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27.12.2009

Ein chilenischer Berlusconi?

Multimillionär Sebastián Piñera will chilenischer Präsident werden

Obwohl die Wahlplakate vor drei Tagen abgehängt werden mussten, lächelt Sebastián Piñera noch alle 100 Meter im Großformat von den Häuserwänden. Der Kandidat der rechten oppositionellen "Koalition für den Wechsel" kann es sich leisten.

Auf dem Weg zu einem Wahllokal in der Kommune Recoleta, im Norden der Hauptstadt Santiago de Chile, Präsidentschaftswahlsonntag. Obwohl die Wahlplakate vor drei Tagen abgehängt werden mussten, lächelt Sebastián Piñera noch alle 100 Meter im Großformat von den Häuserwänden.

Der Kandidat des rechten oppositionellen Parteienbündnis "Koalition für den Wechsel" kann es sich leisten, die dafür fällige Strafe von rund 1000 Euro pro Plakat zu zahlen. Sebastián Piñera ist Multimillionär, einflussreicher Geschäftsmann, beteiligt an einem Fernsehsender, dem beliebten Fußballclub Colo-Colo und der Fluggesellschaft LAN, die eine Monopolstellung im chilenischen Luftraum innehat. In den Wahlkampfwochen sind seine Werbeaktionen omnipräsent.

Seine Plakate pflastern die zentralen Plätze der chilenischen Orte und lassen nicht einmal zwei Meter Platz zwischen den Stellwänden. Bereits vor der Wahl ist klar, dass Piñera es auf jeden Fall in die zweite Runde im Januar schaffen wird, falls keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht. Der Politiker der Partei "Nationale Erneuerung" verspricht eine Million neue Arbeitsplätze und will – so steht es in seiner Wahlwerbung – "das Fest der Kriminellen und Drogenhändler beenden", sowie Inkompetenz und Korruption in seiner Regierung nicht tolerieren. Das kommt an.

Auch bei José, der im Wahllokal der Schule "Liceo Industrial" im Norden Santiagos seine Stimme abgegeben hat. Nun wartet er vor dem Klassenzimmer 107 auf seinen Sohn, der zum ersten Mal wählt. "Heutzutage gibt es in Chile viel mehr Korruption als noch vor ein paar Jahren", sagt er. Der 55-Jährige schaut dabei vom Geländer des dritten Stockwerks auf das Treiben im Schulhof hinab.

Er hat lange im Ausland gelebt: Brasilien, Argentinien und einigen afrikanischen Ländern: "Ohne Kohle geht da gar nichts", sagt er. Mittlerweile habe er diesen Eindruck auch immer mehr hier in seinem Land. "Viele Dinge sind einfach schlecht organisiert, ein Wechsel ist unbedingt notwendig", fügt José hinzu und spielt damit auf den Wechsel ins rechten Lager an, der "Koalition für den Wechsel".

Die ersten Tische in den Wahllokalen schließen.

Der Fernsehsender Chilevisión überträgt live aus dem Wahllokal des Estadio Nacional, wo die ersten Stimmen ausgezählt werden. An diesem geschichtsträchtigen Ort, der nach dem Militärputsch 1973 einige Monate als Internierungslager gedient hat, faltet eine Wahlhelferin die Stimmzettel auf, eine andere liest laut vor. Beide sind dabei von einer Traube aus Menschen und Mikrophonen umringt. Jeder Name wird von den Umstehenden kommentiert. Bei Stimmen für den rechtskonservativen Kandidaten Piñera jubeln die anwesenden Wähler am stärksten. Auf den Fernsehbildschirmen läuft interaktiv mit, welcher der vier Kandidaten wieviele Stimmen hat.

Die Zahlen bewegen sich im Bereich zwischen 8 und 80. Auch auf anderen chilenischen Kanälen können die Einwohner in Echtzeit mitverfolgen, wie sich die Stimmanteile entwickeln. Obwohl diese Ergebnisse nicht repräsentativ sind, liegt der 60-jährige Unternehmer Piñera bei den ersten Hochrechnungen einige Stunden später deutlich vorne.

