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02.02.2012

„Von Gaunern und Dieben“

In Russland erhebt sich die Bevölkerung gegen die Macht des Kremls

Meist friedlich, wie hier in Sankt Petersburg, machen die Demonstranten ihrem Ärger Luft. / Foto: Wikicommons

Am 4. Dezember hatten viele Russen genug. Nach den Duma-Wahlen und der überwältigenden Mehrheit von Vladimir Putins Partei „Einiges Russland“ gingen zehntausende auf die Straße und demonstrierten gegen Wahlfälschung, Willkür und die Dreistigkeit der Politik.

Von Fiona Byrne aus Sankt Petersburg (Russland)

„Erst habe ich noch kurz überlegt, ob ich hingehen soll. Aber dann habe ich das Gesicht von Putin in der Zeitung gesehen und dachte mir: Diesen Drecksack kann man nicht ungeschoren davon kommen lassen.“
Ein kurzes Gespräch, das ich während einer der vielen Demos in Sankt Petersburg hörte, steht stellvertretend für die Meinung vieler Russen über ihren MInisterpräsidenten Putin.

Zwei Monate vor der Wahl zum russischen Parlament, der Duma, kündigte der noch amtierende Präsident Dmitri Medwedew an, nicht mehr für das Präsidentenamt zu kandidieren. Stattdessen wolle er den Weg frei machen für Putin, damit der bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März gewinnt. Kurz vorher wurde noch das Wahlgesetz geändert, sodass Putin noch einmal Präsident werden kann, obwohl er schon zwei Amtszeiten hinter sich hat.
Viele Russen fühlten sich hinter Licht geführt, aber diese Ankündigung reichte noch nicht aus, um sie in Rage zu bringen. Politischer Protest war bisher aus Angst vor der Obrigkeit nicht weit verbreitet in Russland, stattdessen flüchten sich viele in Zynismus und Resignation. Lediglich einige kleine Oppositionsbewegungen hören nicht auf, für ein demokratisches Russland zu kämpfen. Dafür mussten sie mit Unterdrückung und Verhaftungen rechnen.

Erst bei den Wahlen zur Duma am 4. Dezember sprang der Funke auf viele verschiedene Gesellschaftsschichten über. Aus allen Teilen des Landes von Moskau bis Wladiwostok, wurde von Wahlfälschung berichtet. Wahlhelfer stellten Videos in Internet, die zeigen, wie Wahlleiter viele der abgegebenen Stimmen gegen „vorbereitete“ Zettel austauschten. Wahlzettel, auf denen „Einiges Russland“ stand – Putins Partei. 

Die Dreistigkeit, mit der die russischen Autoritäten ihrem Volk ins Gesicht logen, trieb noch in der Nacht des 4. Dezember viele Menschen auf die Straße.

In Moskau trafen sich mehrere tausend Menschen auf dem Boulevard Chestnie Prudi und auch in Petersburg demonstrierten die Menschen auf dem Pioniers-Platz. Die Forderungen waren allesamt gleich: der Rücktritt Putins und die Annullierung der Wahlen.

Am 10. Dezember, eine Woche nach der Wahl, fanden die größten Demonstrationen seit dem Ende der Sowjetunion statt. In Moskau sprach man von Zehntausenden, die teilnahmen. Nicht nur junge Aktivisten waren anzutreffen, sondern Russen aller Altersschichten: Alte, Junge, Reiche, Arme, russische Yuppies neben Babuschkas. Sie alle riefen im Chor: „Einiges Russland – Partei der Diebe und Gauner“. Die Galionsfigur der Opposition, Jurist und Blogger Alexej Nawalni, hat diesen Spruch gemünzt. Nawalni, der früher zur Oppositionspartei „Jabloko“ gehörte, treibt die bis jetzt noch unkoordinierte Masse der Demonstranten an. Manche sehen ihn schon als nächsten Präsidenten. Nawalni selbst ist davon nicht überzeugt, erst müsse eine Reform des Wahlgesetzes her, sagte er kürzlich in einem Interview. Der Oppositionelle nahm im Dezember auch an der Demonstration in Moskau teil und wurde dabei verhaftet. „Wir wurden für 15 Tage in einem Land inhaftiert und wurden in einem anderen Land wieder freigelassen“ sagte er nach seiner Freilassung.

