", da muß man nicht lange auf dem Booklet nachsehen, um welche Todsünde es sich handelt. "Heaven and Hell" ist teilweise anstrengend, manchmal etwas monoton, aber durchweg hörenswert. (papa)

Metallica
Reload

Wie angekündigt, gibt es auf "Reload" keine wirklich neuen Songs. Es werden lediglich die Stücke nachgeschoben, die zum letzten Album nicht fertig geworden waren, Metallica setzen also ihren umstrittenen, den 90ern angepaßten Weg fort. Nichts gegen Soundveränderungen, aber auch die meisten Songs auf "Reload" haben einfach nicht die Qualität, die klassische Metallica Alben wie "Master of Puppets" oder "...and Justice for all" auszeichnete. Viele Stücke wirken unfertig und beliebig, außerdem scheinen der Band die Ideen auszugehen: Vieles trudelt unspektakulär im Midtempofahrwasser daher, das Riff von "Slither" erinnert fatal an "Enter Sandman" und mit "The Unforgiven II" gibt es gar eine lauwarme "Weiterführung" des Klassikers vom schwarzen Album. Doch auch "Reload" hat seine Momente: Etwa den rotzigen Opener "Fuel", das psychodelische "Where the wild Things are" oder die Ballade "Low Man's Lyrik", die durch eine Art Leierkasten ein besonders Flair erhält. So bleibt unterm Strich immer noch ein gutes Rockalbum, dem ich aufgrund größerer Abwechslung gegenüber seinem Zwilling "Load" sogar den Vorzug gebe. (jba)

Jane's Addiction
Kettle Whistle

Sechs Jahre nach ihrer Auflösung meldet sich eine der einflußreichsten Bands der jüngeren Rockgeschichte zurück, wenn es auch vorerst nur eines der mittlerweile sehr beliebten "best of rarities, previously unreleased demos etc." Alben geworden ist. Gegen Ende der 80er etablierten sich Jane's Addiction zu einer Zeit, als Amerikas führende Alternative Band, als diese Szene noch Underground war. Nicht nur aufgrund ihrer klischeefreien Musik, auch wegen des provokanten Outfits wurde das Quartett aus L.A. zum Trendsetter. "Kettle Whistle" vereinigt nun fast alle Klassiker der Band und ist somit ein passender Appetithappen für Neueinsteiger. Aber auch alte Fans können bedenkenlos zugreifen, denn neben bisher unbekannten Demo- und Liveversionen bekannter Songs (incl. einiger unnachahmlicher Ansagen von Perry Farrell) gibt es auch neuen Stoff. Allein schon der Titelsong sowie "So what", beides fein ausgearbeitete, mit tribalartigen Beats und spacigen Gitarrenfetzen unterlegte Kunststücke, lohnen die Anschaffung. Höhepunkt ist für mich das atmosphärische "Slow Divers", eine alte Liveaufnahme . Mal sehen, wie es weitergeht. (jba)


Verpackung? Ja, bitte!

Im Rausch der Hüllen vergangener Zeiten

Samstag, irgendwann im Dezember: Mäntel quetschen sich durch die Hauptstraße, ein Kind sieht nach oben und schreit "Nikolausi". Und während ich unweigerlich an Gerhard Polt denke, bin ich auch schon daran vorbei gelaufen: Das Deutsche Verpackungsmittelmuseum liegt unscheinbar in einem beschaulichen Hinterhof mit Eingang zur Hauptstraße.

Nicht gerade viel los, genau genommen ist außer mir nur noch ein Fernsehteam in den Ausstellungsräumen. In den Glaskästen vor mir liegen die Objekte meiner Begierde: Verpackungen, meist älteren Datums. Und schon bei den ersten Stücken denke ich, daß ich wohl seltener die Verpackungen gleich im Laden lassen würde, wenn auch nur einige davon so schmuck wären wie diese hier. "Caramba - Blechkanister für Schmieröl". Donnerwetter, brauch' ich nicht, würd' ich trotzdem kaufen. Schon der aufwendigen Lithographie wegen. Mann an Zapfsäule, phallisch, bunt - toll. Nebenan Dosen, die eher an Hundeknochen erinnern. Der Erläuterung ist zu entnehmen, daß es sich um Dosen für Schokoladenautomaten handelt. Die Form war notwendig, damit die Dosen im Automaten befördert werden konnten. Schokoladenautomaten! Könnte man mit Phillip Morris nicht darüber verhandeln, ob...

