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Streik


Aktiv

Streik macht Spaß

Phantasie! Ideen! Initiative! Wer in den letzten Wochen in der Hauptstraße seine Weihnachtseinkäufe erledigen wollte, stolperte an jedem zweiten Kaufhaus über lachende, lärmige, und irgendwie auch protestierende Studis.

Die Frage "Was machet Sie denn do?" leitete häufig einen Zusammenprall sonst streng nebeneinander lebender Kulturen - Heidelberger Eingeborene und "Schtudendebagg" - ein, dem ein freundlicher Meinungsaustausch folgte und ein bißchen zum Vorurteilsabbau beisteuerte. Meistens jedenfalls. Aufmerksamkeit gewinnen ist das höchste Gebot dieses Protestes. Man will die Erfahrungen der 60er Jahre nutzen: ausgebrannte Springer-Busse und Diskussionen über die Berechtigung nichtstaatlicher Gewalt sind zwar medienwirksam, erhöhen aber nicht unbedingt den Rückhalt in der Bevölkerung. Dementsprechend mühten sich Fachschaften und Arbeitskreise ab, ihre Demos und Aktionen so zu gestalten, daß auch durch die Medien Unterstützung finden.

Die Sportler veranstalteten als Bürgerschreck in Jogginghosen am Montag vergangener Woche einen Staffellauf durch die Hauptstraße - den ganzen Tag lang. Es gab sogar einige mit besonders viel Puste, die im Chor dazu sangen... Etwas weniger an die Substanz ging die Psychoberatung, die auf dem Bunsenplatz in bequemen Stühlen für Passanten angeboten wurde. Einen kulturellen Höhepunkt setzte am 3. Dezember die Fachschaft Germanistik mit einer Faust-Inszenierung - natürlich umgedichtet auf die Studiproteste. Den Eindruck babylonischen Literaturvergnügnens hatte schon tags zuvor die Lesekette am 2. Dezember gemacht - vom Bismarckplatz bis zum Café Villa standen alle Meter Studies und lasen vor - Wondratschek, Roth, Molière.
Hausaufgabenhilfe für Schüler, die sich schon mal daran gewöhnen sollen, nichts mehr zu lernen, Lichterketten, die für Bildung und gegen die ausgehenden Lichter an der Uni stehen, Brillenputzen "für guten Durchblick" - wäre der Protest ein Kreativwettbewerb, würden die Streikenden lauter erste Preise gewinnen. Bleibt zu hoffen, daß die Botschaft auch ankommt. (gan)


Abschied von Ho Chi Minh

Warum, wann und wie Studierende protestieren

Studierende sind eine Naturkatastrophe. Im Normalfall sind sie ruhig; ab und zu beginnen sie, längere Zeit unbemerkt vor sich hinzubrodeln und stauen ihre Energien langsam an, bis sie schließlich losbrechen - wie der Vesuv oder das Kobe-Erdbeben.
Für Soziologen ist die derzeitige Protestbewegung an den Hochschulen ein ganz natürliches Phänomen, nichts anderes eben als ein Erdbeben oder Herzinfarkt. Doch wie kommt es, daß gerade jetzt, ohne erkennbaren Anlaß, eine solche Welle an Protest losgetreten wurde und sich wie ein Lauffeuer in ganz Deutschland ausgebreitet hat?

Eigentlich kommt der Streik ein Jahr zu spät, jedenfalls in Baden-Württemberg. Als damals die Einschreibegebühren eingeführt wurden und die Wellen der Empörung hochschlugen, versuchten die Studierenden zwar, mit der Treuhand-Aktion den Beschluß noch abzuwenden, doch dies schlug mangels Beteiligung fehl. Desillusioniert fügte man sich in sein Schicksal, und der ursprünglich für das Sommersemester anberaumte Streik erstarb, bevor er überhaupt geboren war.

Den Hessen jedoch war eine solche Desillusionierung erspart geblieben. Als zu Beginn dieses Semesters in Gießen über 600 Teilnehmer in ein Pflichtseminar strömten und alle Erstsemester hinausgeschickt wurden, empfand man dies als provokative Ungerechtigkeit. Spontan wurde eine Vollversammlung einberufen, auf der am 29. Oktober der bundesweit erste Streik beschlossen wurde.