Tatsächlich kann man von einer Zeitenwende sprechen: In einem Land, dessen Bewohner immer Angst haben mussten, sich öffentlich zur Politik zu äußern, ruft dieser charismatische Jurist den Moskauern zu: „Wenn diese Gauner und Diebe weiter lügen und stehlen, dann holen wir uns, was uns zusteht!” Ihm schallte ein lautes „Ja!“ zurück. Dies meint Nawalni allerdings nicht ganz ernst, die Demonstranten protestieren ohne Gewalt.

Putin reagierte auf die Proteste erst nach mehreren Wochen: Nicht alle könnten nun mal mit den Wahlergebnissen zufrieden sein, sagte der Dauermachthaber. Die späte Reaktion Putins könnte ein Zeichen von Angst sein. Der Kreml hat die Wut der Menschen offenbar unterschätzt. Nach anfänglicher Gewalt gegen Demonstranten in Moskau wurde die Polizei und die Miliz angehalten, möglichst freundlich zu sein. „Bitte bleiben Sie von der Straße fern“, so höflich sind russische Polizisten selten. Die Demonstrationen sind mittlerweile so groß, dass ein Niederknüppeln nicht mehr möglich ist. Für die Präsidentschaftswahl im März ist Putin somit gewarnt, der Zorn der Bevölkerung nimmt allerdings nicht ab.

Dabei haben noch vor ein paar Monaten westliche Beobachter es nicht für möglich gehalten, dass sich die Russen erheben; politische Apathie war weit verbreitet.Tatsächlich sind die Proteste eine große Überraschung, denn Obrigkeitshörigkeit – wenn auch keine freiwillige – hat in Russland starke Wurzeln.

„Willst du etwa im Gefängnis landen oder zusammengeschlagen werden?!“, fragte mich eine Freundin entsetzt, als ich sie im November fragte, ob wir nicht einmal zu einer Demonstration gehen wollen.„Demokratie wie in Europa, das ist nichts für uns, das würde bei uns nur in Chaos ausarten, wie früher.“ sagen mir russische Bekannte. „Putin ist bis jetzt das Beste, was uns passiert ist. Wer kann es besser machen? Welche Alternative haben wir? Natürlich wünsche ich mir mehr Demokratie, aber es geht gerade nicht“ fügen sie noch hinzu.

„Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“ Dieser in Russland wohlbekannte Spruch stammt von Tschernomyrdin, Ministerpräsident unter Jelzin in den 90ern, und stand bisher immer für die Unmöglichkeit der Demokratie in Russland. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR unternahm Russland seine ersten demokratischen Gehversuche, scheiterte aber kläglich. Das politische und wirtschaftliche Chaos, ebnete Putin den Weg. Im Jahr 2000 wurde er Präsident, und versprach, das Land mit starker Hand wieder zu ordnen. 

Offensichtlich mit zu starker Hand. Anfangs verschaffte ihm der wirtschaftliche Erfolg Legitimation, allerdings leidet inzwischen besonders die ärmere Bevölkerung unter der Korruption und der Willkürherrschaft der Reichen.
Dieses Mal besteht die Chance, dass sich Tschernomyrdins Aussage nicht bewahrheitet, denn die Demokratiebewegung wird von den Russen selbst getragen. Nicht nur in Sankt Petersburg und Moskau gingen die Menschen auf die Straße, sondern in ganz Russland, bis nach Wladiwostok im äußersten Osten des Landes.

Die Zersplitterung der verschiedenen Oppositionsbewegungen und -parteien ist jedoch ein Problem, das sich Putin zunutze machen wird. Bei den Protesten sieht man die schwarz-gelben Flaggen der Nationalisten, die roten der Kommunisten, die grünen der demokratischen Jabloko-Partei. Schafften es die Gruppen, sich zu einem einheitlichen Block zu bilden, der Druck auf den Kreml ausübt, könnten diese tatsächlich eine Gefahr für die Macht sein. Bisher eint sie nur der Hass auf den Kreml.

Wenn das reicht, können sich die Demonstranten in Russland in die Riege der Despotenstürzer einreihen, um vielleicht bald nicht mehr von „Gaunern und Dieben“ regiert zu werden.

   

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