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25.03.2010

Leben in Palästina

Zwischen Hoffnung und Hausdurchsuchung

Um 1:30 Uhr klingelt es an einer TĂĽr im palästinensischen Birzet. Schlaftrunken schlurft unser Autor Matthias Kugler in den Eingangsbereich seiner Wohnung. Als er öffnet nimmt ein StĂĽck rauen Alltags in Palästina seinen Lauf.

Erschien erstmals am 18. Juli 2006 in der ruprecht-Ausgabe 103.



Um 1:30 Uhr morgens klingelt es an meiner Wohnungstür. Schlaftrunken und leicht verärgert schlurfe ich in den Eingangsbereich. Auf meine Frage „Who is it?“ kommt keine Antwort. Ohne viel darüber nachzudenken öffne ich die Tür einen fünf Zentimeter breiten Spalt. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen.

Ich bin jetzt bereits seit über drei Monaten in den palästinensischen Autonomiegebieten. Jedenfalls ist das derzeit die international anerkannte Bezeichnung für dieses 5800 Quadratkilometer kleine Stückchen Erde, auf dem etwa 3,8 Millionen Menschen wohnen. Ungefähr eine halbe Million davon sind jüdische Siedler, die unter sich bleiben.

Ich studiere hier für zwei Semester an der Universität Birzeit bei Ramallah mit dem Ziel Arabisch und meine Lektion über den Nahostkonflikt zu lernen. Die Uni ist modern eingerichtet und von 8000 Studenten bevölkert. Diese jungen Leute gehören wohl zu den politischsten Menschen dieser Erde. Mir scheint, es vergeht keine Woche an dem nicht Plakate und Flaggen der großen palästinensischen Parteien den ganzen Campus schmücken. Die Studenten engagieren sich hier entweder für die Fatah, die Partei Arafats, die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) oder die Hamas.

Jede politische Vereinigung hat hier einen studentischen Ableger und kämpft bei den jährlichen Universitätswahlen um die Stimmen der zukünftigen Akademiker. Nachdem die Hamas der Fatah auf nationaler Ebene den Rang abgelaufen hat, richten sich alle Augen auch auf die Universitäten des Westjordanlandes. Vor allem Birzeit ist dabei wichtig. Hier studieren die zukünftigen Führer des palästinensischen Volkes und deren Meinung interessiert die Menschen.

Wahlrummel auf dem Campus

In der Woche vor der Universitätswahl nimmt der Kampf um die Stimmen der Studenten beinahe groteske Züge an. Selbst das Fernsehen kommt auf den Campus – hauptsächlich arabische Sender, ab und an auch ein internationaler Journalist.

Jetzt trägt jeder Student, der was auf sich hält, die Farben seiner Partei. Die meisten schmückt das berühmte Arafat-Tuch, oder sie haben sich die grünen Bänder der Hamas mit dem Schriftzug „Allahu Akbar“ um den Hals gehängt. Doch auch die Unterstützer der linken PFLP machen mit ihren roten Palästinenser-Tüchern auf sich aufmerksam: „Ich hoffe, dass wir dieses Jahr besser abschneiden und Fatah und Hamas ein paar Stimmen abluchsen können!“ sieht Mira, eine 22-jährige Englisch-Studentin, dem Ergebnis der kommenden Wahl entgegen. Mit offenen Haaren, einem abgewetzten Nirvana-T-Shirt und dem obligatorischen roten Schal um den Hals macht sie sich auf den Weg in den Hörsaal, in dem die Studenten ihre Stimmen abgeben können.

Sie wird dabei von einem tief verschleierten Mädchen mit grüner Schärpe und einem jungen Mann flankiert, auf dessen T-Shirt Jassir Arafat sein schönstes Lächeln übt.

Leben unter israelischer Besatzung

Am Ende werden die Fernsehsender verkünden, dass die Hamas auch von der Mehrheit der Studenten in Birzeit unterstützt wird. Mira trifft man in den nächsten Tagen nur noch mit einem geknickten Gesichtsausdruck an. Die PFLP hatte weniger Stimmen als erhofft und der Wahlkampf für die linke Sache keinen Erfolg. Die Politik bewegt die Leute hier – sie ist ihr Lebensinhalt. Der Grund ist klar, die Menschen in den Autonomiegebieten sehnen sich nach Veränderung und Freiheit.

Nach wie vor stehen sie unter israelischer Besatzung. Trotz Wahlen und eigenen Institutionen. Es gibt tägliche Straßenkontrollen überall im Westjordanland und feste Straßensperren zwischen allen größeren Städten. Der Verwandtenbesuch wird so zur Tortur. Es gibt regelmäßige Verhaftungen und Gefängnisstrafen über Jahre. Oft ohne Anklage, Richter oder Anwalt. Doch der wohl eindruckvollste Zeuge ist die neun Meter hohe Mauer aus Beton, die das Westjordanland von Israel abschneidet. Doch das ist nicht die ganze Geschichte.

Durch Eingemeindung der überall verstreuten Siedlungen wird das ganze Westjordanland in einen von Mauern durchzogenen Streuselkuchen verwandelt. Wachtürme, Kontrollen und lange Wartezeiten inklusive. Für Palästinenser ist das Leben schwierig und oft gefährlich. Das hätte mir klar sein sollen, als ich in dieser Nacht von einem harmlosen Klingeln geweckt wurde.

„Das war ja wie im Film, schlechter geht’s nicht mehr!“

Als ich meine Appartementtür einen Spalt breit öffne, wird mir in meiner Übermüdung schlagartig klar, dass ich nicht in meiner Heidelberger WG bin. Vor meiner Tür stehen acht ungebetene Gäste. Einer von ihnen steckt sein M16 Sturmgewehr durch den Spalt und zielt auf meinen Kopf. Ich bekomme weiche Knie. „Get everybody else and go into the living room!“ Die Gruppe 18- bis 20-Jähriger sind israelische Soldaten in voller Kampfmontur und bis an die Zähne bewaffnet. Sie wirken wie ein Haufen Jugendlicher mit viel Feuerstärke und wenn nötig Kampfhubschrauberunterstützung.

Nachdem ich meine beiden Mitbewohner geweckt habe, finden wir uns auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder. Die jugendlichen Soldaten untersuchen – sich gegenseitig Feuerschutz gebend – unsere Wohnung. Sie öffnen jeden Schrank und schauen unter jedes Bett. Später werden wir zwar witzeln: „Das war ja wie im Film, schlechter geht’s nicht mehr!“ Doch im Moment ist niemandem von uns zum Lachen zumute. Sie antworten auf unsere Fragen in Hebräisch oder machen Witze über uns. Ich kann das nicht auseinander halten. Einer nach dem Anderen muss sich an die Wand stellen. Sie fotografieren uns.

Jetzt zeichnet einer der Jugendlichen schnell noch eine Karte von unserer Wohnung und macht sich Notizen. Es kommt uns vor wie eine Volkszählung. Danach ziehen sie ohne weiteren Kommentar wieder ab und durchsuchen den Rest des sechsstöckigen Gebäudes. Es vergehen über zwei Stunden bevor ich endlich wieder einschlafen kann. Das Weinen der kleinen Kinder in den Wohnungen über uns hält mich wach. Und meine weichen Knie.

von Matthias Kugler
   

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