Mit letztendlich rund 44 Prozent hat sich Piñera für die stattfindende Stichwahl gegen Eduardo Frei am 17. Januar eine gute Ausgangsposition. Frei führte von 1994 bis 2000 schon einmal eine Regierung des Vier-Parteien-Bündnisses aus Christdemokraten und Sozialisten an. Die Concertación stellt seit dem Ende der Diktatur Augusto Pinochets vor 20 Jahren die Regierung. Zuletzt mit Präsidentin Michelle Bachelet, die zwar in Umfragen eine sehr hohe Beliebtheit im Volk besitzt, aber nach chilenischem Wahlrecht erst nach einer Legistaturperiode Pause wieder antreten darf.

Obwohl die drei geschlagenen Kandidaten Jorge Arrate und Marco Enriquez-Ominami wie Eduardo Frei alle links der Mitte zuzuordnen sind, könnten gerade Wähler des mit 20 Prozent Drittplatzierten Ominami zu Piñera wandern.

Der Wahlkampf des erst 36-jährigen charismatischen Marco Enriquez-Ominami stand unter dem Motto "Veränderung". Er will die Reformen, die Bachelet in ihrer Amtzeit nich umsezen konnte weiter vorantreiben.

"ME-O", wie er kurz genannt wird, ist als unabhängiger Kandidat angetreten, nachdem die "Concertación", die "Koalition der Parteien für Demokratie", ohne Vorwahl Eduardo Frei als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten bestimmt hatte.

Der Sohn des einstigen Anführers der marxistisch-leninistischen Revolutionsbewegung Miguel Enríquez, der 1974 während der Militärdiktatur umgebracht wurde kam aus dem Nichts und begeisterte das Land. Bei Wahlkampfveranstaltungen feierten seine Anhänger den jungen Ominami wie einen Popstar. Küsse flogen ihm zu, jeder wollte ihn anfassen. Auf Wahlplakaten streicht er sich lässig das Haar aus der Stirn.

Mit eben dieser Handbewegung übersetzen auch die Gehörlosendolmetscher im Fernsehen seinen Namen. In seiner Rede am Sonntagabend gibt Ominami keine Empfehlung zur Stimmabgabe für die zweite Runde. Eine Veränderung gebe es seiner Meinung nach mit beiden verbliebenen Kandidaten nicht.

Montag nach der Wahl – Nachbereitung.

Chilenische Zeitungen schreiben vom Triumph Sebastián Piñeras, deutsche Zeitungen von einem Rechtsruck und einem chilenischen Silvio Berlusconi. "Ich glaube weder daran, dass ein Rechtsruck stattfindet, noch dass Chile einen Berlusconi bekommt", meint der chilenische Politikwissenschaftler Raimundo Heredia von der Universidad de Chile. Sein Fachgebiet sind die Politischen Systeme Lateinamerikas. Während der Semesterferien kann er sich nun ausgiebig mit den Wahlen beschäftigen. "Piñera hat schon immer auf eine Wählerschaft im konservativen Zentrum gesetzt", berichtet er. Radikale Umbrüche seien Heredia zufolge schon allein deshalb nicht möglich, weil das rechte Lager dafür keine Mehrheiten in den beiden Kammern des chilenischen Parlaments besitzt. Es gilt, wie so oft, die Konsenssuche.

Einen Konsens zwischen den Generationen zu finden ist schwierig. Während die Eltern sich für Piñera begeistern, kritisiert die 28-Jährige Carolina dessen Nähe zu Politikern, die bereits zu Zeiten der Diktatur aktiv waren. "Er gibt vor, ein Präsident aller zu sein, doch die große Ungleichheit, die in Chile zwischen Arm und Reich herrschen, wird er nicht verringern", sagt die Anglistikstudentin und bewegt auf dem Sofa sitzend mit dem Fuß die Babywippe ihres zehn Wochen alten Sohnes. An der Wand hinter ihr hängt ein schwarz-weißes Gemälde eines befreundeten Künstlers. Es zeigt das zerbombte Regierungsgebäude 1973 während des Militärputsches gegen den damals amtierenden sozialistischen Staatschef Salvador Allende.

