"Wir bitten um Ihr Verständnis"

Heidelbergs Bibliothekssystem HEIDI wird langsam schneller

In Heidelberg kennt sie jeder Student: HEIDI, deren Name Gedanken an großartige Bergwelt und Alm-Öhi wach ruft, hat in Heidelberg allerdings andere Aufgaben, als Klara das Laufen beizubringen. Vielmehr soll sie den Studenten das lästige Herumlaufen bei der Einsichtnahme in den Buchbestand der Universitätsbibliothek, bei der Einsicht in das eigene Benutzerkonto, bei Buchbestellung, Vormerkung oder Leihfristverlängerung abnehmen.

Anfang der 80er Jahre steckte HEIDI noch in den Kinderschuhen, heute ist sie bereits eine gewichtige Dame geworden. Sie muß mit einer immer größeren Anzahl von Benutzern auskommen und hat seit 1990 eine Funktionsausweitung mitgemacht. Sie weist seitdem nicht nur die nach 1986 erschienen Bücher aus dem Buchbestand von 2,6 Mio Büchern der UB, sondern auch alle in den Heidelberger Instituts- und Seminarbibliotheken und einigen außeruniversitären Einrichtungen nach 1990 erworbenen Titel aus, was insgesamt einen Buchbestand von 5 Millionen Bänden ausmacht. Natürlich ist HEIDI noch immer zuverlässig und leicht zu bedienen, aber angesichts dieser Aufgaben sind ihre Kapazitäten schnell überschritten. Lange Wartezeiten entschuldigt sie höflich und bittet um Verständniss. Aber Zeit ist bei gestressten Studenten bekanntlich knapp und außerdem Geld, und so wird der Aufruf zum Verständnis leider oft außer acht gelassen und mit einem nun etwas aggressiveren Umgangston mit HEIDI quittiert (siehe auch unseren Artikel "Chaos in der UB?" auf Seite 4).

Um die guten Beziehungen wieder herzustellen und den altbekannten Service zu bieten, hat sich die Universitätsbibliothek nun entschlossen, HEIDI wieder flott zu machen. Seit Ende Dezember 1992 bis Mitte März 1993 laufen Testphasen mit einem neuen Betriebssystem, die in benutzerfreundlichen Zeiten, d.h. vor 8:30 und nach 16:00 Uhr, stattfinden und von HEIDI vorher auf dem Bildschirm angekündigt werden. Für diese Zeiträume kann der Benutzer auf den Abzug der Katalogdatenbank auf Mikrofiche und Papier zurückgreifen.

Nun stellt sich die bange Frage, ob wir die neue HEIDI überhaupt wiedererkennen werden, oder ob sie uns eine gänzlich neue Bildschirmeinstellung zeigen wird. Hier informiert uns Dr. Susanne Berberich, zuständig für das Referat für Öffentlichkeitsarbeit. Stolz und zufrieden äußert sich die Universitätsbibliothek und mit ihr Frau Berberich über ihr Ziehkind HEIDI, das in Heidelberg sozusagen das Licht der Welt erblickte, einzigartig ist und bundesweit eine Spitzenstellung einnimmt. Längst nicht alle Universitäten besitzen lokale EDV-Betriebssysteme, und wohl nirgends werden wir noch einmal einer solch freundlichen Maid begegnen. Und so beruhigt uns Frau Dr. Berberich: An HEIDIS Benutzerfunktionen ändert sich nichts, sie soll lediglich schneller gemacht werden. Allerdings können weder Frau Dr. Berberich noch die Informatiker jetzt Auskunft darüber geben, um wieviel schneller HEIDI denn jetzt überhaupt werden kann. Und hier müssen wir uns doch an den Tip der freundlichen Bibliotheksangestellten erinnern, die uns riet, erst im März über HEIDI zu schreiben, denn noch gäbe es ja nichts Positives zu berichten. (io)


Besuch aus Zürich

Die Zürcher Unternehmensberatung Hayek hat sich bei der Ausschreibung der baden-württembergischen Landes-regierung zur Durchleuchtung verschiedener Physik- und Germanistikfakultäten im Lande durchgesetzt.

Die schweizerischen Consultants erhielten Ende Januar damit den Auftrag, unter anderem auch die Heidelberger Physik-Fakultät auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit von Personal- und Sachmitteln zu untersuchen.

Wie in ruprecht 21 ausführlich berichtet, hatten CDU und SPD in ihren Koalitionsvereinbarungen festgehalten, zur "Steigerung der Effezienz und Wirtschaftlichkeit des Personal- und Raumeinsatzes" sollten "externe Fachleute" eine der großen Universitäten im Ländle durchleuchten. Schließlich wurde der Umfang der Betriebsprüfung ausgeweitet; nun sollten mehrere Hochschulen und vorrangig die Fakultäten der Germanistiik und Physik unter die Lupe genommen werden.

Um den Auftrag hatten sich 16 zum Teil sehr bekannte Unternehmensberatungen bemüht. Für die Wirtschaftsprüfer tut sich nämlich hier großer potentieller Markt auf: Kommt die Durchleuchtung des Bildungssektors durch externe Berater weiter in Mode (in Nordrhein-Westfalen hat die Kienbaum-Unter-nehmensberatung bereits das Schul-system unter die Lupe genommen), so haben natürlich diejenigen Consultants die Nase vorn, die schon Erfahrungen auf diesem Gebiet haben. Hayek konnte jetzt schon Untersuchungen vorweisen, die die Firma an der Basler Universität und der Technischen Hochschule in Lausanne durchgeführt hat.

Die Untersuchung soll Ende Februar mit den ersten Treffen zwischen den Unternehmensberatern und Fakultätsangehörigen beginnen. Erstaunlicherweise ist noch nicht klar, ob auch Studierende bei dieser ersten Beschnupperung dabeisein werden. Bis zum November werde sich die Consultants dann in den Fakultäten umsehen.

Obwohl die Durchleuchtung natürlich ein von der öffentlichen Hand finanzierter Auftrag ist, wehrt man sich im Wissenschaftsministerium übrigens dagegen, einfachen Studenten den Preis für die Bemühungen der Prüfer zu verraten.

(hn)


Brentano am Fenster

Günther Coufal gewinnt das erste 20.000-Mark-Stipendium

"O Krösus, der Mensch ist eitel und Zufall”, so schreibt noch Herodot. Kein Zufall dieser Art ist der Preisträger des ersten Brentano-Stipendiums der Stadt Heidelberg für das Jahr 1993, Günther Coufal aus Esslingen. Er erhielt für die Erzählung "Am Fenster” nach kontroverser Diskussion die Auszeichnung von fünf der sieben Juroren zugesprochen.

Seine Geschichte ist das furiose Protokoll einer Selbstauslöschung. In immer neuen Gedankenausläufern und in sich steigernder Intensität läuft der Monolog des Erzählers auf einen finalen Zustand zu - die Philosophie einer radikalen Daseinsverneinung, die nur noch eine Art hellsichtigen Fatalismus gegenüber dem dunklen Chaos des Geschehens zuläßt. Der Ich-Erzähler des Textes, der in zynischer Heiterkeit seine von unbestimmter Krankheit ausgelösten körperlichen Verfallssymptome protokolliert, kehrt jeder Art von Gesellschaftlichkeit und der Welt schlechthin den Rücken zu. Die Radikalität dieser Darstellung menschlichen Denkens weist in der Tradition auf Autoren wie Beckett und Bernhard zurück. Sie steht jedoch in ihrer formal die Gedankengänge spiegelnden Darstellung singulär unter den Bewerbungen. Daher erhielt sie von der unter anderen aus Benedikt Erenz von der "Zeit” und Michael Braun formierten Jury, die auch aus drei Studenten des Germanistischen Seminars bestand, unter Dis-kussionsleitung von Michael Buselmeier das Stipendium. Die öffentliche Preisverleihung findet am 21. April dieses Jahres statt.