Mit dieser hübschen Anekdote erklärt sich das plötzliche Aufbegehren der Studierenden ganz bequem - allerdings nicht ganz zurecht: Denn ein konkreter Anlaß, der die verzweifelten Menschen endlich zum Handeln treibt, ist gar nicht nötig, meint zumindest die Wissenschaft. "Die Voraussetzungen für einen Protest", erklärt der Diplom-Psychologe und wissenschaftliche Angestellte der Universität Heidelberg, Peter Freytag, "sind folgende drei: ein Ungerechtigkeitsempfinden, die Identifikation mit einer Gruppe, die gegen etwas ankämpfen will, und das Gefühl, auch tatsächlich etwas bewirken zu können. Und gerade im letzten Punkt hat man jetzt offene Türen eingerannt und scheinbar zur richtigen Zeit das Richtige getan." Vor einem Jahr war man in Heidelberg noch nicht davon überzeugt. Die Soziologen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Die "Arbeitsgruppe Hochschulforschung" an der Universität Konstanz beschäftigt sich schon seit Beginn der 80er Jahre mit dem Phänomen des studentischen Protestes. Sein Leiter Tino Ernst Bargel nennt als Voraussetzung eine latente Unzufriedenheit, die sich gegen einen öffentlich regulierten Bereich wendet - in diesem Fall also die Hochschule - und dem eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Mit der aufkommenden Diskussion um Studiengebühren war eine Protestbewegung vorhersehbar - wenn auch nicht deren Zeitpunkt. Im Gegensatz zu den Psychologen sehen die Soziologen allerdings keine Notwendigkeit in dem Gefühl, auch wirklich etwas bewirken zu können. "Die Erfolgschancen sind derzeit nicht klar, und doch wird protestiert, quasi aus Trotz", erläutert Bargel.

Einig sind sich beide Disziplinen jedoch darin, daß die platte - materielle - Not die Studierenden zum Widerstand bewegt und kein politisches oder gar ideologisches Bewußtsein dahinter stehen muß. Die am eigenen Leib spürbaren Mißstände treiben die Studierenden auf die Straße; erst dann entwickelt sich aus den diffusen Protesten ein politisches Bewußtsein, und es wird für etwas gekämpft, statt wie bisher nur gegen etwas anzurennen. Wichtig für den weiteren Kampf ist, daß dann bestimmte Ziele festgelegt werden. In Heidelberg war man beim Koordinieren relativ schnell, was größtenteils an der Vorarbeit der Treuhand-Aktion liegt, die ein funktionierendes Netzwerk hinterließ.

Die Protest- und Gewaltbereitschaft stieg im letzten Jahrzehnt, nach bewegten 60er und 70er Jahren, vom vorläufigen Tiefpunkt zwar wieder etwas, aber eine Radikalisierung der jetzigen Bewegung ist äußerst unwahrscheinlich. Die 68er waren nicht nur in ihrem Vorgehen radikaler, sondern in ihren Forderungen auch weitgehender, eben ideologischer: Während heute für mehr Geld demonstriert wird, warfen die 68er für Ho Chi Minh Steine. In der Gewaltfreiheit sieht Freytag einen Vorteil, da mehr Macht auf die Regierung ausgeübt werden kann.

Anläßlich des Streiks hat Freytag zu Beginn letzter Woche kurzerhand eine Umfrage über das Protestverhalten durchgeführt. Die Mehrheit der Befragten - leider nur Studierende aus der Altstadt, besonders Psychologen, VWLer, Politologen und Germanisten - konnte sich mit den Streikenden und deren Motiven gut identifizieren; eher überraschend ist, daß bei den Protesten kaum Rücksicht auf persönliche Nachteile, z.B. Scheinverlust, genommen wird. Dies scheint der Schlüssel zur hohen Beteiligung zu sein, denn erst, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis zugunsten der Aktionen ausfällt und einem der Schein egal ist, wird tatsächlich gestreikt. Umso erstaunlicher sind diese Ergebnisse, als gerade die Ökonomen neben den Juristen zu der Grupppe mit dem geringsten Protestpotential gehören. Die Sozialwissenschaftler hingegen, die von den Geisteswissenschaftlern und den Medizinern langsam den Rang abgelaufen bekommen, werfen am ehesten mit Steinen - oder besetzen wenigstens Institute.

Gerade dieses Mittel des Protestes scheint jedoch weniger Anhänger zu finden als zum Beispiel das Demonstrieren oder die Teilnahme an Veranstaltungen in Bahnhöfen und Bussen, ergab Freytags Umfrage. Allerdings bedarf es mehr Überwindung, sich zu einer unbequemen Nacht in einem zugigen Gebäude aufzuraffen, als an einer gemütlichen Straßenbahnfahrt teilzunehmen. Allgemein gilt die Regel: Je radikaler die Methode, desto geringer die Teilnahmebereitschaft. Was vor dreißig Jahren noch als studentische Pflichtübung galt, ist heute eben nicht mehr gesellschaftstauglich. (gz)


Die Vorlesungsnacht

Stimmungsbericht von einer Nacht im Streikbus auf dem Bahnhofsplatz

Nachts friert es. Fast die ganze Zeit fallen winzige Eiskristalle vom Himmel. Ein kaltlähmender Wind weht leise durch die Kleider und Glieder der Menschen: nicht gerade ein Grund, sich draußen aufzuhalten, anstatt am heimelich bullernden Ofen der Studentenbude die Sorgen hinwegzuwärmen.