Jetzt wird's knallhart: Autlerpfiff, schon wieder was für den unterdrückten und gezähmten Mann der 90er Jahre. Der Schnaps fürs Autofahren, 35%. Die Verpackung stammt aus dem Jahre 1925, da gab's offensichtlich noch Platz auf den Straßen und keine Alkoholkontrollen.

Der Zeitgeist steckt aber nicht nur in dieser Flasche, er liegt förmlich in der Luft. Reisen, zu Wasser, zu Land und in der Luft - das ist schick. Und wer sein Produkt damit bewirbt, kann sich sicher sein, daß es vom Flair der neuen großen Freiheit profitiert. "Cunard Line, lithographierte Blechdose für Zigaretten", viel zu sperrig für unterwegs, aber im Ohrensessel kann man von der grossen Überfahrt träumen. Oder von einer Überlandfahrt im Citroen-Gangsterwagen. Nebendran eine andere Marke, vorne drauf prangert der Zeppelin. War wohl noch ein paar Jährchen, bevor die "Hindenburg" auf ihre letzte Reise ging...

"Flottenparade, der Feinschnitt für 50 Pf., 1930-1945". Ja auch Hitler wollte verpacken und verpacken lassen. Exakt gescheitelte blonde Jünglinge, dahinter ein deutsches Schiff, nicht unbedingt das, was man klein nennen würde. Und dann der Blick. Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie ein Windhund. Wer konnte sowas bloß zeichnen? In einem anderen Raum steht eine Parfümflasche, die mich sofort in ihren Bann zieht. Formschön, farblich nicht das übliche Pißgelb, drumherum ein schlichter Karton. "IA 33, Parfüm. Benannt nach einem Automobilkennzeichen. D 1930." Nebenan eine Cognac-Flasche, Jahrgang 1997. Sieht aber eher aus wie aus der Renaissance.

Zurück auf der Hauptstraße. Jetzt fällt es mehr auf als zuvor: Die Mäntel tragen ja auch Taschen. Ich werde von ihren Trägern beäugt, weil ich auf ihre Einkäufe starre und nicht selten lächeln muß. Die Odol-Flasche sieht noch immer aus wie 1950. (papa)


Theater mit Pfiff

Oscar Wildes "The Importance of Being Earnest"

Algernon Moncrieff ist ein junger dekadenter Dandy der englischen Oberschicht. Um gelegentlich den langweiligen Dinner-Parties mit dem immer gleichen belanglosen Gerede über immer gleichem schalem Whisky sowie seiner Tante Augusta, einem regelrechten Hausdrachen, zu entfliehen, vertreibt er sich die Zeit mit kleinen Eskapaden, die er aber aus Etikettegründen unter einer Zweitidentität als "Bunbury" verheimlicht.

Sein Freund Jack gibt sich als "Ernest" aus. Er ist scharf auf Algernons verwöhnte Cousine Gwendolen. Diese möchte unbedingt einen Mann mit Namen Ernest haben, genau wie die reizende Cecily, dem Mündel Jacks, die behütet auf dem Lande aufwächst. Bei einer der "Bunbury"-Aktionen verliebt sich Algernon sofort unsterblich in sie. Eine wunderbare verwirrte Verwechslungsgeschichte nimmt ihren Lauf, bei der nicht nur Gurkensandwiches auf rätselhafte Weise verschwinden, sondern die windigen Luftikusse Algernon und Jack zu "ernsten" Männern werden...

"A Trivial Comedy for Serious People" lautet der Untertitel der amüsanten Farce, und mit typisch Wilde'schem Witz und (Selbst-)Ironie werden die kleinen Verfehlungen und die Dekadenz der English Upper Class porträtiert. Oscar Wilde, Schriftsteller, gefeierter Salonlöwe und erster moderner Mensch ist es mit "The Importance of Being Earnest" gelungen, geistreichen Wortwitz und hintergründige Aphorismen elegant in eine locker-spritzige Handlung zu packen, ohne dabei Gefahr zu laufen, trivial zu werden.