Eckhart H. Nickel


Ein Flug für Deine Meinung

ruprecht ist Eure Zeitung und unser Geschenk an Euch. Wir wollen wissen, ob wir Euren Geschmack getroffen haben oder ob wir Altpapier produzieren. Weil die Kritik bisher hauptsächlich aus dem Bekanntenkreis kommt, haben wir uns entschlossen, eine Umfrage zu starten. Der Fragebogen befindet sich auf der letzten Seite. Mitmachen lohnt sich: Unter den Einsendern werden zwei Freiflüge nach Paris, Rom, London oder Kopenhagen verlost.

Wir bitten nicht um Euer Verständnis, sondern um eine ehrliche Meinung. Dann erfahren wir ja vielleicht, wie wichtig sich ruprecht nehmen darf. Die Entscheidung liegt in jedem Fall bei Euch.


Wir warten nur noch auf Dich.

ruprecht, die Heidelberger Student(inn)en-Zeitung, sucht noch Mitarbeiter(inn)en. Ruf uns doch mal an: 26181 (Harald), 21361 (Bertram) oder 183321 (Nina).


Vollversammlung

Für Dienstag, den 9. 2. um 17.00 Uhr hat die Fachschaftskonferenz zu einer Vollversammlung der Studierenden in der der Aula der Neuen Universität eingeladen. Auf der Tagesordnung stehen zwei Themen:

- Im Hinblick auf den bevorstehenden Bildungsgipfel soll eine Erklärung der Heidelberger Studierenden zur Reformie-rung der Hochschule verabschiedet werden. Ein Arbeitskreis der FSK wird Thesen als Grundlagen für Diskussion und Abstimmung formulieren (man trifft sich am Sonntag um 11 Uhr im Fachschafts-büro, Lauerstr. 1; Interessierte sind ausdrücklich eingeladen).

- Das Kommunalreferat will über die weitere Position der Studierenden zum Studi-Ticket in den Verhandlungen mit dem Verkehrsverbund Rhein-Neckar abstimmen lassen. Zur Zeit verlangt der VRN einen erhöhten Semesterbeitrag von 20 DM für alle Studierenden dafür, daß dann jeder für 100 DM eine Semsterkarte für das ganze Gebiet kaufen kann. Auf die Forderung der FSK, zu diesem Preis zusätzlich allen Studierenden den Kinderfahrpreis in den Bussen und Bahnen zu ermöglichen, will der VRN bisher nicht eingehen. Es stellt sich die Frage, ob dies FSK zunächst auf das Angebot ohne den Kinderfahrpreis eingehen soll, um endlich die Einführung des Ticket zu erreichen (das wäre dann für das Wintersemester 93/94 zu schaffen).

(hn)


Zimmer ohne Aussicht

Wagenburg von der Räumung bedroht

20 zusätzliche Wohnungssuchende würden in Heidelberg sicherlich niemandem mehr auffallen.

Das mag auch der Grund dafür sein, warum es für die Wagenburg am Nordrand des Neuenheimer Feldes immer noch keine rechtlich abgesicherte Standort-Lösung gibt (siehe ruprecht 17-19).

Nachdem die Bereitstellung eines Grundstückes in Rohrbach im Oktober gescheitert war, weil auch die SPD-Stadtratsfraktion Beate Weber in diesem Punkt nicht unterstützte (in der CDU wurden die mobilen Zimmer ohnehin "Heidelberger Slums” genannt), fürchten die Bewohner der Wagenburg jetzt, daß sie es sehr bald mit einer Räu-mungsanordnung zu tun haben könnten.

Das Grundstück, auf dem die rollenden Häuser jetzt stehen, gehört zwar dem Land Baden-Würtemberg, und im zuständigen Staatlichen Liegenschaftsamt hatte man den Wagenburg'lern signali-siert, daß sie auf jeden Fall im Winter und - sollte kein direkter Druck aus Stuttgart kommen - auch darüber hinaus keine Schwierigkeiten zu befürchten hätten. "Genau dieser Druck aber”, meint ein Vertreter der Wagenbewohner, "scheint jetzt aus der Landeshauptstadt zu kommen. Wir müssen befürchten, daß die Stadt vom Land bald dazu aufgefordert wird, unser Gelände zu räumen.”

Demonstration

Wagenburgbewohner und Fach-schaftskonferenz haben für den 6. Februar um 14 Uhr zu einer Demonstration in der Poststr./Stadtbibiliothek aufgerufen, um für den Erhalt der "Siedlung” zu streiten. (hn)


Leserbrief

Dieser Leserbrief bezieht sich nicht auf einstmal Geschriebenes, sondern vielmehr auf die Ausgabe, die der Lesende in diesem Augenblick vor sich liegen hat. Ohne sie gelesen zu haben, möchte ich beschreiben, was an dieser Ausgabe so außerordentlich durchschnittlich ist, um dann im abschließenenden Satz zu begründen, warum sie so durchschnittlich ist.

Bis zur letzten Ausgabe dieser Zeitung war ich Redakteur dieser Zeitung und bedaure es, ihr nicht mehr anzugehören. Was für eine Zeitung hätte dies sein können?

Von denen, die sie machen, möchte keiner an dieser Zeitung verdienen, und für einige Redakteure mag die Aussicht einer späteren Beschäftigung bei einer größeren, wichtigeren Tageszeitung Motivation genung sein für ihre Mühen. Zugleich sollte jedoch allen klar sein, daß keine Zeitung so klein und unkonventionell sein kann, wie diese erfolgreiche Studentenzeitung es ist. Jeder Redakteur prägt sie mit. Diese Möglichkeit der Mitgestaltung eines uniweiten Projekts hat man selten, daher sollte die Zeitung Ruprecht nicht Sprungbrett zu einer zukünftigen Zeitung sein, sondern zuallererst die bestmögliche Zeitung, die ein Studierender zu machen sich vorstellen kann. Aber zurück zu den Möglichkeiten, die dieser Zeitung gegeben sind.

Unter den Redakteuren, in der Regel mindestens vier, höchsten etwa zehn, gibt es immer einmal wieder welche, die schlauer sind als andere, die Entwicklungen nicht hinterher laufen, sondern die vielleicht ein wenig vorauszublicken imstande sind. So zahlreich sind die Ereignisse und Entwicklungen, die sich heute zutragen, daß nur wenige Studenten sie zu verstehen und zu beobachten die Möglichkeit haben. Wirtschaftlich etwa, werden viele Vorgänge von der Masse der Studenten frühestens verstanden, nachdem sie erst in der Rhein-Neckar Zeitung zu lesen waren. Das ist doch zu spät! Lassen sich Kriege, gesellschaftliche Entwicklungen, Mode, wirtschaftliche Nachrichten und politische Entscheidungen erst begreifen, wenn man sie durch die etablierten Nachrichten-Medien aufnimmt. Das geistige Potential zum frühen Erkennen ist an den Universitäten vorhanden, und helle Köpfe laufen in jeder Stadt ab 100000 Einwohnern genug herum, um eine intelligente Zeitung zu machen und Forum für Neuigkeiten zu sein.

Jedoch bin ich es müde zu hören: "Diese Zeitung sollte studentischer sein”, oder, "Schreibt, Hauptsache die Zeitung wird voll.” Sie wird nicht deshalb gelesen, weil sie das Wort Stzudentinnen in ihrem Titel führt. Eine Studentenzeitung wird nicht deshalb studentischer, indem man nur über Studenten schreibt, ssondern eine Zeitung ist eine Studen-tenzeitung, wenn sie von Studenten gelesen und gemocht wird, weil sie über Dinge spricht, die Studenten angehen, und vor allem, weil sie gut ist. ´Gut sein´heißt hier auch Profil zeigen, verstören nicht mitschwimmen, durch Mut gefallen, nicht durch Anbiedern oder Schmeicheln. Besonders in der heutigen Zeit ist es wichtig, sich zu erheben und sich nicht im alltagsgrau selbst zu besäuseln. Nebenbei, das Beste am Unimut ist es, daß er auf Umweltpapier gedruckt wird.