Doch am Hauptbahnhof steht ein Grüppchen frierender Gestalten um einen Bus herum. Ein merkwürdiger Anblick: ein Glühweinstand ohne Glühwein, statt dessen gibt es Kaffee und Gebäck, viel Gelächter und einige lautsprecherverstärkte Wortfetzen, die von chemischen Verbindungen erzählen. Mittendrin der Bus, augenscheinlich der Ursprung der Vorlesungstöne. Das Vehikel steht da wie ein seit langem gestrandetes Hausboot: Plakate hängen rundherum, die beschlagenen Fenster und das warme Licht dahinter vermitteln Geborgenheit, und wie ein Steuermann, der noch immer auf die Erlaubnis seines Käpt'ns wartet, endlich seinen Posten verlassen zu dürfen, sitzt der Busfahrer hinter seinem Lenkrad und sieht sehr, sehr gelangweilt aus.

Vorlesungs-Marathon! Vom 3. bis zum 4.12. fast achtundvierzig Stunden Wissen in sich aufsaugen, verarbeiten. Und die Aktion als Ganzes soll auffallen - denen, die sonst keinen Blick in überfüllte oder schlecht ausgerüstete Hörsäle werfen.

Als die letzte Straßenbahn am Hauptbahnhof eintrifft, ist der Strom der "arbeitenden Bevölkerung" schon lange verebbt. Doch das Grüppchen am Bus läßt sich nicht beirren: Ein Vortrag endet, ein neuer beginnt. Thema jetzt: das Altern, aus biochemischer Sicht. Oder ist es Philosophie? Der Referent könnte bald das Mikro beiseite legen, so still wird es innen. Doch dann könnten die, die wegen Platzmangels oder des lieben Nikotins draußen bleiben, nichts hören. Plötzlich, es ist schon nach zwei, ist es sehr voll geworden, und man kann sich glücklich schätzen, hat man einen Sitzplatz ergattert.

Am Ende des Vortrags Applaus. Der Referent geht auf einen Glühwein hinaus. Vor dem Tisch mit dem warmen Gesöff Unklarheit: Wer liest jetzt?, fragt ein Mädchen ihren Nachbarn. Der rät ihr, den Organisator zu suchen. Das bin ich, antwortet sie. Da kommt schon die Nachricht, daß es weitergeht. Geologie. Flüssige Einschlüsse in Gesteinen. Oder so. Der Bus wird schnell wieder voll.

Während der Dozent, ein holländischer Gast, sein Thema vorträgt, wird die Gruppe vor dem Bus immer größer: Die letzten Kneipen haben geschlossen, der Vorlesungsbus ist die richtige Fortsetzung für einen außergewöhnlichen Abend - der Bus bleibt voll. Da sieht man, was gute Studienbedingungen (Standheizung) zuwege bringen.

Nach dem Referat erobern einige das herrenlose Mikro und beginnen Gedichte vorzulesen: Spontaneität oder Alkohol? Draußen wird gelacht - ein paar Sätze bleiben hängen, glimmen kurz und verschwinden dann zwischen entlegenen Hirnlappen.

Nach vier, fünf Texten ist Schluß - Beifall und Pfiffe quittieren die Darbietung. Dann wieder ein Vortrag, der letzte: "Lebt die Erde?" Der Dozent hat alles mitgebracht, von Overheadfolien bis zu kopfgroßen Gesteinsbrocken. Die "Passagiere" im Bus drängen sich um die Plätze, von denen aus die Projektionsleinwand draußen zu sehen ist. Um den Bus wogt inzwischen ein kleines Fest - trotz der Kälte. Oder auch wegen ihr.

Als es gerade um Magma geht und Erdplattenverschiebung, unterbricht ein starke Stimme. Ein Polizist bittet zunächst um Gehör, dann um Ruhe: Leute im Hotel gegenüber hätten sich beschwert, es sei schon halb vier, man könne nicht schlafen. Wir drehen die Lautsprecher leiser und geloben Besserung, allein der Beamte bleibt skeptisch. Schließlich gibt er nach: ob wir die leisegestellten Lautsprecher auch so belassen würden - bei der Kälte wolle er nicht ein zweites Mal 'raus. Und ist verschwunden. Das Magma kann weiterströmen.