Die international besetzte Schauspielgruppe des Anglistischen Seminars um Regisseur Alastair Alderton setzt das Stück in enger Anlehnung an das Original in Szene, wenn auch einige Adaptionen etwas frischen Wind in das beinahe schon zum Klassiker avancierte Stück pusten sollen. So wird etwa das Setting von der plüschigen Wilde-Viktorianik in die lebensprallen Zwanziger verlegt - "twenties-fashion" bei den Kostümen gibt dem Ganzen den richtigen Pfiff. Auch die Travestieeinlagen des ehrwürdigen Reverend Chasuble und der Gouvernante Miss Prism dürften für Stimmung im Publikum sorgen. Am Ende sollte dann aber wirklich jedem klar sein, warum es so unendlich wichtig ist, ernst zu sein.

"The Importance of Being Earnest" wird vom 21. bis 27. Januar 1998 jeweils um 20.00 Uhr im Romanischen Keller aufgeführt. Es wird auch Nachmittagsvorstellungen geben, Daten gibt's dann im ruprecht-aktuell! Karten kosten 15 bzw. 10 Mark (Studierendenermäßigung). (kw)


Tragisch

Antigone in MA

Man hört "klassisch" und denkt: na ja, vielleicht doch lieber Party heute. Man hört "Tragödie" und denkt: Ach, ein paar Bier in der Kneipe wären doch auch ein guter Abendfüller.

Wenn nun "klassisch" und "Tragödie" zusammenfallen, scheint ein verstaubter Abend vorprogrammiert. Doch weit gefehlt - zumindest, wenn es um die Aufführung von Sophokles Antigone im Nationaltheater geht.

Der Stoff dürfte jedem Altphilologen bekannt sein: Creon, Herrscher über Theben, hat befohlen, daß nur einer seiner beiden Neffen, die im Kampf gefallen sind, ein ehrenvolles Begräbnis erhalten soll. Der andere, Polyneikes, soll an der Sonne verwesen. Dies will nun Antigone, Schwester des Polyneikes, nicht zulassen und bedeckt dessen Leib mit Erde. Zur weiteren Handlung nur soviel: Am Ende sind viele tot, der Rest in unsäglicher Trauer.

Die Mannheimer Inszenierung verbindet gelungen antike Worte mit zeitgenössischer Darstellung. Bühnenbild: Fehlanzeige. Zwischen den Halteelmenten des Theaterbodens wird die Illusion durchbrochen. Dank sehr guter schauspielerischer Leistuung gehen die Konflikte dennoch unter die Haut. Am 12. Dezember besteht zum letzten Mal die Chance, Antigones Leiden zu teilen. (mg)


Zwerchfell und Gänsehaut

"Jeden Mittwoch Mord" in Mannheim

In der Vorweihnachtszeit metzelt es sich besonders angenehm: Seit Anfang Dezember werden in Mannheim an jedem Mittwoch wieder Tanten vergiftet, Handarbeitslehrerinnen genotzüchtigt und die Liebsten verhackstückt. Peter Baltruschat und Lars Michael Storm gehen an einem Abend über mehr als 160 Leichen (ein von einem Brandstifterpaar kukidenter Balkonrentner angezündeter Zirkus inklusive), und geraten dabei kaum ins Stolpern.

Das Blut strömt allerdings nur in den Texten der Chansons und in der Vorstellung der Zuschauer von den Bühnenbrettern: Die Kulisse im TiG 7 ist auffällig schlicht gehalten, und auf den gefährlich naheliegenden Einsatz von effektheischendem Ketchup und Schreckschußpistolen wurde verzichtet. Statt dessen gelingt die gruselige Stimmung beim "Kriminal Tango" lediglich durch Einsatz von zwei Stablampen, und wenn die schizophrene Ader eines Folterdandys unterstrichen werden soll, reichen dazu zwei Gummihandschuhe, die die Figur gegen ihre Glacés vertauscht. Die Devise "weniger ist mehr" gilt auch für die musikalische Begleitung: Die instrumentale Begleitung hat man auf ein Keyboard beschränkt - von Joe Völker phantasiereich gespielt. So bleibt zwischen den vielen mitreißenden, schwungvollen Chansons auch Zeit für nachdenkliche Momente: Der Zuschauer wird hin- und hergerissen zwischen kreislerischen Schwänken und Texten von Wedekind, die das Lachen einfrieren lassen.