So wie diese vorliegende Ausgabe erscheinen mag, ist sie wohl ein genaues Abbild der Gesellschaft in der wir leben. Sie könnte so viel mehr sein, doch ist sie tatsächlich blaß, harmlos langweilig und mangelt es ihr an der Komponente des Individualistischen. Da ich diese Zeilen schreibe, kann ich die vorliegende Ausgabe eigentlich nicht beurteilen. So möge der Leser selbst urteilen und sich selbst vor die Wahl stellen, welchen Schrei er bevorzugt: "Die Zeitung muß studentischer sein” oder "Aufhören, Aufhören!”. Der Ruprecht ist schwer geworden an Anzeigen und steht dank dessen auf einer soliden finanziellen Basis, doch scheinen einige Redakteure diesem Punkt zuviel Gewicht beizumessen. Anzeigen sind ein notwendiges Übel, um eine gute Zeitung zu finanzieren, mehr nicht.

Warum nicht folgende Vision einer guten Zeitung für Studenten:

_ Bestehend aus einem Wirtschaftsteil. Vieles von gesellschaftlich relevanter Größenordnung läßt sich durch die Betrachtung der wirtschaftlichen Lebens-bedingungen besser verstehen. Warum nicht versuchen einem Medizinstudenten klar zu machen, wie es zu einer Gesund-heitsreform kommt.

- Bestehend aus einem politischen Teil. Nicht jeder studiert Jura. Vieles in der heutigen Zeit und besonders in Deutschland wird durch die Regeln des Verfassungsstaates geprägt. Warum nicht aussprechen, was man begreift?

- Bestehend aus einem Hochschulteil. Was geht hinter den verschlossenen Türen einzelner Fakultäten vor sich? Warum nicht darüber sprechen, daß der Jahreshaushalt des Unternehmens Universität Heidelberg über eine Milliarde DM liegt und wie er verteilt wird? Die Professoren, dabei sind Menschen mit dummen Fehlern und sympathischen Eigenschaften, sind da schon eine Größenordnung kleiner und viel uninteressanter.

- Bestehend aus einem Kulturteil, meines erachtens der wichtigste Teil einer studentischen Zeitung. Wichtig ist der Kulturteil nicht, wie so peinlich mißverstanden, um zu unterhalten, damit auch der hochschulpolitische Teil der Zeitung gelesen wede, ("phui on that!”), sondern um zu unterhalten - der Unterhaltung selbst willen, um zu bilden - der Bildung selbst willen, und um zu verschönern, wo es zu verschönern gilt, denn das ist überall und zu allen Zeiten angebracht.

Diese Sätze mögen klingen nach einer enttäuschten Liebe, doch kann man auch in einem solchen Fall noch dankbar sein für eine solche Empfindung. Ich wünsche mir sehr, die vorliegende Ausgabe sei nicht so langweilig, und meine Vorahnung werde nicht erfüllt. Ich fürchte jedoch, dem wird nicht so sein, und in diesem Fall wäre der Grund für die Durchschnittlichkeit dieser Zeitung der, daß die Leute. die diese Zeitung machen, eben so durchschnittlich sind; und Durchschnitt ist nun einmal nicht gut genug.

Adieu Alexander Paquet

Alexander Paquet war bis zur letzten Ausgabe Redakteur des ruprecht. Er schrieb über James Joyce und Dolf Sternberger und interviewte Prof. Michael Steinhausen. Vor allem aber war er Autor bzw. Co-Autor der mehrteiligen "Phänomenologie des Schönen", z.B. Teil 6: "Das Soulschiff fährt den Fluß hinauf".


Editorial

Wochen im Treibhaus. Das Kondenswasser läuft an den Scheiben herunter. Aus der grauen Feuchtigkeit wird ein graues Gefühl. Die Zukunft setzt Rost an. Nur die Vergangenheit scheint noch ergreifend. Am 30. Januar reißen die Wolken auf. Der Mond liegt schief und spiegelt sich in den gefrorenen Pfützen. Ergreifung war schon immer die falsche Vokabel, wenn man etwas aus der Hand gibt; nicht rutschen läßt oder verliert sondern weggibt, weil man es nie richtig begriffen hat.

Immer ist jetzt, wo sich gestern und heute vermischen, im Bummelzug Richtung Schönheit.Was ist uns eigentlich Häßliches passiert, daß wir uns so nach Schönheit sehnen müssen. Young and strong on the wings of tomorrow. Es ist doch nur der Außendruck, der unsere Ausdehnung verhindert. Von innen heraus. Gegeneinander. Nach einem einfachen Plan, den wir nicht entworfen haben, aber auch nicht verwerfen zu können scheinen. Die Zeit auf unserer Seite. Das ist unser Paradox.

Was geht denn hinter den verschlossenen Türen vor, die uns verschlossen bleiben sollen, die jetzt erst richtig verammelt werden sollen, weil jemand davor steht. Und auf welcher Seite der Tür stehen wir denn? Können wir nicht rein oder raus oder beides. Eine Hand gibt die andere. Nur so können wir uns begreifen.

Im Eis auf den Pfützen spiegeln sich Sterne. Ergreifend.


Richtigstellung

Im Artikel "Kein Asyl in Neuenheim” auf der ersten Seite von ruprecht 21 er-schienen auch Auszüge aus einem Telefoninterview, das ruprecht mit Dr. Christiane Sakmann führte. Vom wortwörtlichen Verlauf dieses Gesprächs entstanden später unterschiedliche Auffassungen. Während unsere Redakteurin sich die strittigen Sätze in der Tat notiert und auch nur daher veröffentlicht hatte, bestreitet Frau Dr. Sakmann unter Anführung von Zeugen diese Äußerung. In diesem Zusam-menhang veröffentlicht ruprecht folgende

Richtigstellung

Der im Telefoninterview wiedergegebene Satz bezüglich Durchgangsaylanten wurde von mir nicht geäußert. Dafür sind zwei Zeugen vorhanden. Offenbar wurde er von der Redakteurin hinzugefügt.

Dr. Christiane Sakmann


Heidelberg


Sommer in der Stadt

Am Montag wird Oberbürgermeisterin Weber ihr neues verkehrspolitisches Konzept im Gemeinderat zur Ab-stimmung vorlegen. Es sieht die Sper-rung der gesamten Heidelberger Innen-stadt - zwischen Karlstor und Bismark-platz - für den Kraftverkehr vor.

Mit diesem Konzept setzt Beate Weber einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einer autofreien Stadt und der damit verbundenen Senkung der Schadstoffwerte in der Luft.

Neben der Totalsperrung des Innen-stadtbereichs für den Autoverkehr ist ein Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes geplant, in das bis zum Jahr 2003 jährlich 8 Millionen Mark investiert werden sollen. Diese Kosten können größtenteils aus der im letzten Jahr um 1,50 DM erhöhten Mineralölsteuer finanziert werden. Für die Pendler, die sich täglich durch Heidelberg drängen, soll eine Neckartal-S-Bahn eingerichtet werden, die durch den frei werdenden Tunnel zwischen Karlstor und Ebert Anlage geführt werden soll.

Die zahlreichen Parkhäuser, die, wie Frau Weber feststellte "fast die gesamte Altstadt unterkellern”, verlieren dagegen ihre Bedeutung. Sie schlägt daher ein Entschädigungsprogramm für Heidelbergs Parkhausgesellschaften vor. Teilweise könnten die Parkplätze zu günstigen Preisen an die Anwohner vermietet werden. Darüber hinaus sieht die OB die Möglichkeit, die Parkhausflächen beispielsweise zu Kegelbahnen, Eiskunstlaufhallen und Discotheken umzubauen. Einer "Über-möblierung als Fußgängerzonen” will sie durch Begrünung und den Ausbau von Radwegen entgegenwirken.