Irgendwie ist es den Hörern des Marathons dabei wieder etwas wärmer geworden. Der Protest wirkt wie Lava - eine Nacht Vorlesungsmarathon macht Mut. Die Befürchtung, die Kälte könnte den Protest einfrieren, hat sich nicht bewahrheitet. (gan)


Streik-Chronik

29.10. Universität Gießen beschließt den Streik, Unterstützung des Unipräsidenten Heinz Bauer

10.11 Universität Marburg beschließt den Streik

13.11 Universität Frankfurt/M. beschließt den aktiven Streik

17.11. weitere Hochschulen schließen sich den Protesten an, die Streikwelle geht über Hessen hinaus

25.11. Demo in Frankfurt/M. mit 10.000 Studis; keine Aufstockung des Bonner Bildungsetats, lediglich ein Notprogramm für Uni-Bibliotheken

26.11. mehr als dreißig Bildungseinrichtungen streiken bundesweit, darunter mehrere hessische Gesamtschulen; Bundeskanzler Helmut Kohl versichert seine "Unterstützung" der Proteste, die Bundesregierung habe allerdings ihre Verantwortung in der Bildungspolitik wahrgenommen

27.11. 40.000 Studis bei bundesweiter Demo in Bonn

01.12. 60 Hochschulen an den Protesten beteiligt mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen und Bayern; Beginn einer bundesweiten Aktionswoche; Jürgen Rüttgers will die Hochschulen in Zukunft von weiteren Haushaltskürzungen aussparen, angesichts der Gesamtsituation kann er keine zusätzlichen Mittel in größerem Umfang versprechen; erste Anzeichen für ein Streikende an hessischen Hochschulen (FH Gießen)

03.12. bis zum 10.12. müssen die Länder eine Einigung über die BAföG-Reform vorlegen, sonst nimmt der Bundeskanzler das Thema von der Tagesordnung des Gipfelgesprächs mit den Ministerpräsidenten am 18.12.; Ultimatum des Senats der Uni Frankfurt/M. für die Streikenden: wenn der Lehrbetrieb nicht bis zum 09.12. wieder aufgenommen wird, ist die Anerkennung des laufenden Semsters nicht gewährleistet

04.12. mehr als 100.000 Studis auf mehreren Großdemos bundesweit; Peter Grottian, Berliner Politologe: "Es steht jetzt auf der Kippe - der Protest ist möglicherweise zu zahm."

05.12. 500.000 - 700.000 Studis an etwa 100 deutschen Hochschulen beteiligen sich an den Protesten; Treffen von Studis aus ganz Deutschland in Bonn, um am Wochenende über weitere Aktionen zu beraten; 5000 Schüler demonstrieren in Frankfurt/M. gegen die Bildungsmisere (kh)


Meinung: Pfeifen allein genügt nicht

von Gundula Zilm

Schön, daß die Studierenden endlich gegen die langjährige Politik des Kaputtsparens aufbegehren - darüber freuen sich sogar die angegriffenen Politiker und setzen beim Anblick einer Kamera sofort ihr mitleidig gönnerhaftes "Ich-verstehe-euch"-Lächeln auf. Schließlich sind es nur noch zehn Monate bis zur Bundestagswahl. Nicht weniger herablassend schaut die Presse auf die studentischen "Kuscheltiere", die allerorts zwar kreativ, aber brav und friedlich protestieren. Zum revolutionären Bürgerschreck taugen sie wahrlich nicht; auch nicht die Besetzer der Neuen Universität, deren Sorgen sich eher um den Kaffee- und Kuchennachschub als um einen gesellschaftlichen Umsturz drehen. Yuppie und Autonomer wischen Hand in Hand den Boden auf und hängen bunte Luftballons neben hübsche Plakate ins Foyer. Sogar brave Bürger verirren sich vom Weihnachtsmarkt ab und zu in das besetzte Gebäude und bekunden spontan ihre Solidarität.