Also kein Abend des verblödeten Gelächters. Wenn das Chansonierduo bei seinen Moritaten Leuteschinder und Kretin mimen, ist es die gelungene Art des Vortrags, die amüsiert - und im nächsten Moment, wenn der Zuschauer über den Text nachdenkt, spürt er die Gänsehaut. Da stört es auch nicht sehr, wenn bei tiefschwarzen Texten von Qualtinger der Dialekt nicht ganz durchgehalten wird; im nächsten Moment beanspruchen Verse wie "Lustig ist die Jägerei - Lotte war im Weg dabei" das Zwerchfell des Publikums.

Am Heiligabend kann man sich mit dem Mordsspektakel die kitschigen Weihnachtsohrwürmer austreiben. Totenstill wird die Nacht auf diese Weise aber bestimmt nicht: Himmlische Ruhe gibt es bei dieser musikalischen Gratwanderung zwischen Nachdenklichem und Satire nur für die Opfer in den Texten der Stücke. Ein Mordsspaß.

"Jeden Mittwoch Mord", immer mittwochs um 20:30 Uhr im Tig 7, Theaterhaus im G7, 4b in Mannheim. Karten unter: 0621/392-1404. (gan)


Verschiedenes


Die mit den Mücken tanzen

Deutsche Hochschulmeisterschaften Karate am 8.11. in HD

Manche hüpfen auch. Bestimmt, weil der Boden so kalt ist, um nicht festzufrieren. Die Arme werden auch ein bißchen hin und her gewedelt wie Ertrinkende, weil die Welt kurz nach dem Aufstehen noch schwimmt zwischen Traum und Wirklichkeit. "Karate" nennen die da unten in der Halle das. Auch eine Art, um aufzustehen. Andere trinken Kaffee. Karate ist also so etwas wie ein Kaffeersatz. Das hat natürlich den Vorteil, kein Warmwasser machen zu müssen, keinen Kaffee kaufen zu müssen, den Komposteimer nicht runtertragen zu müssen, weil der Kochtopf auch schon voll mit Filtern ist. Karate riecht aber nicht so gut wie Kaffee.

Das ist manchen Menschen nun nicht sehr wichtig, aber so viele auf einem Fleck wie am 8. November sind sie trotzdem nicht immer. Aber das war ja auch ein besonderer Tag. An diesem sie sind alle gegeneinander aufgestanden.

Kumite. Komm mit, ich mache dich platt. Der direkte Vergleich eins gegen eins. Die Arme der Kämpfer sind auf einmal Jojos. Der Arm rollt kurz vor dem Ziel einfach wieder zurück, genau dorthin, wo er auch hergekommen ist: Angewinkelt an die Körperseite gepreßt, als ob dort ein Loch wäre und ohne Arm ein Stück Dickdarm herausfallen würde. Ein Schlag immer nur als Drohung. So wie ein Wecker eben auch nur klingelt und einem nicht gleich die Faust in den Bauch knallt.

Die Regeln haben sich die Japaner irgendwann einmal ausgedacht. Eine kurze Zusammenfassung: Nichts darf man berühren, nichts festhalten, keinen Gegner und keine Waffe. Karate heißt "leere Hand". Nichts darf man, nur ein bißchen Energie durch die Gegend werfen, das ist immerhin erlaubt. Die soll aus dem Herumgehüpfe kommen. Karate ist eine Dampfturbine und der Kämpfer eine wandelnde Batterie. Der erste, der deutsche Hochschulmeister im Kumite, heißt Olaf Edsen. Er hatte voll geladen, seine Morgenstunde glänzte vor Gold im Mund, vielleicht sollte er jetzt Zahnmedizin studieren. An der Wirtschaftswissenschaftlichen Universität Münster kann man ihn treffen, und es ist nicht schwer, ihn zu erkennen: Er hat einen Rucksack in den Händen und einen kleinen Pokal. Voll zugelangt im Krabbelsack des Sports. Unter den ersten sieben war kein Heidelberger. Sie waren an diesem Tag nicht so ganz fit. Man munkelt, sie seien mit dem falschen Fuß aufgestanden.

