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08.11.2011

Zwölf Semester Wartezimmer

Gerichte urteilen über Wartezeit auf Medizinstudienplätze

Nach zwölf Wartesemestern darf man Medizin studieren – und zwar jeder. Foto: Uniklinikum Heidelberg

Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete den  Numerus Clausus einst als Entscheidung über die Verteilung von Lebenschancen. Notwendiges Übel, Bildungshindernis oder Elitenförderung? Wie man es auch darstellen mag, es bleibt die Frage, wie lange man Studienwillige hinhalten darf. 

Diese Frage beschäftigte Ende September auch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Vier Medizin-Studienbewerber verklagten die Stiftung für Hochschulzulassung (SfH, vormals ZVS) wegen überlanger Wartezeit: Auch nach zwölf Wartesemestern wurde ihnen ein Studienplatz versagt. 

Zu lange, entschied das Gericht und verpflichtete die Stiftung per einstweiliger Anordnung, die vier Bewerber zum Studium zuzulassen. Am 6. Oktober hat das Oberverwaltungsgericht Münster jedoch aufgrund Beschwerde der Stiftung die Vollziehung der Beschlüsse vorerst ausgesetzt, denn diese seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit fehlerhaft.

Die Geschichte vieler Wartenden liest sich ähnlich: Nach einem durchschnittlich guten Abitur bewirbt man sich um einen Medizinstudienplatz, erhält eine Absage, beginnt eine Ausbildung zwecks Rangverbesserung, schließt diese ab, sammelt nebenbei Wartesemester, nur um dann wieder abgelehnt zu werden. Die Frage, ob dieses System noch „gerecht“ ist, treibt deutsche Gerichte schon seit Jahrzehnten um.

Die Verwaltungsrichter nehmen in ihrem Urteil Bezug auf die beiden Numerus-Clausus-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den 1970er Jahren, die maßgeblich zur Ausgestaltung des heutigen Vergabesystems beitrugen. Das höchste deutsche Gericht berief sich damals auf Artikel 12, Absatz 1 des Grundgesetzes, der die freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz sowie dem Sozialstaatsprinzip gewährleistete. Es folgerte daraus, dass jeder Staatsbürger mit Hochschulreife ein Recht auf Zulassung zum Studium seiner Wahl habe. 

Dieses stehe jedoch aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von Studienplätzen unter dem Vorbehalt des Möglichen mit der Folge, dass eine Auswahl nach sachgerechten Kriterien mit einer reellen Zulassungschance eines jeden Zulassungsberechtigten zu erfolgen habe. Insbesondere betonte es, „dass jede Auswahl zwischen hochschulreifen Bewerbern eine Ungleichbehandlung prinzipiell Gleichberechtigter in der Verteilung von Lebenschancen darstellt“. 

So dürfe bei der Auswahl nicht ausschließlich das sich auf die Abiturnote beziehende Leistungsprinzip angewandt werden. Die Abschlussnote könne nur chancenerhöhend wirken und stelle keinen Anhaltspunkt für die tatsächliche Eignung zum Studium dar. Es sei weder sachgerecht noch zumutbar, dass ein Zehntel der Abiturnote zu einer sieben Jahre langen Wartezeit führe. Das Wartezeitprinzip erfülle nur eine Korrekturfunktion, um auch Studienbewerbern außerhalb der Abiturbestenquote einen Studienplatz in Aussicht stellen zu können.

Auf Grundlage dieser Prinzipien kritisierten die Verwaltungsrichter, dass eine solch überlange Wartezeit die Betroffenen finanziell belaste, ihre Lebensplanung erschwere und eine soziale Selektion bedeute. In persönlich, pädagogisch wie volkswirtschaftlich unvertretbarer Weise werde das Berufseinstiegsalter weiter erhöht. 
Die zentrale Frage bleibt, wie viele Wartesemester vertretbar sind. 

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen kam ebenfalls zu dem Urteil, dass es nicht vertretbar sei, wenn die Wartezeit die Regelstudienzeit „erreicht oder überschreitet“. Mit einer Wartezeit von sechs Jahren sei diese Grenze offenbar deutlich überschritten. Es liege für die Kläger daher eine Grundrechtsverletzung vor, die sich mit jedem Monat ohne Zulassung „erneuert und vertieft“.

Gegen diesen Beschluss legte  die Stiftung für Hochschulzulassung Berufung ein. Man habe die gesetzlichen Vergabevorschriften korrekt angewandt und sehe hier die Politik in der Pflicht. Schließlich könne man selbst keine neuen Studienplätze schaffen, argumentiert die Stiftung. 

Das Gericht sah dies ähnlich und kam zu dem Schluss, dass eine Wartezeit von zwölf Semestern keinen „Vorrang“ vor regulären Bewerbern begründe. Eine Zulassung zum Studium im Wintersemester 2012/13 sei „hinreichend wahrscheinlich“, sodass auch extrem lang Wartenden nicht das Recht haben, „gerade in dem in Rede stehenden Wintersemester 2011/12 zugelassen zu werden“. Maßgeblich sei, dass die Chance auf Zulassung (wenn auch verspätet) überhaupt noch bestehe.

Seit Jahren steigen die Wartezeiten für Medizinstudienplätze. Kamen vor zehn Jahren noch 20?000 Bewerbungen auf 8120 Plätze, sind es heute 44?000 Bewerber für die knapp 8800 Studienplätze. Hiervon wird ein Fünftel direkt nach der Note vergeben. Im jetzigen Semester liegt in der Medizin der Numerus Clausus bei 1,2.

von Raphael Schäfer
   

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