Für den Karlsplatz ist ein Architekturwettbewerb im Gespräch. Das oberste Stockwerk des sich darunter befindlichen Parkhauses soll in ein Amphitheater umgebaut werden, in dem im Sommer Konzerte und Theateraufführungen stattfinden können.

Astrid Möslinger


Impressum

ruprecht, die Heidelberger Student(inn)enzeitung, erscheint zweimal im Semester, Anfang Mai und Anfang Juli, Mitte November und Ende Januar. Wir treffen uns während des Semester jeden Montag um 20.00 Uhr im Studihaus. Für namentlich gekennzeichnete Artikel übernimmt der Autor bzw. die Autorin die Verantwortung.

V.i.S.d.P.: Frank Barsch, Turnerstraße 175, 6900 Heidelberg.

ruprecht-Logo: Bertram Eisenhauer.

Anzeigenredaktion: Harald Nikolaus, Tel./Fax: 06221/26181.

Redaktionsadresse: Bertram Eisenhauer, Kaiserstraße 57, Tel.: 21361.

Druck: Caro-Druck, Kassler Str. 1a, 6000 Frankfurt a. M.

Auflage: 6000

Die Redaktion: Till Bärnighausen, Frank Barsch (fb), Bertram Eisenhauer (bpe), Susanne Förster (sf), Axel Hesse (ah), Oliver T. Hoffmann (oth), Harald Nikolaus (hn), Inken Otto (io), Annika Ramm (ar), Katharina Schattling (ks)

Freie Mitarbeiter: Tong-Jin Smith, Markus Collalti, Iris Zimmermann, Tanja Ruhnke, Eckhard H. Nickel

Redaktionsschluß für Nr. 23: 26.4.


Das Letzte

"1 ½ ZKB-Wohnung, möbl, ca 35 qm, im Herzen Heidelbergs, frisch renoviert, an freizügige, junge Frau/Studentin preiswert zu vermieten. Ausführliche, offene Zuschriften mit Mietvorstellung usw. BmB. Chiffre ..."

"Ruhiger, lieber Junge, 23 Jahre jung, fleißig (d.h: berufstätig), Asylbewerber aus Kroatien (Sozialamt garantiert Mietzahlungen) putzt Ihre Treppe, führt Ihren Hund aus, macht Babysitting etc. wenn Sie ihm eine 1-2 Zi.-Wohnung vermieten (bis 500,- warm). 0621/..."

aus: Sperrmüll 5/93


Aus dem Gruselkabinett

Mehr Vorschläge zur Reformierung des Studiums

Wann wird es ernst mit welchem Vorschlag zur Reformierung der Hochschulen? Wem ist es ernst mit welchen Einwürfen? Wer ist nach unzähligen nicht umgesetzten Ankündigungen noch ernst zu nehmen?

Zum eigentlich bevorstehenden, aber immer noch nicht realisierten Bildungsgipfel - einem von der Bundesregierung inszenierten Treffen von Experten und Politikern zur Bildungspolitik, bei dem die Hauptbetroffenen, die Studierenden, nicht eingeladen sind - liegen von verschiedenen Gremien Papiere zur Reform der Elitebildungsanstalten vor: Die Hochschulrektoren-konferenz hat ebenso wie das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft Vorschläge zur Weiterentwicklung von Unis und FH's gemacht. Auch die Konferenzen der Länderfinanzminister und der Kultusminister haben jüngst wieder Papiere herausgebracht. Der Wissenschaftsrat - ein bundesweit aus Wissenschaftlern, Bundes- und Landesregierungsvertretern zusammengestelltes Gremium, das Vorschläge zur Hochschulpolitik and Bund und Länder reicht - ließ seine Vorschläge im Dezember publik werden. ruprecht hat Positionen und Vorschläge verschiedener Gremien und Institutionen zusammengestellt, um den geneigten Lesern und Leserinnen einen Überblick über die aktuelle Diskussion zu geben.

Verkürzung

Die Verkürzung der Studienzeiten ist für alle Gremien ein zentrales Thema - der pflege-leichte Kurzzeitstudierende ist das Ideal für das nächste Jahrtausend.

Die Regelstudienzeiten sollen verbindlich und mit Sanktionen durchgesetzt werden: Wer sich nach dem 8. Semester nicht zur ersten berufs-qualifizierenden Prüfung meldet, sollte man nach Meinung des Bundesbildungsministeriums zwangsexmatrikuliert werden. Auch die Kultusminster- und Finanzminister-konferenzen wollen das Studium stark nach Prüfungsterminen, Prüfungsdauer und festgelegten Semesterwoche-nstunden strukturieren. Regel-studienzeiten sollen auch hier zu Pflichtstudienzeiten wer-den; Studierende, die sich nicht an diese Zeiten halten, sollen nach 2 Semestern verstoßen werden.

Mit einer Straffung des Studiums werden auch verschiedene Vorschläge zur Einführung von Studiengebühren begründet. Entweder sollen wieder es wieder die Lang-zeitstudenten (oder die Kinder erziehenden Studierenden; oder diejenigen Studierenden, die nebenbei arbeiten müssen und deshalb nicht 3 Vorlesungen am Tag vor- und nachbereiten können) sein, die nach einer Überschreitung der Regelstudienzeit zur Kasse gebeten werden. Oder es trifft gleich alle: 1000 DM pro Semester sollen der akademische Nachwuchs für den Besuch der Universität bezahlen, wenn es nach einem Maßnahmen-konzept geht, das der Wissenschaftsrat vorgelegt hat. Das Gremium hält es für gesellschaftspolitisch kaum vertretbar, das Studium gratis anzubieten. Außerdem hofft man auf die Entwicklung einer "Konsumentensouveränität”, mit der die Studierenden "Lehrleistung abrufen können”. Aber wer wird die Lehrleistung für die selbstbewußten Nachfrager bieten, wenn in der Forschung immer noch viel mehr Lorbeeren zu holen sind?

2-stufiges Studium

Alle Gremien wollen das Studium in eine berufs-qualifizierende Ausbildung in den ersten acht Semestern einerseits und eine "wissenschaftlich orien-tierte” Hochschulausbildung nach diesem ersten Abschluß andererseits gliedern. So sollen schon früh diejenigen die Uni verlassen, die eben nur eine Berufs-ausbildung wollen (oder sich finanziell nur acht Semester Berufsausbildung leisten können).

In die gleiche Richtung gehen die ebenfalls von Kultusministern, Finanzministern, Rektoren, Bundesbildungsbeamten und Wissenschaftsräten propagierten Vorschläge, die Fachhochschulen allgemein und gegenüber den Universitäten zu stärken. Zwischen 30 und 40% aller Studierenden sollen künftig eine Fachhochschule besuchen. Das bedeutet natürlich eine Aufstockung der Mittel für diese Hochschulen; zwar wird gleichzeitig darauf hingewiesen, daß auch die Universitäten einen Ausbau ihrer Mittel braucht, aber in Zeiten knapper Kassen kann die Stärkung der Fachhochschulen eigentlich nur auf Kosten der Universitäten gehen.

Der Druck nimmt zu

Die bisher gemachten Reformvorschläge bedeuten natürlich, das der Druck auf die Studierenden auf jeden Fall zunehmen wird. Denn viele werden sich, vor allem wenn die Sanktionen bei der Überschreitung von Regelstudienzeiten Wirklichkeit werden, zwischen einem Studium auf der einen Seite oder drei Mahlzeiten und einem eigenen Bett auf der anderen Seite entscheiden müssen - denn ohne Nebenverdienst ist es manchem bekanntlich gar nicht mehr möglich, zu studieren. Kommt gar eine Studiengebühr hinzu, so werden noch mehr Leute ausgegrenzt. Und den selbstgeschaffenen Langzeitstudenten, jene Leute also, die zu oft aus notwendigen Praktika gelost wurden, jene Leute, die zu lange auf Prüfungstermine warten müssen, muß die Tatsache, daß Ihnen jetzt das Messer Regelstudienzeit an die Kehle gelegt wird, wie ein schlechter Witz vorkommen.

