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 Wissenschaft
13.07.2011

Mamas Knubbelknie, Papas IQ

Sarrazins Erblichkeitsthesen sind weithin akzeptiert - aber Unsinn

Thilo Sarazzin

Thilo Sarazzin

Aus Sicht der Psychologie hat die Debatte um Sarrazins Thesen großen Schaden angerichtet: Seine Vorstellung zur Erblichkeit der Intelligenz wird mittlerweile zwar weithin akzeptiert, entbehrt aber jeglicher seriösen Grundlage. Der ruprecht erklĂ€rt warum.

Die Schulpsychologin richtet sich auf, feierlich schaut sie auf ihre Auswertungsbögen. Karl hat einen Intelligenzquotienten von 110, sagt der Test. Sandra hat einen IQ von 90. Beide liegen damit noch im Normalbereich. Dennoch, betont die Psychologin, sind die Auswirkungen dieses Unterschieds bedeutsam. Statistiken zufolge wird Karl nicht nur einen höheren Bildungsabschluss erreichen, sondern dabei auch bessere Noten haben. Als Erwachsener wird er mehr verdienen.

IQ-Punkte, könnte man meinen, entscheiden ĂŒber Erfolg oder Misserfolg eines ganzen Lebens. Entsprechend stark ist das Interesse an ihnen. Wie bekommt man sie? Muss man nur den richtigen Kindergarten besuchen, brauchen wir Bildungsreformen? Oder sind wir ohnehin machtlos, weil wir sie erben, zusammen mit Papas Haarfarbe und Mamas knubbeligen Knien? Seit Thilo Sarrazin im August 2010 sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hat, reißen die Diskussionen um diese Fragen nicht ab.

„Man muss unterscheiden zwischen dem ererbten und erworbenen Anteil der Intelligenz“, sagt Sarrazin und referiert damit, was von der ganzen Intelligenz-Forschung in der Bevölkerung angekommen ist. Zwei Reaktionen auf diese Aussage haben sich mittlerweile etabliert. Sarrazin verdreht doch die Fakten, sagen die einen. Tut er nicht, sagen die anderen, immerhin können auch Wissenschaftler seine Aussagen nicht richtig widerlegen. TatsĂ€chlich tun Psychologen sich mit Sarrazins Thesen schwer. Um den Haken an seinen AusfĂŒhrungen zu erklĂ€ren, muss man weit ausholen.

Bis in die 70er Jahre hinein hielt sich als ErklĂ€rung fĂŒr unterschiedliche IntelligenzausprĂ€gungen weitgehend unangefochten die Theorie des amerikanischen Psychologen James B. Watson. Nur die Erziehung, betonte Watson, bestimme die Intelligenz eines Menschen: „Gib mir ein Dutzend wohlgeformte gesunde SĂ€uglinge und meine eigene spezielle Welt, um sie aufzuziehen, und ich garantiere, ich mache jedes der Kinder zu einem Spezialisten in einem beliebigen Gebiet: Doktor, Anwalt, KĂŒnstler, Kaufmann – und ja, auch einen Bettler oder Dieb“. Gerade in Regierungskreisen war sein Ansatz enorm einflussreich, betonte er doch die Chancen der Bildungspolitik. So etablierten beispielsweise die USA 1969 ein spezielles Fernsehprogramm, das allen Kindern unabhĂ€ngig von ihrer sozialen Schicht die relevanten Lernerfahrungen bieten sollte: Die Sesamstraße entstand.
Dass wir heute zwischen erlerntem und vererbtem Anteil der Intelligenz unterscheiden, ist das Ergebnis einer Gegenbewegung zu dieser Theorie. Einige Forscher misstrauten der vermeintlichen Allmacht der Erziehung. Sie fĂŒhrten Studien durch, die die EinflĂŒsse von Erziehung an getrennt und gemeinsam aufgewachsenen Zwillingspaaren untersuchten.

Dabei berechneten die Wissenschaftler zunĂ€chst, wie sich die Zwillinge in ihrer Intelligenz unterscheiden wĂŒrden, wenn die Unterschiede nur von den Erbanlagen oder nur von der Erziehung abhingen. Danach ermittelten sie, wie sehr sich die Vorhersage dieses Modells mit den tatsĂ€chlichen Unterschieden deckt.

Das Ergebnis dieser Analyse wird als „aufgeklĂ€rte Varianz“ bezeichnet. Im Zusammenhang mit Erblichkeit ist hĂ€ufig vom „Erblichkeitskoeffizienten“ die Rede. Die aufgeklĂ€rte Varianz ist eine Prozentzahl, die aussagt, wie viel Prozent der tatsĂ€chlichen Schwankungen sich mit dem einen bestimmten Faktor vorhersagen lĂ€sst. Je grĂ¶ĂŸer die Prozentzahl, desto mehr hat der Faktor in der untersuchten Stichprobe zu den Unterschieden beigetragen.

Watsons Theorie besagt, dass alle Unterschiede ausschließlich von der Erziehung abhĂ€ngen. Eineiige, getrennt aufgewachsene Zwillinge dĂŒrften sich nicht Ă€hnlicher sein als irgendwelche anderen Menschen. HĂ€tte er Recht, lĂ€ge die durch Erziehung aufgeklĂ€rte Varianz bei 100 Prozent, das Modell und die RealitĂ€t wĂŒrden sich komplett decken. Gleichzeitig lĂ€ge der Erblichkeitskoeffizient bei null Prozent, die genetische Ausstattung hĂ€tte keinen Einfluss.