Durch die andere Disziplin Kata dagegen muß man ganz alleine. Niemand hilft einem gegen den Mückenschwarm vor der Nase, aber wenigstens hilft der Mückenschwarm beim Punktesammeln. Man muß wohl möglichst viele von ihnen mit gezielten Boxschlägen platt machen. Gar nicht so einfach, ich habe es über unserem Komposteimer mal probiert. Sie haben sich auf meine Hände gesetzt. Mückenspray ist dummerweise verboten, fällt wohl unter die Dopingbestimmungen. Das Ergebnis der Boxerei ist mit oder ohne Doping etwas komisch: 8,4/8,3/8,2/8,4/8,3/8,0/7,9 zum Beispiel hielten die sechs Kampfrichter hoch. Man fragt sich, ob es wohl zehntel Mücken gibt, weil sechs Beine und zwei Flügel erst 0,8 ergeben. Plus Antenne 0,9. Tot eins. Gibt es also. Aber manchmal verrechnen sich die Richter auch, deswegen mußten zwei Athletinnen in ein Stechen. Als wenn sie da vorher nicht auch schon gewesen wären, aber vielleicht durften es die Mücken da noch nicht.

Miss Mückenspray wurde in der höchsten Klasse Ines Hensler aus Konstanz, in der unteren Klasse Marié Niino aus Siegen. Andrea Kretschmer und Veronika Neubrand aus Heidelberg zeigten sich mit Platz vier und zwei in bestechender Form. Mister Mückenspray wurden Jörg Riesen aus Karlsruhe und Karl-Michael Schölz aus München. Die Heidelberger Dirk Grimm und Jörg Langeheine waren vierter und siebter in ihren Klassen. Sie sind es immer noch. Schande vergeht so schnell nicht. Die ersten drei bekamen wieder einen Rucksack und der erste wieder einen Pokal.

Man hätte auch noch einen Vertrag abschließen können. Für die ersten drei zum Beispiel als Entwicklungshelfer für ein Reisfeld in Indonesien, um die Bauern vor der Mückenplage zu schützen. Dort gibt es dann auch Stechen ohne Rechenfehler der Kampfrichter. Und vor allem Hände voll zu tun.

Das wäre auch ein schönes Trainingslager für die Heidelberger Damen und Herren Mannschaften, die immer beinahe letzter waren. Wo sie doch vor zwei Jahren zweiter der Gesamtwertung waren. Wenn Indonesien zu teuer ist, kann ich auch meinen Komposteimer empfehlen. Dann war Karate auch schon wieder vorbei, und alle haben ihre Energie wieder eingepackt. So. (rot)


Leserbriefe

Hier habt ihr das Wort

Zu "Der mißverstandene Politiker und die Vertreterin der Entrechteten" in Nr. 50:

Beim Durchblättern der Zeitung wurde mir ein wenig wehmütig ums Herz, habe ich doch den Artikel auf den Seiten 6 und 7 gelesen - ich gehöre nämlich auch zu der Sorte Mensch, die die Zeitungen immer von hinten zuerst aufschlagen.

Nicht nur, daß der Schreibstil glänzend ist (davon träumt unsereins nur), auch die Verpackung knistert spannungsvoll. Letzlich ist auch das Thema, das auf den ersten Blick vielleicht langweilig wirkt, von jemandem notiert worden, der gut zu beobachten weiß. Jede Minute, in der sich die beschriebenen Menschen bewegen, sich artikulieren, ist ein Moment, in dem ich dem/der Schreiber/in über die Schulter schaue und selbst neben ihm/ihr auf einem Stuhl sitze und beobachte. Wäre es nur das, würde ich mich jetzt in meinem Stuhl zurücklehnen und mich entspannt über eine Tasse Tee hermachen, um über andere Dinge nachzudenke. Dinge, die mich vielleicht zu einer steilen Karriere führen...? Kann man die überhaupt in meinem Fach haben..?

