Dies ist ein Archiv der ruprecht-Webseiten, wie sie bis zum 12.10.2013 bestanden. Die aktuelle Seite findet sich auf https://www.ruprecht.de

ruprecht-Logo Banner
ruprecht/Schlagloch-doppelkeks-Jubiläum
Am 13.10. feiern wir 25 Jahre ruprecht/Schlagloch und 10 Jahre doppelkeks [...mehr]
ruprecht auf Facebook
Der aktuelle ruprecht
ruprecht vor 10 Jahren
Andere Studizeitungen
ruprechts Liste von Studierendenzeitungen im deutschsprachigen Raum
ruprecht-RSS
ruprecht-Nachrichten per RSS-Feed
 Weltweit
16.06.2012

Ein Abenteuer für 90 Minuten

Die Fahrt zum deutschen Vorrundenauftakt bot so manche Hindernisse

Für drei Wochen ein blau-gelber Fußballgott: die Neptunstatue auf dem Lemberger Marktplatz. / Fotos: Rick Giesel

Zum ersten Mal findet ein großes Sportereignis in Osteuropa statt. In Polen und der Ukraine hat am Freitag die Fußballeuropameisterschaft begonnen. Michael Graupner hat mit zwei weiteren Freunden am Wochenende einen Trip nach Lemberg unternommen. 

„Die polnische Bahn hat versagt“, gibt die polnische Polizistin im brüchigen Deutsch zu – „wir aber nicht“. Es ist Samstagnacht gegen drei Uhr in der polnischen-ukrainischen Grenzstadt Przemy. Ungefähr 30 Polizisten warten auf gut 200 deutsche Fußballfans. Der Zug nach Lemberg steht bereit, aber es fehlt an polnischem Zugpersonal. Die Fahrt des Zuges kann nicht freigeben werden. Unruhe entsteht, Taxipreise werden erfragt  und mit der Polizistin diskutiert. Doch es hilft nichts. Der Zug fährt ohne jegliche Passagiere nach Lemberg ab.

17 Stunden zuvor: Der Euro City aus Hamburg verlässt den Berliner Hauptbahnhof pünktlich um 9:42 Uhr. Die deutsche Hauptstadt dient als Ausgangspunkt für unsere Reise zur Fußballeuropameisterschaft. Zu dritt fahren wir nach Lemberg (ukrainisch: L‘viv) zum Vorrundenauftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal.

Die Anspannung ist groß. Eine insgesamt 38-stündige Zugfahrt und ungeklärte Fragen nach Umfang des Schlafes, Transportwegen und Menschen  schwirren in unseren Köpfen. Unser Großraumabteil ist ein kleines multi-europäisches Konglomerat aus Polen, Russen, Engländer und Deutschen. Einige unserer Landsleute müssen ihrem Ruf als standfeste Biertrinker schon vormittags gerecht werden und mallorquinische Schlagerlieder am Fließband produzieren. Nach gut vier Stunden passieren wir die polnische Grenze. Landschaftlich sind keine Veränderungen zu vernehmen, nur die Anzahl von brachliegenden Industrieruinen vermehrt sich spürbar. Rechtzeitig erreichen wir Krakau im Süden Polens, um in den Zug nach Przemy umzusteigen. Dort wird uns, wie eingangs beschrieben, die Weiterfahrt zunächst verwehrt. Nach langen Diskussionen erklärt sich die polnische Polizei aber doch noch bereit einen Bus bis zur ukrainischen Grenze zu organisieren. Noch immer nicht mit einem längeren Stückchen Schlaf gesegnet, widerstehen wir Verlockungen von bequemen, aber teuren Taxis und entdecken einen kleinen Busbahnhof. In einem in ukrainischen Nationalfarben gestalteten Linienbus geht es zu osteuropäischer Folklore bis vor den Eingang des Lemberger Hauptbahnhofes. Mittlerweile ist es 7:30 Uhr. 

Lemberg ist mit 750.000 Einwohnern die siebtgrößte Stadt der Ukraine. Darunter sind 150.000 Studenten, die während der EM aber dort nur vereinzelt anzutreffen sind. Die Prüfungen wurden auf Ende Mai vorverlegt, damit die Wohnheime renoviert und an Touristen vermietet werden konnten. So müssen viele Studenten im Juni sehen wo sie unterkommen. Einige arbeiten auch als Volunteers, die den EM-Touristen freundlich mit Rat und Tat zur Seite stehen. Da sie oftmals die einzigen  englisch sprechenden Ukrainer sind, stellen sie für viele die letzte Rettung dar.

Ein Freilichtmuseum für verschiedene Kunstepochen

Vom Hauptbahnhof fahren wir mit einer alten, ruckeligen , aber charmanten Straßenbahn in Richtung Zentrum. Nach einem morgendlichen Frühstück, inklusive sparsamer Körperpflege steht ein Spaziergang durch die Lemberger Altstadt auf dem Programm. Die Stadt im äußersten Westen der Ukraine gilt als eine der schönsten Osteuropas. Die Altstadt mit ihren Kirchen, öffentlichen Plätzen und Wohnhäusern ist eine Art Freilichtmuseum für verschiedene Kunstepochen. Von Gotik und Renaissance, bis Historismus und Jugendstil ist für jeden Kunstliebhaber etwas dabei. 

