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 Heidelberg
13.12.2011

Frühstücken wie ein Kaiser

Heidelberg ist eine reiche Stadt – und reich an Obdachlosen. Ein Besuch.

Obdachlosenschlafplatz im Marstallhof / Foto: Hannes Munzinger

Meteorologen prognostizieren, uns stehe ein sehr kalter Winter bevor. Für Obdachlose ist jeder Winter kalt und eine existenzielle Bedrohung. In Heidelberg bieten deshalb Stadt, Vereine und viele Kirchengemeinden Hilfe an. Ein Beispiel ist die Aktion „Frühstück im Winter“.

 

Es ist acht Uhr morgens, die Augen der Wartenden an der Bahnhaltestelle sind klein, die Nasen rot, Atem kondensiert zu dichten Wölkchen. Ich bin auf dem Weg in das Gemeindehaus Sankt Vitus in Handschuhsheim, wo es in dieser Woche kostenloses Frühstück für Wohnungslose und andere Bedürftige gibt. Von November bis Ende März, wenn die Temperaturen selbst in Heidelberg nachts unter dem Gefrierpunkt liegen, bieten 20 Kirchengemeinden seit 1983 im wöchentlichen Wechsel Wohnungslosen „Starthilfe“ in den Tag.

Ich treffe Gudrun Schwöbel, deren Name in Verbindung mit der Aktion stets fällt. Auf die Frage, warum gerade ein kräftiges Frühstück so wichtig sei, zitiert sie das alte Sprichwort: „Morgens sollst du essen wie ein Kaiser, mittags wie ein König und abends wie ein Bettelmann.“ Als wir den Frühstücksraum betreten, wird ein weiterer Grund spürbar: Es ist wohlig warm hier. Wer im Freien übernachten musste, im Wald oder an mehr oder weniger windgeschützten Plätzen, wie dem Eingang des Marstallhofes, muss sich dringend aufwärmen. Doch unter den Anwesenden sind nicht nur Wohnungslose. Die Armut hat viele Gesichter und trifft offensichtlich zunehmend auch Hartz-IV-Empfänger. So sitzen wir zwischen Menschen, deren Leid auch äußerlich sichtbar ist und anderen, deren gepflegte Erscheinung über ihre Lebenssituation hinwegtäuscht.

11.300 Menschen sind in Heidelberg armutsgefährdet, vorwiegend im Süden der Stadt. Den Ärmsten der Armen steht jedoch ein sicherlich überdurchschnittlich dichtes Betreuungsnetz zur Verfügung. Der Verein „Obdach“ mietet beispielsweise 37 Wohnungen im gesamten Stadtgebiet an und bietet rund 100 Betroffenen ein umfassendes Konzept für Betreuung und Beschäftigung. Das Wichernheim der Evangelischen Stadtmission in der Plöck hat eine Kapazität von 70 Ãœbernachtungsplätzen und betreibt Wiedereingliederungshilfe. Der katholische Verein für soziale Dienste betreut das städtische Notquartier mit 20 Schlafplätzen. Zudem gibt es ambulantes Wohnen speziell für Frauen. Zudem gibt es eine Fachstelle im Sozialamt der Stadtverwaltung und einen Streetworker. 

Je kälter es wird, desto mehr Frühstücksgäste kommen. Nach Einschätzung der Helferinnen und Helfer werden es auch generell mehr. Das durchschnittliche Alter ist 55 Jahre und aufwärts, aber auch vor jüngeren mache die Entwicklung zunehmend keinen Halt mehr. Inzwischen hat der warme Kaffee Körper und Geist aufgetaut, die Gespräche unter den vielleicht 25 Anwesenden werden lebhafter. Es sind fast alle Einzelgänger sagt Bernhard, den Gudrun Schwöbel seit Jahren kennt, der als Einziger bereit ist, mit mir über seine Situation zu sprechen.