Ich sitze hier und schreibe einen Brief an den ruprecht, da ich jetzt keine Tasse Tee trinke und mich auch nicht entspannt zurücklehne. Ich denke an den Artikel und finde ihn sehr gut. Oh, Gott klingt das banal, aber es ist die einzige Möglichkeit, mit diesem leicht abgenutzten Wort auszudrücken, daß es doch noch Journalismus an der Uni gibt und genau das wollte ich Euch damit sagen. DANKE.

Stephanie Otto

Zu "Die Letzte: 10 Jahre ruprecht" in Nr. 50:

"10 Jahre ruprecht! Prominente gratulieren" - einfach phantastisch!

anonymus


Personals

Ganz ernst gemeint

gan! Bei diesem Hundeblick kann ich nicht nein sagen. - sv
Espana! Ich freu mich schon auf Weihnachten. - Der Heidelberger
kh! Das geht ganz schnell! - hn
hn! Ja, ja, sagen Männer immer. - kh
PC! Ey,Rüttgers ist ein Hurenkind! - Die LayouterInnen
Haserl! Das Erdbeer in der Mitte ist die Macht! Fürst Pückler
gan und papa! Ich hab' die Wette doch verloren ... - kebi
Weihnachtsmarkt! Du schuldest mir noch eine Runde Glühwein! - gan
hch! Mal wieder Muße mit der Muse vom Schlaraffenland? - kebi
Zio! Scusa per la finesettimana del compleanno. La prossima volta... non estiste! - La zia


Termine

Seid dabei

12.12.: Kabarett "Die Spöttlichen" im Studihaus, 20.00 Uhr

24.1.1998: Tag der Offenen Tür, im gesamten Neuenheimer Feld

17. + 19. - 21.12.97: "Honigmond" im Romanischen Keller; Vorverkauf 784573


Impressum

Wer wir sind

ruprecht, die Heidelberger Student(inn)en Zeitung, erscheint drei Mal im Semester, jeweils Anfang Mai, Juni, und Juli, bzw. November, Dezember und Februar. Die Redaktion versteht ruprecht als unabhängiges Organ, das keiner Gruppierung oder Weltanschauung verpflichtet ist. MitarbeiterInnen und RedakteurInnen sind willkommen; die Redaktion trifft sich während des Semesters jeden Montag um 20 Uhr im Haus der Fachschaften in der Lauerstr. 1, 3. Stock. Für namentlich gekennzeichnete Artikel übernimmt der/die AutorIn die Verantwortung.

V.i.S.d.P.: Patrick Palmer, Große Mantelgasse 5, 69117 Heidelberg

Redaktionsadresse: ruprecht, Lauerstr.1, 69117 Heidelberg, Tel./Fax 06221/542458

E-Mail: ruprecht@urz.uni-heidelberg.de

Druck: Caro-Druck, Kasseler Straße 1a, 60486 Frankfurt

Auflage: 12.000

Graphiken: jr, papa

Die Redaktion: Verena Bopp (vb), Katharina Hausmann (kh), Kerstin Hilt (kebi), Gabriel Neumann (gan), Harald Nikolaus (hn), Patrick Palmer (papa), Jannis Radeleff (jr), Klaus Werle, sic! (kw), Bernd Wilhelm (bw), Melanie Ziegler (mz), Gundula Zilm (gz)

Freie Mitarbeiter(innen): John Philipp Baesler (jba), Christian Collet (col), Wolfram Eilenberger (eile), Marc Goergen (mg), Martina Imkeller (mi), Carola Leube (cl), Marcus Müller (mm), Katrin Osterkamp (ko), Martin Pilaski, Kristin Schneider (krs), Sandra Thoms (st), Stephanie Vetter (sv), Stefanie Wegener (stw)

Red.-Schluß für Nr. 52: 26.1.1998

ISSN: 0947-9570

ruprecht im Internet:

http://ruprecht.fsk.uni-heidelberg.de


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