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26.07.2012

Großes Kino auf leerer Leinwand

Ankara ist auf der Suche nach der eigenen Identität

Die Wachablösung am Friedensturm in der Nähe des Atatürk-Mausoleums. / Foto: Magdalena Kirchner

Unter den vielen sehenswerten Orten in der Türkei ist Ankara sicher kein Kronjuwel und wohl die einzige Hauptstadt mit einer gefühlt niedrigeren Touristenquote als Ulan Bator. Was also tun, wenn es einen hierhin verschlägt? Augen zu und durch? Auf keinen Fall!

Von Magdalena Kirchner aus Ankara (Türkei)

Wie Brasilia oder Canberra ist auch Ankara eine Hauptstadt, wegen der man im Reisequiz oft noch mal von vorne anfangen muss. Seit 89 Jahren ist sie offizieller Nabel Anatoliens und meinem 800 Seiten dicken Türkei-Reiseführer trotzdem nur vier Seiten wert.

Als ich Freunden von meinem dreimonatigen Forschungsaufenthalt hier erzählte, war „das schönste an Ankara ist das Kino” noch die netteste Reaktion. Ihrem Ruf als deutschste Stadt der Türkei, in der für Orientphantasien noch weniger Platz ist als für nichtangemeldete Demonstrationen, wird sie auf jeden Fall gerecht. Ihr fehlt der Glanz von Istanbul, die Leichtigkeit von Antalya, die Wildheit des Südostens, die Melancholie der Schwarzmeerküste – sie hat weder ein berühmtes Fußballteam noch ist sie Schauplatz einer Herzschmerz-Vorabendserie.

Nein, die Türkei und Ankara, das war sicher keine Liebesheirat. Nachdem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die junge Republik, unter anderem durch die Verlegung der Hauptstadt, nach innen und außen gefestigt hatte, zog sogar er selbst wieder an den Bosporus. Ob er wirklich hier begraben werden wollte? Glück für Ankara: Das das Mausoleum stellt wenigstens eine Touristenattraktion dar.

Und doch verkörpert die Stadt, die nicht mal einen eigenen Kebap hat, die gesellschaftliche und politische Entwicklung der modernen Türkei, deren Einwohnerzahl sich seit 1970 (ungefähr 30 Millionen) mehr als verdoppelt hat, wie keine zweite. Lediglich 30.000 Menschen lebten 1923 in Ankara, einem verschlafenen Nest, das selbst für die nahe gelegene Seidenstraße zu abgelegen war. Bei mittlerweile 4,5 Millionen Einwohnern haben die Stadtplaner irgendwann aufgegeben und so beginnt knapp außerhalb des Zentrums ein riesiges gece kondu (eine quasi über Nacht gebaute semi-legale Siedlung), mit Buslinien ohne Haltestellen und über unfertigen Metrostationen einstürzenden Schnellstraßen.

Ankara selbst mag zwar grau und eintönig sein, doch ihre improvisationsfreudigen Bewohner, die aus allen Landesteilen, aus dem Kaukasus und vom Balkan hierherkamen, verleihen der Stadt eine nahezu unverhoffte kulturelle Vielfalt. Eine zweite Mini-Türkei ist die Yüksel Straße im Stadtzentrum. Hier tummelt sich alles, was an außerparlamentarischer Opposition zu finden ist: Frauen, die gegen ein geplantes Abtreibungsverbot demonstrieren, aber auch Schüler, die eine bessere staatliche Bildung fordern.

An einer anderen Straßenecke sammeln Gewerkschaftler, Tier- und Umweltschützer Unterschriften neben einer Mahnwache für die zivilen Opfer eines Militärschlags gegen die PKK. Was dem ganzen eine gewisse Tragikomik verleiht ist die Tatsache, dass sich diese Szene auf etwa 20 Quadratmetern abspielt, denn die schmale Straße ist zugleich auch noch Shopping- und Restaurantmeile.

Nur 100 Meter entfernt gibt es zwar einen weiträumigen Platz, der ist aber zurzeit mit einer Dinosaurierausstellung anlässlich des Shoppingfests belegt und ohnehin für Demonstrationen gesperrt. Ankara verkörpert eben auch die lange Aufgabenliste der Regierung – die vielen außenpolitischen Projekte noch gar nicht eingerechnet – ebenso wie das neue Selbstbewusstsein einer jungen Gesellschaft im wirtschaftlichen und politischen Aufschwung, in der Interessenpluralismus zwar vorhanden, jedoch nicht immer erwünscht ist.

Es macht Ankara zur perfekten Hauptstadt für die Türkei, denn sie ist kurz gesagt genau so wie das Land selbst: Auf der Suche nach der eigenen Identität noch längst nicht angekommen – aber immerhin schon mal losgefahren.

   

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