Der Rückhalt in der Bevölkerung, die mit vielen phantasievollen Aktionen gewonnen wurde, ist sehr groß; nicht eine kleine außerparlamentarische Minderheit begehrt dort auf, sondern ein Teil der Bevölkerung, viel heterogener und selbstbewußter, als es die Alt-68er wahrhaben wollen. Nicht einmal die Besetzer der Neuen Uni lassen sich in das Format des autonomen, linksradikalen Gesellschaftsumstürzlers pressen, geschweige denn die große Mehrheit der Protestierenden. Sind fliegende Pflastersteine und Straßenschlachten mit der Polizei, wonach die Medien gieren, wirklich nötig? Und wie sollen diese Bilder auf die Titelseiten der Zeitungen kommen, wenn sich sogar die Polizei mit den Besetzern solidarisch erklärt hat? Unsere Gesellschaft ist schon lange über die verkrusteten Strukturen von '68 hinaus, und die meisten Studierenden scheinen schlauer als die spottenden Chefredakteure zu sein: Sie wissen, daß sie mit weniger radikalen Methoden mehr erreichen, da die große Masse hinter ihnen steht und sie von der Politik ernst genommen werden. Dies ist ihre derzeitige Stärke, und auch die vielen falschen Solidaritätsbekundungen, mit denen die Politiker derzeit die Bildschirme honigsüß überziehen, sollten nicht von der jetzigen Strategie abbringen. Langfristig sind die Erfolgschancen des gemäßigten, aber beharrlichen Protests größer, denn spätestens zur nächsten Wahl bekommen die Parteien die Rechnung für ihre bisherige Poltitik und werden zum Umdenken gezwungen. Auf die Schnelle kann man sowieso nicht mehr als eine kleine Finanzspritze erwarten, die den Hochschulen auf lange Sicht wenig hilft.

Viele Studierende entdecken erst jetzt, durch die Protestwelle zum Nachdenken angestoßen, die Politik. Ein schöner Nebeneffekt wäre es schon, wenn sich das derzeit in vielen Köpfen bildende politische Bewußtsein auf die nächsten Hochschulwahlen auswirkte; bisher lagen die Wahlstuben stets verlassen wie Klassenzimmer am Heiligabend da. Die eingetretene Politisierung, die der jungen Generation stets abgesprochen wurde, sollte man auf alle Fälle ausnutzen und die Proteste solange fortführen, bis sich die Politik handlungsbereit zeigt. Zwischendurch darf ruhig mal pausiert werden - wie es die Gießener schon tun -, um den Parteien Gelegenheit zum Nachdenken zu geben; falls diese jedoch drohen, in ihre alte Lethargie zurückzufallen, sollten sie schnell wieder auf ihre Posten zurückgepfiffen werden.

Mit der Trillerpfeife mehr Geld und Demokratie einzufordern, genügt allerdings nicht. Wer wirkliche Reformen will, muß sich von der Behäbigkeit der Hochschule verabschieden - Lernende ebenso wie Lehrende. Wieso Konkurrenz und eine leistungsorientierte Finanzierung von Forschung und Lehre von einer Mehrheit der Studierenden abgelehnt werden - wie bei der Vollversammlung letzten Mittwoch geschehen -, bleibt unverständlich; diese Rolle dürfte doch wohl eher den im sicheren Schoß der Hochschule sitzenden verbeamteten Professoren zukommen? Auch über Zulassungsbeschränkungen muß nachgedacht werden, wenn sich knapp die doppelte Menge Hochschüler auf den vorhandenen Studienplätzen drängeln. Wieso wird von Eliteuniversität und Auslese gesprochen, wenn von den inzwischen 36 Prozent Abiturienten eines Jahrgangs nur ein Teil die Hochschule besuchen soll, nicht aber, wenn nur fünf Prozent das Abitur und damit den Hochschulzugang schaffen, wie früher? Ein nach hinten verlagertes Sieben bedeutet keine stärkere Auslese. Gründlich ausgearbeitete und kontrollierte Auswahlverfahren können auch eine Chance bedeuten, und zwar für diejenigen, die bei einem reinen NC, der wenig über die Studierfähigkeit für ein bestimmtes Fach aussagt, niemals den gewünschten Studienplatz bekämen.

Auf kürzere Studienzeiten pochen nicht nur die Wirtschaft und die Professoren, sondern auch die wenigsten Studierenden wollen ewig an der Alma mater bleiben. Stärker strukturierte und entrümpelte Lehrpläne sind ein Weg zu diesem Ziel; ist nicht auch das oft geschmähte "Credit-Point-System" ein Vorteil für die Studierenden? Wer bekommt keine Panikattacken vor der Abschlußprüfung, bei der es um Alles oder Nichts geht, statt mit einem satten Scheinepolster und der Gewißheit, daß man den Abschluß damit schon fast in der Tasche hat, locker - und oft wohl auch schneller - ins Examen zu gehen?

Die jetzt stattfindenden Proteste sind lange überfällig gewesen und dringend nötig. Was noch fehlt, ist mehr Flexibilität und die Bereitschaft zu wahren Reformen; auch wenn man damit hinter dem warmen Ofen hervorkommen und sich in die Kälte der unwirschen Realität begeben muß.


Hier sind unsere Profs!