Nach der Meinung der Studierenden wird so gut wie nie gefragt. Wenn sie trotzdem mitgestalten wollen, werden sich sehr bald artikulieren müssen. Die nächste Gelegenheit dazu kommt schon bald: Je voller die nächste Vollversammlung ist, desto stärker wird das Signal sein, das von dort nach Stuttgart und nach Bonn geht.

(hn)

Karikatur von Oliver Hoffmann


Chaos in der UB?

Ein Streifzug durch eine technische Wunderwelt

Lange Antwortszeiten - häufige Ausfälle - von einem neuen Be-triebssystem ist die Rede - Testphasen zwingen den EDV-Benutzer, auf altertümliche Katalogsysteme umzusteigen (siehe unseren Artikel auf Seite 1). Chaos in der UB ? ruprecht ging der Sache nach. Man begab sich in die UB.

Erste Station: HEIDI.

Leises Stimmengewirr, Menschen, eifrig in Katalogen blätternd, stehend, sitzend, die Blicke auf Bildschirme gerichtet. So erwarteten uns die Terminals des Heidelberger Betriebssystem, den Studenten auch als HEIDI bekannt. Um Heidi kommt niemand mehr herum.

HEIDI contra OLAF

Doch wird die Zahl derer immer größer, die mit bitterer Entschlossenheit versuchen, HEIDI zu umgehen. Bei unserem Rundgang durch die UB wurden emotionsgeladene und kritische Stimmen laut: "Ich werde da wahnsinnig bei." "Gerade eben ging plötzlich gar nichts mehr." "Mit OLAF in der Badischen Landesbibliothek läßt es sich wesentlich besser arbeiten." Die langen Antwortszeiten sind anscheinend noch das Wenigste; weiterhin fehle es an einer detaillierten Bedienungsanleitung, und die Bücher seien nicht ordentlich erfasst. Befragt man Benutzer nach den Ursachen, so wird deutlich, daß die umfangreiche Informationsarbeit der UB nicht immer gewirkt hat: "Das ist so, weil jetzt die neuen Computer da stehen." Die Unzufriedenheit äußert sich in einem verstärkten Andrang an den Zettelkatalogen.

Unser Interesse für die Vorgänge in der UB war geweckt. Weiter ging´s in die höheren Etagen. War auch dort das Chaos ausgebrochen? Und siehe da: Hektik und Betriebsamkeit waren verschwunden. Nur vereinzelt noch sahen wir Studenten. Wir hatten ein komplizierteres Feld betreten: weitaus unnahbarer und undurchschaubarer als HEIDI erschienen uns Dyabola, Eric, Alice CD und andere. Bekannt?

Dabei han-delt es sich um Daten-banken aller Fachgebiete auf CD-Roms. Auf einer Dis-kette ge-speichert, bieten sie eine Fülle von Infor-mationen: Aufsätze, Entschei-dungen, Adressen, Stichwörter, Rezen-sionen und vieles mehr können ab-gefragt werden. Ein Suchzugriff genügt. Sämtliche Nachweise zu einem Titel sind sofort erhältlich. Damit ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für die bibliographische Recherche.

Doch diese bieten sich auch bei der Buchbestellung. Hat man nämlich erstmal das Gewünschte gefunden, stellt sich die Frage, wie man an seine Bücher kommt.

Beim Hausbestand ist das kein Problem. Umständlicher wird´s bei der Fernleihe. Ein unkontrollierbarer Rücklauf kann die Zeitplanung des Recherchierenden durcheinander bringen, wenn das dringend benötigte Buch auf sich warten läßt.

Aber zum Glück gibt´s den SWB. Von Mannheim bis Konstanz bietet der Südwestdeut-sche Bib-liotheksver-bund eine Alternative zur Fernleihe. An speziell dafür vorgesehenen Terminals kann man die Bestände der einzelnen Uni-Bibliotheken abfragen und damit den gewünschten Titel ausfindig machen. Der Vorteil: Transparenz für den Benutzer. Die Kenntnis des Bestellortes läßt ihn die Lieferzeit abschätzen und seinen Zeitplan kalkulieren. Eine wichtige Hilfe für´s Studium.

Doch damit nicht genug. An unzähligen Reihen von Büchern vorbei gelangten wir zum Bonbon der Uni-Bibliothek. Vor der traumhaften Kulisse der Altstadt saßen Studenten an flimmernden Bildschirmen: wir hatten den PC-Pool erreicht. Über den Dächern von Heidelberg können hier - im EDV-Medienbereich - Seminar- und Hausarbeiten geschrieben und gedruckt sowie CD-Roms genutzt werden.

Platz- und Geldmangel

Chaos in der UB? Ein Chaos scheint es nur rund um HEIDI zu geben. Ansonsten konnten wir uns von den reibungslosen Abläufen in allen Etagen der Bibliothek überzeugen. Sicher gibt es noch einige Probleme zu bewältigen. Die steigenden Benutzerzahlen und Bestands-erweiterungen sprengen nicht nur den Rahmen von HEIDI, sondern auch die räumlichen Möglichkeiten. Es fehlt an Leseplätzen und Aufstellungsflächen; der verfügbare Platz in der Altstadt ist nahezu erschöpft.
Knapp werden auch die Finanzen; der Etatzuwachs wird die diesjährigen Preissteigerungen nicht ausgleichen können. Kürzungen - vor allem im Zeitschriftenbereich - sind zu erwarten, erklärte Dr. Hermann Josef Dörpinghaus, Direktor der UB.

Ein abschließender Blick in das tiefergelegene Archiv überzeugte uns, daß der Heidelberger Underground auch Literarisches zu bieten hat.
Der interessierte Leser, der die Angebote der UB voll nutzen möchte, sei auf die internen Veranstaltungen verwiesen: Einmal wöchentlich werden Heidi-Schulungskurse angeboten, dazu gibt´s jeden zweiten Dienstag eine Führung; das CD-Rom System kann man in einer allgemeinen oder fachbezogenen Einführung kennenlernen.

(ar/sf)


Wer macht den Doktor in Bukarest?

Schon vor der (allem Anschein nach inszenierten) Revolution 1989 konnten ausländische Studierende in Rumänien z.B. Medizin studieren. Ähnlich wie etwa auch in Budapest konnten Ausländer, die beispielsweise in Deutschland nicht lange auf einen Studienplatz warten wollten, ihren Doktor in Rumänien machen - auf Rumänisch, aber auch auf Deutsch oder Englisch. Der rumänische Staat erschloß sich damit eine verläßliche Devisenquelle, denn ausländische Studierenden mußten Schulgeld entrichten.

Die Möglichkeiten der Studierenden, sich das Studium zu gestalten, waren aber sehr eng auf den eigentlichen Studiengang begrenzt. Der Staat versuchte, den Kontakt der Ausländer zum Rest des Landes auf die Universität und den Studiengang zu beschränken. Interessierte Studenten waren, wollten sie mehr in Rumänien lernen als die Formeln ihres Faches, auf die lässige rumänische Handhabung von Vorschriften angewiesen.

Nach der Wende der ehemaligen Mitläufer zu verbal bekennenden Demokraten und freien Marktwirtschaftlern sind die Möglichkeiten, sich ein interessanten Aufenthalt in Rumänien gestalten, sehr viel größer geworden. Zwar wird vom verhältnismäßig reichen Ausländer (ein typisches Gehalt in Rumänien ist 50-100 DM) immer noch erwartet, daß er Studiengebühren bezahlt (für Medizin in Temeswar z.B. 450 DM im Monat). Dafür sind die Kosten für das tägliche Leben in Rumänien sehr viel niedriger als bei uns - wenn man nicht gerade darauf besteht, die gleichen Cornflakes und die gleiche Nutella wie daheim bei Mami zu bekommen.