Carolina wollte wählen, war auf dem Amt, um sich registrieren zu lassen. Doch da ihr Personalausweis vor einige Wochen samt Geldbeutel gestohlen wurde, weigerten sich die Beamten. Ihr Freund Emilio ist Anfang 30 und hätte schon bei drei Präsidentschaftswahlen wählen können. Doch erst 2009 gab er erstmals seine Stimme ab. Damit liegt er im Trend: Nur etwa ein Fünftel der Chilenen unter 30 Jahren lassen sich zur Wahl überhaupt registrieren. Sie scheuen die langen Schlangen vor den Wahllokalen, in denen sie oft bis zu zwei Stunden in sommerlicher Hitze von mehr als 30 Grad ausharren müssen.

Sie sind aber vor allem genervt von der chilenischen Wahlpflicht. Hat man sich einmal zur Wahl registrieren lassen, ist man verpflichtet, bei jeder künftigen Wahl sein Kreuz zu machen oder auf Anfrage als Wahlschöffe zu helfen. Wenn keine besonderen Gründe, wie Auslandsaufenthalte, den Wahlgang verhindern, droht ein Bußgeld in einer Höhe von umgerechnet rund 50 Euro. "Das ist zwar auch für die Mehrheit der Chilenen noch kein Vermögen, aber diese Einschränkung und Kontrolle stört die Jugend am Wahlsystem", meint Emilio.

Im September hat er sich dennoch registrieren lassen. Bei der Wahl hat er für Ominami gestimmt, wegen dessen Ideen und dessen Zuversicht – und weil Emilio verhindern will, dass die Rechte an die Regierung kommt. Vielleicht aber auch deswegen, weil sich seine Lebensumstände geändert haben: Zwei Wochen nach seiner Registrierung kam sein Sohn Salvador zur Welt.

Tag zwei nach der Wahl auf dem "Vega", den Markthallen Santiagos, Alltag.

Zwischen dem Geruch von rohem Fleisch und frischem Fisch und den leuchtenden Farben der Erdbeeren und Zitronen drängen sich die Menschen in der Mittagszeit zu den Essensständen. Hier gibt es für wenig Geld "Completos", die chilenischen Hotdogs, oder "Pastel de Choclo", einen Mais-Fleisch-Auflauf.

Auf der einen Seite des Durchgangs stehen Tische und Stühle auf zwei Ebenen, auf der anderen wird geschnitten und gebrutzelt. Man kann dem Koch René im Vorbeigehen direkt in den Topf schauen. Er ist 74 Jahre alt und arbeitetet seit fast 50 Jahren in seinem Familienbetrieb täglich bis zu elf Stunden. Nur am Montag etwas weniger. Natürlich war er zusammen mit seiner Frau, den Kindern und Enkelkindern wählen. "Ich sehe die Leute hier jeden Tag durchlaufen. Auch wenn wir im Vergleich zu unseren Nachbarländern gut entwickelt sind, gibt es viel Armut. Sehr viel Armut", sagt er. Diese könne man nur bekämpfen, wenn man das schlechte Bildungssystem verbessere und dem Drogenhandel und der Kriminalität entschlossen entgegentrete.

Daher hat er Sebastián Piñera gewählt und wird es auch bei der Stichwahl tun. "Die Concertación war nun 20 Jahre lang an der Regierung. Die Linke hat einfach keine Ideen mehr, sondern wiederholt sich ständig", begründet er. Von Eduardo Frei, dem zweiten Kandidaten der Stichwahl im Januar, spricht hier in diesen Tagen keiner.

von Stefanie Fetz
   

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