Was Heidelberger Dozenten vom Streik halten

Wer sich während des Streiks gefragt hat, auf welcher Seite sein Lieblingsprofessor steht, kann es hier vielleicht nachlesen. ruprecht-Mitarbeiter schwärmten aus und befragten Heidelberger Dozenten, wie sie zu den Forderungen der Studierenden und zu deren Methoden stehen: Unterstützen sie den Schrei nach mehr Geld, mehr BAföG und einem Verbot von Studiengebühren? Sind sie gar für stärkere studentische Mitbestimmung in den Uni-Gremien? Was halten die Befragten vom Hochschulrahmengesetz (HRG)? Wie stehen sie zu der Art der Proteste, zu Besetzung und Streik?

Prof. Dr. Klaus von Beyme (Institut für Politische Wissenschaft)

Professor von Beyme hat "nichts dagegen, wenn der Eurofighter nicht kommt." Das eingesparte Geld könnte für die Sanierung der Hochschulen verwendet werden. Weniger Verständnis zeigt er dagegen für die Forderungen, Studiengebühren generell zu verbieten: Es sei "unsolidarisch", wenn Studierende ihren Beitrag zur Gemeinschaft nicht leisten wollten. Allerdings sollten diejenigen, die diese Gebühren nicht aufbringen könnten, vom Staat unterstützt werden, etwa durch Stipendien.
Bei der Frage nach studentischer Mitbestimmung plädiert Professor von Beyme "auf jeden Fall" für eine Demokratisierung der Hochschule und stuft eine Art Studentengewerkschaft oder eine verfaße Studentenschaft als "wünschenswert" ein.
Von der angestrebten Kürzung des BAföGs hält der Professor nichts. Die studentischen Protestaktionen finden bei ihm Unterstützung, solange sie nicht in "Nötigung und Rempeleien" ausarten. Aktionen, bei denen Studenten mit Gewalt von ihren Hörsälen abgehalten werden sollen, hält er für problematisch; vielmehr sollte um die Zögerer "geworben werden". Alternativ-Seminare außerhalb des Hörsaals findet Herr von Beyme "fabelhaft", auch wenn er selbst aus gesundheitlichen Gründen davon absieht. (cl)

Prof. Willi Birkenmaier (Institut für Übersetzen und Dolmetschen/Russische Abteilung)

Soweit es die russische Abteilung des IÜD angeht, fühlt sich Professor Birkenmaier vom Streik nicht betroffen. In seiner Abteilung herrschten keinerlei Mißstände. Ebenso sei eine stärkere studentische Mitbestimmung nicht notwendig,da es die geringe Größe der Abteilung möglich mache, anfallende Probleme auszudiskutieren. Herr Birkenmaier spricht sich für Studiengebühren aus; die Uni brauche Geld. Im Gegenzug müßte aber mehr Hilfe für finanziell schwächere Studierende geschaffen werden. Ausdrücklich begrüßt Professor Birkenmaier die gewählten Streikmethoden, da so die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam werde. Eine Schließung der Uni während des Streiks hält Professor Birkenmaier für einen großen Fehler. (st)

Prof. Dr. Bubner (Philosophisches Seminar)

Professor Bubner begrüßt die Aktionen der Studenten für eine Verbesserung der Situation grundsätzlich, meint aber, daß ein Streik nur etwas nütze, wenn er jemandem wirtschaftich schade. Hier könne es lediglich darum gehen, eine Öffentlichkeit zu erreichen. Professor Bubner sieht das Grundproblem darin, daß Bildungspolitik ein Teil der Sozialpolitik geworden sei. Das Abitur habe längst seine ursprüngliche Bedeutung verloren, im Grunde könne jeder alles studieren. Zudem seien die Studenten in der Massenuniversität heute oft isoliert, es fehle der Ansporn durch die Zusammenarbeit mit Kommilitonen. Wer mehr Marktmechanismen fordere, so Professor Bubner, müsse die amerikanischen Verhältnisse ansehen. Dort sei der Wettbewerb so hart, daß die Eltern oft von Geburt an für das Studium ihrer Kinder sparen müßten. Und als Wissenschaftler müsse man sich dabei vor allem gut verkaufen können. (jba)

Prof. Werner Giesselmann (Historisches Seminar)

Professor Giesselmann begrüßt die Protestaktionen. Allerdings bemerke er einen Widerspruch zwischen dem Bild des aktiven Vollstreiks, das die Medien von den Protesten wiedergeben, und den weiterhin vollen Vorlesungen des Historischen Seminars - hier hätte er eine noch stärkere Bereitschaft der Studierenden zum Boykott erwartet. Die Diskussion um Studiengebühren führt Professor Giesselmann auf "standortbedingte Wahrnehmungsstörungen" der Befürworter zurück. Aus Sicht der Studierenden seien 1000 Mark pro Semester "kein Pappenstiel", sondern eine bedeutende zusätzliche Belastung. Von Aufnahmeprüfungen bei Studienbeginn hält Professor Giesselmann gar nichts. Jeder, der ein Studium angehe, blicke schon auf die Erfahrungen eines langen Bildungsweges zurück und könne daher am besten selbst seine Eignung zu einem Studiengang beurteilen. Eine vielleicht 15minütigeAufnahmeprüfung liefere dagegen nur ein Zerrbild. Im Zuge der Kompetenz- und Autonomieerweiterung der Hochschulen im HRG hält Professor Giesselmann eine verstärkte Mitbestimmung der Studierenden für notwendig: Universitäten, die nach außen hin unabhängiger sind, seien verpflichtet, die interne Demokratisierung im gleichen Maße voranzutreiben. (gan)