Vor allem können Studierende jetzt - gerade an einer großen Universität wie z.B. in der Hauptstadt Bukarest - ihre Studieninhalte sehr stark mitgestalten (und trotzdem noch einen Abschluß bekommen): Viele Fakultäten befinden sich erst noch im Aufbau oder sind zumindest noch mitten im postsozialistischen Umbruch. Die Studierenden dürfen oder müssen hier mehr als anderswo Aufbauarbeit leisten (oder mithelfen, linientreue Professoren zu vertreiben, die sich überall noch festgebissen haben). Natürlich gibt es auch hier Prüfungsordnungen; es läßt sich aber über alles reden.

In den letzten 2 Jahren sind auch viele neue, private Universitäten gegründet worden. Hier muß man aber vorsichtig sein, weil viele noch nicht staatlich anerkannt sind und andere offensichtlich vor allem einen komfortablen Lebensstil der Gründer dienen.

Wer sich entschließt, in Rumänien zu studieren, stürzt sich in ein Abenteuer. Wo sich alles verändert (und doch der Wandel oft zu langsam geht) ist nicht die stille Studierstube, sondern das Eintauchen in das allgemeine Chaos angesagt. Aber man kann - wie z.Zt. überall in Osteuropa den Aufbau eines Landes live miterleben.

(hn)

Um sich über die Möglichkeiten für ein Studium in Rumänien zu informieren, sollte man sich nicht nur an die bekannten Anlaufstellen, wie z.B. den DAAD, wenden. Es ist auch ziemlich nützlich, direkt das Erziehungsministerium in Bukarest anzuschreiben (auf Deutsch, Englisch oder Französisch), um eine Liste der staatlichen und anerkannten privaten Universitäten zu erhalten.


Die ruprecht-Redaktion sucht ein

Zimmer

für zwei solide, zuverlässige, solvente, geduldige, aufgeschlossene, tolerante, ruhige, freundliche, humorbegabte Mitarbeiter.
Bitte rufen Sie uns doch an:
26181 oder 21361 (Tag und Nacht)


Die Bändigung der Massen

Zur Diskussion um den Lehrbetrieb

Es verlangt einen Augenblick nostalgischer Besinnung, um an die Quellen jenes reißenden Stromes zurückzukehren, der mittlerweile alle an der Hochschulpolitik Beteiligten ergriffen hat. Es war im Streikwinter 1989/90, als die Studenten unerwartet massiv wurden, um auf desolate Zustände im Lehrbetrieb aufmerksam zu machen. Überfüllte Hörsäle, Betreuungs-verhältnisse von bis zu 400 Studenten pro Professor, ein lähmender Mangel an Lehrmitteln sowie Mißstände im sozialen Bereich trieben die Studenten, manche Dozenten und ihre gemeinsamen Probleme auf die Strassen und Plätze des Landes. Fortan wurde die sogenannte "Evaluation der Lehre” ein hartnäckig kritisiertes, bislang aber auch das einzige Mittel, die Qualität der Hochschul-Lehrer zu prüfen (vgl. ruprecht 19/92).

Auf diese Weise unter Druck gesetzt, sahen sich Ministerien, Hochschulen und Verbände aufgefordert, vielfach zu reagieren. Eine Reihe von Kommissionen und Arbeitskreisen traten in Aktion, die verantwortlichen Ministerien der Länder wurden aktiv. An der Universität Heidelberg wurde ein Senatsausschuß für die Lehre ins Leben gerufen, Tutorenprogramme (zum Beispiel am Romanischen Seminar) wurden installiert.

Elite- vs. Massenuniversität

Hinter diesen Aktivitäten stehen jedoch längst nicht mehr die Interessen der Studenten an einer angemessenen Ausbildung. So heißt es beispielsweise im Schlußbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, "um besondere Belastungen der Lehrenden und Lernenden durch unverhältnismäßig hohe Prüfungszeiten zu vermeiden", sollten "die Prüfungszeiten durch bundes- und landesgesetzliche Regelungen zeitlich beschränkt werden.”Es zeichnet sich ab, daß auf Regierungsebene die Qualität der Lehre vornehmlich als quantitatives Problem diskutiert wird - Stichwort "Studentenberg" -, in der Absicht, den Hochschulbetrieb möglichst effektiv zu gestalten. Studieninhalte sollen gestrafft, Prüfungsanforderungen beschränkt und die Studentenzahlen gedrosselt werden. Dies ist der Tenor der Programme der Bundesländer zur Qualität der Lehre. Der innere Widerspruch dieses Konzeptes wird in der Neufassung des Universitätsgesetzes von Baden-Württemberg (vom 12. Mai 1992) am deutlichsten. Dort heißt es: "Sie (die Universitäten) bereiten auf berufliche Tätigkeiten vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und wissenschaftlicher Methoden erfordern. Die Universitäten fördern den wissenschaftlichen Nachwuchs.” Um diese beide Aufgaben in gleichem Maße verfolgen zu können - die Berufsausbildung im Sinne einer Massenuniversität und die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses im Sinne einer Eliteuniversität -, muß zwangsläufig ein Zweiklassen-Studium entstehen, wie es auch von einigen Politikern gefordert wird.

Hier nun sieht die im Hochschulverband organisierte Professorenschaft eine Möglichkeit, sich von der Massenuni zu verabschieden, um sich nur noch um jenen Teil der Studierenden zu kümmern, der nach akademischen Lorbeeren strebt. In einem Thesenpapier des Deutschen Hochschulverbandes klingt das so: "Die Rahmenbedingungen des Studiums sollten dem Lehrenden eine Auswahl der Lernenden zubilligen. Eine Deregulierung der akademischen Ausbildung und eine in vielen Fächern erforderliche Konzentration des Prüfungsstoffes sind anzustreben. (...) Forschung und Lehre sind untrennbar miteinander verknüpft. Gute Forschung wird häufig zu guter Lehre führen und gute Lehre nicht selten zu guter Forschung. Eine isolierte, von der Forschung abgekoppelte Begutachtung der ´Qualität der Lehre´ nach Maßgabe der Effizienz der Studiengänge und allein didaktisch orientiert ist insofern wenig hilfreich.” Hinter dieser Aussage verbirgt sich letzten Endes der Wunsch, sich von der Massenuni isolieren zu können, um sich in das Reservat wissenschaftlicher Forschung und der Lehre unter handverlesenen Studierenden zurückzukehren.

Wer aber übernimmt die Last einer effizienten, berufsorientierten Ausbildung der Massen? Merkwürdigerweise wird jener Teil des akademischen Personals, der den Löwenanteil im Lehrbetrieb bewältigt, nirgendwo erwähnt, weder in den Erlassen des Wissenschaftsministeriums noch in den Überlegungen der verschiedenen Arbeitskreise. Es geht hier um jene wissenschaftlichen Mitarbeiter und Lehrkräfte für besondere Aufgaben, die unter dem Begriff "akademischer Mittelbau” zusammengefasst sind, also um Doktoren, die an ihrer Habilitation arbeiten, oder Laufbahnbeamte, also akademische Räte; hinzu kommen Lektoren und wissenschaftliche Assistenten, die sich in der Promotion befinden. Die Soziolgen Michael Bochow und Hans Joas kamen in einer Untersuchung über diese Dozentengruppe zu erstaunlichen Ergebnissen: In der Lehre, so fanden sie heraus, sei das Grundstudium der Schwerpunkt für die Betätigung von Mittelbau; 80% aller von ihnen Befragten führten Lehrveranstaltungen im Grundstudium durch. Allerdings: Ein geringerer, aber ebenfalls sehr hoher Anteil (64%) lehrte im Hauptstudium. Erst im Zusammenhang mit diesen Zahlen kann man den berechtigten Ärger von Manfred Bartl-Dönhoff, Sprecher der Landesvertretung des akademischen Mittelbaus Bayern verstehen, der anläßlich einer Tagung im vergangenen November sagte: "Die Professoren kümmern sich hauptsächlich um die Forschung und delegieren den Großteil der kontinuierlichen Aufgaben des Lehrbetriebes an den Mittelbau.” So werden an der Neuphilologischen Fakultät in Heidelberg inzwischen zwei Drittel aller wissenschaftlichen Veranstaltungen vom akademischen Mittelbau abgehalten (siehe obenstehende Graphik).