Zur EM ist das wohl schönste Gebäude der Stadt leider von einer riesengroßen Leinwand verdeckt. Direkt vor dem Opernhaus befindet sich die Lemberger „Fanzone“, die für die ticketlosen Fußballfans die Dramen dieser Europameisterschaft öffentlich zur Schau stellt. In seiner vollen Pracht lässt sich hingegen der Marktplatz mit dem alles überragenden Rathausturm betrachten. 

Doch der Genuss der Fassaden hält nicht lange, da es wieder aus einer anderen Ecke „Deutschlaaand, Deutschlaand, Deutschlaaaaand, Deutschlaand“ schallt. Mehr als 10.000 deutsche Staatsbürger sollen den Weg in die Ukraine angetreten haben. Und so ist in allen Biergärten, Bars und Kneipen Weiß die dominierende Farbe. Das in einem Magazin der polnischen Bahn bediente Vorurteil, dass Deutsche „laute Bierfans“ seien und vor jedem Spiel „Hektorliter an Bier“ trinken, findet zumindest für das erste Gruppenspiel Bestätigung.  

Zur mittäglichen Stärkung kehren wir in eine urige Schenke ein. Als Vorspeise probieren wir uns an einem ukrainischen Nationalgericht; dünne Scheiben geräucherter Speck mit Brot und Knoblauch. Der Lemberger Kalbsbraten zum Hauptgericht schließt diesen rundum gelungenen kulinarischen Ausflug ab. Doch trotz der intensiven Nahrungsaufnahme werden wir in immer geringeren Abständen von Müdigkeitsattacken erfasst. Noch immer konnten wir nicht mehr als eine halbe Stunde am Stück ruhen. Und so geht es zwar mit einem gehörigen Schuss Vorfreude in Richtung Stadion, die Gefahr aber den entscheidenden Moment übermüdet verpassen zu können, besteht weiterhin.

Mario Gomez lässt die körperlichen und geistigen Spuren vergesssen

Das Lemberger EM-Stadion, die „Arena Lviv“, ist wahrlich keine Schönheit. Mitten im Nirgendwo wurde vor den Toren der Stadt ein grauer Betonklotz hingesetzt, der die Tristesse der Landschaft noch mehr betont. Die ursprünglich veranschlagten Kosten von 70 Millionen Euro steigerten sich um das Dreifache. Wohin das ganze Geld geflossen ist? Anscheinend nicht in hochqualitative bauliche Substanzen. Der plötzlich einsetzende Regenschauer offenbart nämlich auch so manch architektonische Mängel des Stadions. Vor den Toiletten entwickeln sich in wenigen Minuten große Pfützen. Ohne bestandenes Seepferdchen hätte das nötige Wasserlassen somit Probleme bereitet. 

Um 21:45 Uhr, ukrainischer Zeit, erfolgt der Anpfiff. Nach 35 Stunden Fahrt beginnt das 90-minütige Fußballspiel. Es ist das erwartete zähe Aufeinandertreffen. Erst in der 72. Spielminute gibt es die Befreiung. Das Tor von Mario Gomez lässt die körperlichen und geistigen Spuren der Reise für einige Momente vergessen. Gespannt absolvieren wir nach dem Spiel das eher geringer ausfallende Chaos zurück in die Stadt. Trotzdem schaffen wir unseren ursprünglichen Zug nicht mehr, sodass wir erst um zwei Uhr vom Lemberger Hauptbahnhof abfahren.

Ein Pudel begibt sich auf Drogensuche

Den Eindruck einer inszenierten Vorstellung werden wir nicht los. Vier in grün uniformierte Grenzpolizisten marschieren in der gleichen Schrittfolge durch unser Abteil. Die überdimensionierten Hüte und die perfekt gestickten Knöpfe lassen an längst vergessene Zeiten erinnern. Unsere Reisepässe werden von ukrainischen Zollbeamten eingesammelt. Draußen patrouillieren Soldaten. Nach zwanzig bangen Minuten erhalten wir sie unversehrt zurück. Anschließend begibt sich ein schwarzer Pudel auf Drogensuche. Die gleiche Prozedur müssen wir in ähnlicher Weise insgesamt viermal über uns ergehen lassen. 

Nach über einer Stunde Grenzkontrolle befinden wir uns wieder auf polnischem Boden. Die Grenzen der Belastbarkeit sind mittlerweile erreicht, fünfundvierzig Stunden ohne durchgehenden Schlaf haben mit dem Einstieg in unseren vorletzten Zug um fünf Uhr ein Ende. Unterbrochen werden wir nur von einem Schaffner der polnischen Bahn. Ohne groß zu diskutieren akzeptiert er unsere, eigentlich für einen anderen Zug bestimmten Zugtickets. Sein Verhalten ist eher nicht mit unseren rudimentären polnischen Sprachkenntnissen, als mit unserem mittlerweile überbordenden Gestank zu begründen. 

Um 20:13 Uhr erreichen wir wieder den Berliner Hauptbahnhof. Drei Tage maximalen Abenteuers liegen hinter uns. Beinahe alle unsere Befürchtungen haben sich erfüllt. Nichtsdestotrotz war jede einzelne Minute ihr Erleben wert. 

   

Archiv Weltweit 2022 | 2021 | 2020 | 2019 | 2018 | 2017 | 2016 | 2015 | 2014 | 2013 | 2012 | 2011 | 2010 | 2009 | 2008 | 2007 | 2006 | 2005 | 2004