Prof. Dr. Reinhard Mußgnug (Juristisches Seminar)

Angesprochen auf seine Haltung zu den Studierendenprotesten, befürwortet Professor Mußgnug die kritische Auseinandersetzung mit den Problemen des Hochschulsystems. Schwierigkeiten machten die Mittelkürzungen, sowie die ähnlichen Aufgabenbereiche von Universitäten und Fachhochschulen - sinnvoll seien zwei Hochschulreformen nur, wenn ihre Zielsetzungen klar abgegrenzt blieben. Professor Mußgnug erwartet für die Struktur der Hochschulen durch das HRG kaum wesentliche Änderungen. Der Diskussion um eine verstärkte Demokratisierung der Hochschulen, beispielsweise durch ein erweitertes Mitspracherecht der Studierendenschaft, will er sich nicht anschließen. Wichtig ist ihm trotzdem der verstärkte Meinungsaustausch zwischen Studierenden und Lehrkörper. Professor Mußgnug begrüßt die Form des Protestes am juristischen Seminar, die auf dem Gespräch von Professoren und Studierenden begründet sei. Allerdingshält er die anderorts praktizierte Form des Protestes für übertrieben: "Das Geschrei und die Trillerpfeifen sind mir zuwider. Geistiges Klima braucht Ambiente." Er setzt stattdessen aufdie Initiative der Professoren zur Verbesserung der Bedingungen an den Universitäten - so habe eine von ihm initiierte Annoncenaktion im Dezember letzten Jahres im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsministerium zum Erfolg geführt. Im Gegensatz dazu blickt er skeptisch auf Aktionen wie Vorlesungen in Straßenbahnen und im Hauptbahnhof: "Bei Leuten, die nicht wissen, wieviel Arbeit hinter einer Vorlesung steckt, macht das den Eindruck, wir würden unsere Zeit verschwenden." (gan)

PD Dr. Peter Schlotter (Institut für Politische Wissenschaft)

Dr. Schlotter hält die studentische Forderung nach mehr Geld für notwendig, doch "liegt hier nicht das Hauptproblem". Vielmehr seien die Unis in der jetzigen Form nicht mehr gesellschaftlich passend, die Ausbildung gehe an den Bedürfnissen vorbei. Sein Vorschlag: kürzere Studiengänge, die berufsspezifischer ausbilden. Zu der Frage nach Studiengebühren ist Dr. Schlotter kein grundsätzliches "Nein" zu entlocken, doch hält er es für sehr wichtig, daß damit nicht eine soziale Auswahl getroffen wird. Für sinnvoll hält er ein am australischen Modell orientiertes Finanzierungskonzept - der Staat zahlt den Studenten die Studiengebühren in Form eines zinslosen Darlehens, und wenn sie später im Berufsleben eine bestimmte Einkommensgrenze überschreiten, müssen sie den Betrag zurückzahlen. Laut Dr. Schlotter ist studentische Mitbestimmung generell natürlich sinnvoll, die Praxis hat das jedoch auch oft widerlegt. "In Hessen haben die Studenten ein weitaus größeres Mitspracherecht als in Baden-Württemberg, und doch sind die Problem dort nicht besser gelöst als hier." Dr. Schlotter hält die jetzige Form des Heidelberger Protests für vollkommen in Ordnung. Wichtig ist ihm, daß es zu keiner Gewalt gegen Personen oder Sachen kommt. (mg)

Prof. Dr. Christoph Schmidt (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät)

Mit den Studentenprotesten ist Professor Schmidt "vollkommen d'accord", die Aktionen seien allgemein sehr konstruktiv. Er warnt allerdings davor, zu viel und zu Unterschiedliches zu fordern: "Eine Initiative wird konterkariert, wenn man aus allen möglichen issues ein Paket von Forderungen schnürt, das dann von keiner Mehrheit mehr getragen werden kann." Auch er findet, daß die zur Zeit durchgeführten Kürzungen am Bildungsetat zu weit gehen. Eine prinzipielles Verbot von Studiengebühren zu fordern, lehnt er ab, da "Gebühren, verknüpft mit abfedernden Instrumenten wie Stipendien, die nach Leistung vergeben werden, durchaus ein sinnvolles Instrument sein" könnten. Die Möglichkeiten studentischer Mitbestimmung sieht er im Moment ausreichend gewährleistet und findet daher eine "pauschale Forderung" nach mehr Einfluß überzogen. Zur BAföG-Frage meint er , daß eine bezahlbare Studienförderung in Zukunft Hand in Hand gehen müsse mit einer Studienzeitverkürzung durch Leistungsanreize. (kh)