Ohne sich als Student auf die traditionsreiche Polemik zwischen akademischer Ober- und Unterklasse einzulassen, stellt man doch fest, daß gerade jener Teil des Lehrkörpers, der im Grundstudium aktiv ist und jenes effiziente und konzentrierte Wissen eines Massenfaches vermittelt, von ministerialer Seite keinerlei Unterstützung erfährt. Und ebenso werden die Blüten der nun so zahlreich gewordenen Aktionen zur Verbesserung der Qualität der Lehre sich die Dekane, Fakultäten und Professoren in Form von Auszeichnungen und Preisen pflücken, während der Student mal wieder wenig davon hat.

Markus Collalti


"Der Mittelbau hat sich müde gekämpft"

Interview mit der Anglistin Dr. Margret Schuchard

Frau Dr. Schuchard, akademische Oberrätin am Anglistischen Seminar, ist vielen als Frauenbeauftragte der Neuphilologischen Fakultät und durch den Senatsausschuß für Frauenförderung bekannt. Sie engagiert sich aber auch in der Vereinigung akademischer Räte, als Vorstandsmitglied des Vereins der Baden-Württembergischen Wissenschaftlerinnen, als Vertreterin des akademischen Mittelbaus im kleinen und im Großen Senat der Universität Heidelberg. Das Ziel ihres Engagements ist für sie "vor allem die Verbesserung der Mitbestimmung, zunächst der Mitsprache, denn Mitbestimmung findet ohnehin nicht statt. Die Mitsprache ist schon sehr schwierig. Und eine Verbesserung der Personalstruktur bei denen, die nicht nur zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehören, sondern ich denke an die Angehörigen des Mittelbaus, die Wissenschaft als Beruf haben auf Dauerstellen. Hier muß es Beförderungsmöglichkeiten geben wie in allen anderen Berufszweigen auch, und da sind - wenn man Vergleichbares heranzieht - die Mitarbeiter des wissenschaftlichen Dienstes sehr benachteiligt.” ruprecht sprach mit ihr.

ruprecht: Von Seiten des Hochschulverbandes wurde gefordert, die Hochschullehre solle nur durch Habilitierte erfolgen. Nun ist dies schon aufgrund der Personalstruktur unmöglich. Hat Mittelbau-Lehre darüber hinaus eigene Qualitäten, die sie rechtfertigen?

Schuchard: Ich denke schon, denn diejenigen, die mit vollem Deputat unterrichten, sind in der Regel wissenschaftliche Assistenten gewesen. Sie sind in der Regel promoviert und haben sich längst in der Lehre ausgewiesen. Wenn sie nun voll in der Lehre arbeiten, ist das für ein Massenfach geradezu ein Segen. Mir erscheint es absurd, die Lehre nur auf Habilitierte beschränken zu wollen. Dann hätten wir wieder Teilnehmerzahlen in den Seminaren wie zu meiner Studienzeit von 100 bis 200 Leuten. Dann hätte die Uni das Schul-Verhältnis, von dem sie sich eigentlich absetzen wollte, das heißt einen Vortragenden und die passive Zuhörerschaft der Studierenden.

Praktika werden vollständig vom Mittelbau betreut. Bei den Philologen ist noch zu bedenken, wenn es um Fremdsprachenphilologie geht, daß auch die Sprachpraxis und die Landeskunde vermittelt werden müssen, und das geht nur durch Leute, die auf Lektorenstellen mit großer Sprachkompetenz und Einblick in die Kultur des Landes, die sie vermitteln sollen, unterrichten können. Das kann nicht auf professoraler Ebene geschehen.

Magister, Staatsexamen, Förderungsmöglichkeiten, BAföG, Leistungsnachweise, Auswahl für Auslandsstipendien, Equivalenzen, Anerkennungen, Bibliotheksangelegenheiten, Computer-Wesen, Mediathek - das sind Aufgaben, deren Wahrnehmung noch nebenbei vom Mittelbau verlangt wird.

ruprecht: Ist die Qualität der Lehre hauptsächlich vom individuellen Engagement des Lehrenden abhängig oder gibt es Rahmenbedingungen, die Einfluß auf die Lehrqualität ausüben?

Schuchard: Das ist eine Frage, auf die ich mit "sowohl als auch” antworten möchte. Das Engagement des Lehrenden ist unverzichtbar, sonst langweilen sich alle, die Lehrenden und die Lernenden, und die Provokation, über etwas nachzudenken, fällt dann aus.

Die Rahmenbedingungen sind allerdings auch sehr wichtig. Dazu gehören die Teilnehmerzahl, das Interesse der Teilnehmer, die materielle Situation der Studierenden. Wer etwa bis ein Uhr früh gearbeitet hat, um Geld zu verdienen, der ist am nächsten Vormittag im Seminar müde. Wenn man über die Verkürzung der Studienzeiten nachdenkt, muß man auch daran denken, die materiellen Bedingungen des Studierens so zu verbessern, daß ein zügiges Studium mit Konzentration auf den Stoff möglich gemacht wird.

Der akademische Mittelbau könnte, wenn er voll mitarbeitet, Hilfe gebrauchen. Wir sind zwar alle Sekretariaten zugewiesen, aber das heißt nicht, daß sie uns bei der Arbeit helfen. Unsere Schreibarbeiten müssen wir alle in der Regel selbst erledigen.

Hilfsassistenten stehen uns auch nicht zur Verfügung, und man muß seine Recherchen, zum Beispiel in der Bibliothek, die Materialbeschaffung und so weiter stets alleine machen. In der Tat gäbe es auf diesem Gebiet große Entlastungsmöglichkeiten, die wieder Freiräume schaffen würden für die eigentlichen Aufgaben der wissenschaftlichen Mitarbeiter.

Im Augenblick ist es so, daß Mittelbau-Forschung auf Kosten der eigenen Freizeit, der eigenen Ferien, der eigenen Wochenenden und manchmal der eigenen Gesundheit betrieben wird, aus Idealismus, nicht weil es irgendeiner dankt oder weil es für eine Karriere Relevanz hätte.

ruprecht: Sehen Sie Möglichkeiten, daß Engagement in der Lehre in gleichem Maße honoriert wird, egal ob dieses Engagement nun von Habilitierten oder Nichthabilitierten ausgeht, oder wird auch in Zukunft die Lehre an den Mittelbau delegiert, weil es mit ihr keine Lorbeeren zu verdienen gibt?

Schuchard: Die Initiative der Regierung hat versucht, hier mit Recht ein Gleichgewicht herzustellen. Man spricht dabei von der Formel, die Universität sei für Forschung und Lehre da. So gab es bislang nur für die Forschung Preise. Um hier einen Anreiz zu schaffen, ist in den sieben Empfehlungen der Landesregierung davon die Rede, daß besonders gute Lehre durch "Lehrpreise” ausgezeichnet werden sollen, was auch in einzelnen Fällen schon geschehen ist. Aber auch hier wird nur davon geredet, daß Lehre und Forschung Professoren-Angelegenheit ist. In der Öffentlichkeit und der universitären Politik besteht die Universität nur aus Professoren und Studierenden. Andere Mitglieder der Universität treten so gut wie nie ins Blickfeld.

