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 Feuilleton
16.02.2011

Geladen – gelungen

Die Inszenierung von "Gegen die Wand" im Theaterkino in der Kritik

TeaserbildDas Theater Heidelberg inszeniert im Theaterkino eine Adaption des Films Gegen die Wand von Fatih Akin. Das Stück ist extrem, aber zugleich bemerkenswert einfühlsam geworden. Eine Einschätzung ohne cineastische Vorkenntnisse.

Das Theater Heidelberg inszeniert im Theaterkino eine Adaption des Films Gegen die Wand von Fatih Akin. Das Stück ist extrem, aber zugleich bemerkenswert einfühlsam geworden. Eine Einschätzung ohne cineastische Vorkenntnisse.

Nach Ende des Stücks – ich war bereits nach draußen gegangen, um mir eine Zigarette anzustecken – kam eine Frau mittleren Alters aus dem Theaterkino. Sie blickte strahlend in den schwarzen Nachthimmel und seufzte ergriffen: „Ach, war das schön!“

Dieser Satz gehört zu den letzten, die mir zu dieser Inszenierung von „Gegen die Wand“ eingefallen wären. Vor gerade 15 Minuten hatte sich die junge Protagonistin Sibel auf einem Podest mitten auf der Bühne, begleitet von dröhnenden Technobeats und in flackerndem Rotlicht, in einer wilden Orgie drei Männern hingegeben. Anschließend schlugen die Männer sie zusammen, wobei Sibel in großen Fontänen Blut über die Bühne zu versprühte und ihre Liebe zu Cahit in die Welt schrie. „Schön“?

Sibel ist eine Deutschtürkin mit kaum zu bremsenden Freiheitsdrang. Per Selbstmord versucht sie zu Beginn der Geschichte, der strengen Fuchtel ihres orthodoxen Vaters zu entkommen. In die Psychiatrie eingeliefert begegnet sie dem lustlosen, vom Leben genervten Cahit, der ebenfalls versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Sibel überzeugt ihn, sie zu heiraten, damit sie endlich zu Hause ausziehen und sich abseits väterlicher Aufsicht mit voller Inbrunst ihrem Hedonismus widmen kann.

Die Sex-und-Prügel-Arie ist nicht die einzige exzessive und laute Szene des Stücks. Die Inszenierung ist voller maßloser Partys mit koksenden Menschen und wummernder Musik. Die Szene ist jedoch mit Abstand die Hemmungsloseste und Vulgärste und die Protagonisten erreichen dort den Tiefpunkt ihrer persönlichen Entwicklung. Ihr Verhältnis zueinander ist zu Beginn noch denkbar unbeholfen. Nach der Hochzeit bemühen sie sich, sich jeweils wieder ihrem eigenen Leben zu widmen. Noch können sie sich immer weniger der gegenseitigen Zuneigung widersetzen, die sich unweigerlich in ihnen ausbreitet.

Als Cahit schließlich in einem Wutanfall Sibels Liebhaber tötet, sind die beiden buchstäblich mit einem Schlag in der Realität angekommen. Das ganze findet statt in einer Turnhalle mit Matten und Basketballkorb. Das Leben der Figuren ist ein leeres Spiel, das sie immer weiter ausreizen – bis einer heult.

Sind die beiden bis dahin noch orientierungslos und stets auf der Suche nach Ablenkung durchs Leben gedriftet, sehen sie ineinander plötzlich einen Sinn, der aber im selben Moment wieder in weite Ferne rückt. Cahit wandert ins Gefängnis. Sibel geht von ihrer Familie verstoßen zu ihrer Tante nach Istanbul, wo sie völlig den Halt und ihre Selbstachtung verliert.

Auch das Setting hat gewechselt: Von Turnhalle und Spielerei kann nun keine Rede mehr sein. In ihrer Trauer rutscht Sibel erneut in Hedonismus ab, der nun nicht mehr aus jugendlichem Freiheitswahn, sondern tiefer Verzweiflung resultiert.

Dieses Vorher-Nachher haben Franziska Beyer als Sibel und Frank Wiegard als Cahit großartig umgesetzt. Beide bringen ihre jeweiligen Rollen gekonnt auf die Bühne. Wiegard steht der mürrische Cahit mindestens so gut wie seine grau gesträhnte Perücke. Die sorglose Girlienote, die Beyer der exzessiven und getriebenen Partygängerin Sibel beimischt, stellt sich auf spielerische Weise in Kontrast zu deren innerlicher Leere. Auch die Besetzung der Nebenrolle passt wie die Faust aufs Auge. Ronald Funke spielt den türkischen Patriarchen und Vater von Sibel mindestens so überzeugend wie seinerzeit den dementen Vater in Der Mann der die Welt aß.

Die Inszenierung ist derb, sie ist witzig, sie ist nachdenklich und macht großen Spaß. Aber was dann richtig schmerzt, ist das Ende. Als Cahit nach fünf Jahren aus dem Gefängnis kommt, folgt er Sibel nach Istanbul. Die ist aber mittlerweile verheiratet, hat eine Tochter und lässt Cahit am Bahnhof stehen.

Die restlichen Schauspieler spannen ein großes goldenes Tuch über die gesamte Bühne. Cahit kriecht darunter, greift durch das Tuch ein Papierschiffchen und bewegt es so über die mittlerweile wogenden, goldenen, endlosen Fluten. Wohin? Ins Leben? Cahit, der erst Nihilistische, dann Hoffnungsvolle und schließlich bitter Enttäuschte findet doch noch zu seiner kitschig-romantischen Ader und kommt ins Reine mit sich selbst.

Wie zu Beginn ist er der poor lonesome cowboy, hat aber jetzt zu sich selbst gefunden und sich voller Gelassenheit seinem Schicksal ergeben. Fremder könnten diese letzten fünf Minuten dem ansonsten gelungenen Stück kaum sein. Lohnen tut sich ein Besuch aber natürlich trotzdem.

 

von Max Mayer
   

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