TatsĂ€chlich erreichte Watsons Modell je nach Studie nur 20 bis 50 Prozent Deckungsgleichheit, der Erblichkeitskoeffizient lag bei 50 bis 80. Watson lag falsch mit seiner Vorstellung, das konnten die Zwillingsstudien eindeutig belegen. Niemals hĂ€tte er es geschafft, ein beliebiges Kind zu einem beliebigen IQ zu erziehen. Denn auch zweieiige Zwillinge und Geschwister sind sich noch Ă€hnlicher, als sich durch Erziehung erklĂ€ren lĂ€sst. Diesen Befund begrĂŒndeten Wissenschaftler vage mit den „Erbanlagen“.

Auch Sarrazin kennt diese 50 bis 80 Prozent, immer wieder zitiert er diese Zahl. Gerne erklĂ€rt er auch, was sie seiner Meinung nach sagen soll: „Das heißt, wenn die Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich ist, dann ist der Rest von 20 Prozent bis 50 Prozent umweltbedingt.“ Ganz selbstverstĂ€ndlich ĂŒbergeht er dabei, dass 50 Prozent aufgeklĂ€rte Varianz nicht dasselbe sind wie 50 Prozent der Intelligenz an sich. In Sarrazins Vorstellung setzt Intelligenz sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, so wie ein Turm aus Bauklötzen. 50 bis 80 Prozent der Bauklötze entsprechen denen, die auch die Eltern schon hatten. Wie groß sie sind, ist Schicksal. Man erbt sie zusammen mit Haarfarbe und knubbeligen Knien. Wenn die Eltern nur miese Erbanlagen bieten können – Pech gehabt. Die ĂŒbrigen Bauklötze sammelt man in der Kindheit. Gute KindergĂ€rten liefern grĂ¶ĂŸere Klötze als schlechte, der Fernseher liefert kleine Klötzchen, die Musikschule riesige.

Das große Problem an dieser Idee ist, dass Vererbung so nicht funktioniert. Die Erbanlagen sind nicht dasselbe wie die MerkmalsausprĂ€gung, auch wenn Bio­lehrer es bei Mendels Erbsenzucht gerne so darstellen. Aus ein und derselben Erbanlage können je nach UmwelteinflĂŒssen unterschiedliche MerkmalsausprĂ€gungen entstehen.
Besonders anschaulich kann man dies an einer eigenen kleinen Erbsenzucht verdeutlichen: Je nachdem, wie hell und warm beispielsweise selbst gesĂ€te Erbsen stehen oder wie gut sie gegossen werden, kann die GrĂ¶ĂŸe der PflĂ€nzchen schwanken. Das Ergebnis hĂ€ngt immer von beidem, Erbanlagen und Umweltbedingungen, ab. Erbanlagen bestimmen die Intelligenz ebenso viel oder wenig wie eine Plattensammlung den Erfolg eines DJ. Sie stellen das Potential dar, was davon tatsĂ€chlich zur Anwendung kommt, entscheiden andere Faktoren. Aus identischen Erbanlagen, das haben die Zwillingsstudien gezeigt, kann eine niedrige oder hohe Intelligenz entstehen. Entscheidend ist, wie die Erbanlagen „benutzt“ werden.

Wenn Kinder wie Karl und Sandra unterschiedliche Intelligenzquotienten haben, kann das verschiedene Ursachen haben: Im einen Extrem hatten sie gleiche Erbanlagen, diese wurden aber unterschiedlich gut ausgeschöpft. Im anderen Extrem wurden zwar beide Erbanlagen optimal ausgeschöpft, sie gaben aber unterschiedlich viel her. Sarrazin mit seinem Bauklötzchenmodell behauptet, dass eher Letzteres der Fall sei. Bildungspolitik könnte demnach die Intelligenz nur wenig beeinflussen.

Diese Idee ist Unsinn, sagen Psychologen. Der SchlĂŒssel zur Antwort ist fĂŒr sie der Erblichkeitskoeffizient, der erklĂ€rt, wie es derzeit zu Unterschieden in der Intelligenz kommt: Zum Teil unterscheiden sich unsere Kinder in ihrer Ausstattung, zum Teil wird ihr Potential auch einfach unterschiedlich gut genutzt.

Die RealitĂ€t liegt zwischen beiden Extremen. Im Augenblick sind Erbanlagen und Erziehung gleichermaßen von Bedeutung. Die Befunde sind eine Momentaufnahme, das darf man nicht vergessen. Bildungspolitik könnte sie in Zukunft verĂ€ndern, indem sie fĂŒr eine optimale Ausnutzung aller Erbanlagen sorgt.

Karl und Sandra haben unterschiedliche Intelligenzquotienten, und wahrscheinlich wird sich das auch auf ihre Zukunft auswirken. Karl wird den Statistiken zufolge einen höheren Schulabschluss schaffen, seine Noten werden besser sein und er wird spÀter mehr Geld verdienen.

Wenn wir aber diskutieren, warum Sandra weniger intelligent ist als Karl, sollten wir nicht bei ihren Eltern beginnen.

von Simone Mölbert
   

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