Prof. Dr. Eva Terberger (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät)

Auch Professor Terberger hält den Streik für "eine gute Sache": "Ich empfinde ihn nicht als Protest gegen, sondern für die Hochschule." Bei den Forderungen mangele es jedoch zum Teil an Konkretisierung; so sei zum Beispiel die pauschale Ablehnung von Studiengebühren wenig reflektiert. An anderer Stelle werde nicht diskutiert, ob nicht ein Stipendiensystem gegenüber pauschaler Förderung auch Vorteile haben könnte. Bei aller Freude über das Engagement der Studenten wundert sich Frau Terberger über den späten Zeitpunkt des Streiks, da in Baden-Württemberg die wichtigsten Entscheidungen (Stichwort Solidarpakt) "schon gelaufen" seien. Zu den Forderungen nach stärkerer studentischer Mitbestimmung meint sie, daß solche Forderungen eigentlich erst erhoben werden sollten, wenn die vorhandenen Möglichkeiten wirklich genutzt würden. Zur Zeit ruhe jedoch die FSK-Arbeit "auf den Schultern weniger, bei vielen Studenten scheint kein Interesse dafür vorhanden zu sein". Zur BAföG-Frage sagt sie, sie könne sich ein kombiniertes "System aus Stipendien und anderen Förderungsmöglichkeiten" vorstellen. (kh)

Prof. Dr. Michael Ursinus (Geschäftsführer des Seminars für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients; Fachvertreter für Islamwissenschaften/Osmanistik)

Professor Ursinus begrüßt den Streik als Anstoß für eine längst überfällige Debatte über die Zukunft der deutschen Hochschulen. Schließlich säßen Studierende und Lehrende im gleichen Boot und sollten sich nicht auseinanderdividieren lassen. Würden Seminare in seinem Fachbereich wegen des Streiks nicht besucht, werde dies nicht den Verlust der Scheinberechtigung nach sich ziehen. Die Forderungen der Studierenden kann er ebenso unterstützen, nur in der Frage der studentischen Mitbestimmung sieht er keinen Handlungsbedarf: Wichtiger als eine institutionell abgesicherte Mitbestimmung sei die inhaltliche Mitarbeit der Studenten, und die bewege sich schon im Moment auf sehr hohem Niveau - so seien z.B. die einzelnen Fachschaften über die Vorhaben der Landes-Strukturkommission oft besser informiert gewesen als das Rektorat. Einige Vorteile des angloamerikanischen Uni-Systems, das er als Professor in Birmingham selbst kennenlernen konnte, würde er allerdings gerne aufDeutschland übertragen, so z.B. die intensive Betreuung der Studierenden. Im Moment warnt er jedoch vor einer allzu raschen Angleichung an jenes System, da dessen deutsche Befürworter mit einem solchen "Umbau" eigentlich den "Abbau" ansteuerten: Mit dem Ruf nach Studiengebühren wolle sich das Land aus seiner finanziellen Verantwortung stehlen, die geplante Einführung des Bachelor-Abschlusses solle lediglich die "Durchlaufgeschwindigkeit" der Studierenden erhöhen und so mehr Studienplätze schaffen. Der Bachelor-Abschluß leiste aber einer "Verschulung" des Studiums weiter Vorschub und qualifiziere deshalb nicht ausreichend für die vielfältigen Anforderungen des Arbeitsmarkts: Dort sei nicht kanonisiertes Wissen gefragt, sondern "konstruktives Denken über komplexe Tatsachen" - eine Schlüsselqualifikation, die die deutschen Unis immer noch am besten vermittelten. Durch Studiengebühren drohe zudem die Gefahr einer "sozialen Selektion" und einer Verschlechterung der Uni-Qualität: Nicht die begabtesten Studenten bekämen einen Studienplatz, sondern die finanzkräftigsten. (kebi)

Mehr Professorenmeinungen gibt's auch im Internet bei ruprecht aktuell auf: "http://ruprecht.fsk.uni-heidelberg.de/aktuell/index.htm", unter: "Wo stehn die Profs? Was Heidelberger Gelehrte über den Aufruhr denken".

Redaktion: gan, kw, vb


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