Man kenne sich nur mit Vornamen und wisse wenig über die Schicksale der Leidensgenossen. Er ist 54, hat elf Jahre auf der Straße gelebt und nun seit einem Jahr eine Wohnung. Private und berufliche Gründe haben ihn auf die Straße gebracht, er redet nicht gern darüber. Während er auf der Straße lebte, arbeitete er als Tagelöhner saisonweise als Gartenhilfe. Er verdiente bis zu 100 D-Mark – heute etwa 51 Euro – am Tag, aber wie das Geld reinkam floss es wieder hinaus. Nur für den Winter wurde ein wenig angespart.

Was man in einer Wohnung als Selbstverständlichkeit besitzt, müssen sich Wohnungslose über den Tag hinweg organisieren. Wo kann man ohne Geld Wäsche waschen? Wo gibt es die Möglichkeit zur Körperpflege? Mangelnde Hygiene ist eine Gefahr für Leib und Leben, wenn man keine Krankenversicherung besitzt. Und auch jede Mahlzeit will organisiert und finanziert sein. Für das Frühstück laufen viele sogar bis nach Ziegelhausen, erzählt Bernhard. Busse sind zu teuer, wirft Gudrun Schwöbel ein und beklagt einen fehlenden Sozialtarif im öffentlichen Nahverkehrsnetz. Über seinen Alltag sagt er: „Zeit ist da, leider." Man mache eben Sachen, die wenig kosten. Die Universitätsbibliothek dürfe man nutzen, um zu lesen, aber wirklich willkommen sei man nicht. Manchmal könne man morgens um sechs Uhr bei der Schnellvermittlung der Arbeitsagentur spontane Jobs für den Tag kriegen, Krankheitsvertretungen auf dem Bau zum Beispiel. Oft bestünde der Tag aber auch nur aus Rumhängen. Er wehrt sich gegen das Penner-Image der Obdachlosen, es gäbe Obdachlose, die man als solche nicht erkenne.

Das Frühstück ist so wichtig, weil es nicht nur Kraft und Wärme spendet, sondern auch verlässlichen sozialen Kontakt ermöglicht. Wohnungslose können es sich nicht leisten sich zum mittäglichen Kaffeetrinken zu verabreden. Das Frühstück ist ein zeitlicher Anker im Alltag, das erwähnt Bernhard mehrfach.

Alle Hilfsformen, die in Heidelberg zur Verfügung stehen, haben eines gemeinsam: Ehrenamtliche Mitarbeiter tragen oder stützen die Projekte mindestens. Ich spreche mit einer Helferin, die seit 18 Jahren beim Frühstück hilft. Sie erzählt von „Frühstückstouristen“, sogar aus Ludwigshafen kämen Leute deshalb. Als Organisatoren fragen sie nicht, wer wirklich bedürftig ist und wer nicht. Es sei auch schon vorgekommen, dass ein Einzelner das Angebot lautstark kritisiert und statt Wurst gekochten Schinken verlangt habe. Letztendlich habe man ihn rausschmeißen müssen, inzwischen aber gebändigt wieder aufgenommen.

Schmunzelnd berichtet Schwöbel sogar eine „gesunde Konkurrenz“ zwischen den ausrichtenden Gemeinden: „Jede will diesem Personenkreis das Beste bieten.“ Finanziert wird das Frühstück aus Gemeindegeldern, Kollekten und natürlich Spenden. Selbstverständlich kann sich auch jeder selbst engagieren, obwohl es offensichtlich an Freiwilligen nicht fehlt. Vor allem geht es den Helfern darum, ein Bewusstsein für die Probleme der Wohnungslosen zu schaffen und zu ermutigen, sie in Würde und respektvoll als Teil der Gesellschaft zu verstehen.

Anerkennung und Respekt sind für Wohnungslose Voraussetzungen für den Erfolg im täglichen Kampf ums Ãœberleben. Es geht nicht nur um Nahrungsaufnahme, erklärt mir Bernhard und hält sich scherzhaft seinen wohlgerundeten Bauch. Das Frühstück gibt ganz offensichtlich auch Nahrung für die Seele: „Man weiß, man ist willkommen“. 

 

von Hannes Munzinger
   

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