Ein Großteil des akademischen Mittelbaus wurde in den sechziger Jahren, als die Uni unter dem Schlagwort "Bildungsnotstand” expandierte, eingestellt. In den siebziger Jahren wurde dem durch Einstellungs-Stop und sogar Streichungen wieder entgegengewirkt. Gleichzeitig aber stieg die Zahl der Studierenden weiter. Das heißt, der akademische Mittelbau ist in die Jahre gekommen, er hat sich müde gekämpft und sieht sich nun wieder mit einer Ordinarien-Universität konfrontiert. Die Rechte liegen bei den Ordinarien, und die anderen - ihre Bezeichnung sagt es schon - sind die, die wissenschaftliche Dienstleistungen verrichten, im Sinne von Bediensteten.

Unsere Idee von einer Universität ist aber gerade nicht die einer Hierachie, sondern einer akademischen Gemeinschaft, in der ein Austausch der Argumente stattfindet, und dies ist nicht primär an einen Status gebunden. Wenn man diesen Prozeß an den angelsächsischen Ländern mißt, ist die Universität in Deutschland auf keinem guten Weg. Hier wäre ein sehr lauter Protest am Platze. Er bleibt aus, weil die Mitglieder des Mittelbaus resignieren. Die Belastung ist ohnehin so groß, daß man schon die Wochenenden zur Bewältigung der Arbeit heranziehen muß. Wo sollen die Kräfte herkommen? Auf der anderen Seite gibt es Abwehrmechanismen von Professoren, die Privilegien nicht verlieren möchten. Wenn zudem über Jahrzehnte hinweg die gleiche Partei das Wissenschaftsministerium stellt, entstehen zwangsläufig eingefahrene Strukturen, die sehr schwer aufzubrechen sind.

Iris Zimmermann/Markus Collalti


Theater um Medien

In Heidelberg lernen die Bilder nicht laufen

"Medien- oder Massenkommunikationsmittel haben Unterhaltung, Information und Werbung nahezu monopolisiert. Sie wirken nicht nur auf das Weltbild, sondern auch auf die Wahrnehmung, Geschmack und Verhalten ihrer Benutzer ein. Arbeitsweise, Produkt und Wirkung der Medien zu erforschen ist also eine gesellschaftliche Notwendigkeit.”

Diese Worte stammen aus der Einleitung einer Projektskizze des Arbeitskreises Medienwissenschaft in Heidelberg, der die Einrichtung von Medienwissenschaft als Fach- und Studiengang an der Karl-Ruprecht Universität zum Ziel hatte. Der interdisziplinär besetzte Arbeitskreis bildete sich 1989, als die Stelle für Sprecherziehung nicht mehr besetzt wurde und Gelder für neue Projekte frei wurden. Hier wurde eine Chance gesehen, das in Baden-Württemberg bisher vernachlässigte Fach der Medienwissenschaft in Heidelberg zu etablieren. Der Arbeitskreis arbeitete in 1 1/2 Jahren eine 16-seitige Projektskizze aus, die die Inhalte und den Aufbau des Faches festlegen sollte. Geplant war eine Zusammenarbeit mit Mannheim, wo in diesem Jahr Medienwissenschaft als Studienfach eingerichtet wurde. In Heidelberg sollte Grundlagenforschung über Produkt, Produktion und Rezeption sämtlicher elektronischer Medien wie Film, Hörfunk, Fernsehen und sonstigen Bildschirmmedien getrieben werden. Es sollte ein medienwissenschaftliches Institut gegründet werden, das schon auf den Bestand der Universitätsbibliothek und dem zentralen Sprachlabor zurückgreifen könnte, wo ca. 8500 Videotitel, zwölf Arbeitsplätze für Videokassetten und zwölf für Tonkassetten vorhanden sind. Als Personal waren zwei Professoren, ein akademischer Rat und ein Assistent vorgesehen.

Der Aufbaustudiengang, der allen Studenten mit Hochschulabschluß in der Neuphilologischen Fakultät und der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften offengestanden hätte, sollte diesen die Möglichkeit bieten, sich zusätzlich als Medienwissenschaftler und Kritiker zu qualifizieren. Das Studium sollte nach vier Semestern mit der Abfassung einer schriftlichen Hausarbeit von dreimonatiger Bearbeitungsdauer und mehreren mündlichen Prüfungen abgeschlossen werden.

Will man nach einer Umfrage bei Studenten schließen, ist die Integration von Medienwissenschaft in den Lehrplan eine der meistgewünschten Neuerungen. Die Beliebtheit der medienwissenschaftlichen Veranstaltungen, die in der Neuphilologischen Fakultät und der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften bereits angeboten werden, läßt ebenfalls einige Rückschlüsse zu. In Heidelberg scheiterte der Plan eines Studienganges für Medienwissenschaft aber schon in der Fakultät, denn neben diesem Arbeitskreis gründeten sich später noch Arbeitskreise für Phonetik und Theaterwissenschaft, die ebenfalls auf ihre Existenzberechtigung pochten. Die Phonetiker taten sich mit dem schwachen Argument hervor, daß noch einige Forschungsarbeit in Hinblick auf die Erleichterung von Polizeiermittlungen zu leisten sein, während die Theaterwissenschaftler vor allem ins Felde führten, daß mit dem Dekan des Germanistischen Seminars, Prof. Borchmeyer, ein Theaterwissenschaftler an der Universität Heidelberg sei, der auf diesem Gebiet hier noch nicht gearbeitet habe. Die Abstimmung im Fakultätsrat gewann schließlich die Theaterwissenschaft, die nun als Prüfungsfach ausgeschrieben werden soll. Jedes Semester soll v.a. von Prof. Borchmeyer und Prof. Häufele eine bestimmte Anzahl von Kursen zum Bereich Theaterwissenschaft angeboten werden, so daß die Theaterwissenschaft wie z.B. auch die vergleichende Literaturwissenschaft institutsübergreifend funktioniert. Der Romanist Prof. Rothe, der sich neben seinem Fachkollegen Dr. Mecke und Prof. Groeben aus dem Psychologischen Institut für die Ausarbeitung der Projektskizze verantwortlich zeigte, sieht die Chancen auf die Einrichtung des Faches Medienwissenschaft an der Universität Heidelberg schwinden. Damit hat sich Heidelberg selbst ins Abseits bei der Erforschung eines solch umfassenden und wichtigen Gebietes wie der Medienwissenschaft getrieben.

(io)


"Meine Tochter hat laufen gelernt"

Das Jahr 1992 im Rückblick

1992 - ein ereignisreiches Jahr?

Weltweit wurden über fünfzig Kriege und noch mehr Krisenherde gezählt: Somalia, das ehemalige Jugoslawien, in den GUS-Staaten gab es Konflikte um Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, und in Israel und den besetzten Gebieten ging der Kampf der Intifada weiter. Rassen- und Stammeskämpfe in Südafrika. Afganistan und Sri Lanka blieben nicht die einzigen Konfliktherde in Asien.

In Deutschland brannten Asylbewerberheime. Nicht die Nazis von gestern, sondern die Rechten von heute zeigten sich von ihrer schlimmsten Seite. Hinzu kam die Unfähigkeit der Politiker, auf die sozialen und ökonomischen Probleme des vereinten Deutschland zu reagieren. Erst Lichterketten und Anti-Rassismus-Demonstrationen, auch in Heidelberg, und das Frankfurter Konzert für Toleranz bewiesen, daß die Deutschen nicht alle über einen rechten Kamm zu scheren sind

Aber nicht nur Deutschland hatte mit Unruhen zu kämpfen. Im Mai brachen in Los Angeles und anderen amerikanischen Großstädten Rassenunruhen aus, weil die vier weißen Polizisten freigesprochen wurden, die den Schwarzen Rodney King fast zu Tode geknüppelt hatten. Spike Lee drehte den Monumentalfilm über den 1965 ermordeten Black Muslim Prediger Malcom X. Der deutsch-polnische Film "Hitlerjunge Salomon” wurde in Deutschland kritisch aufgenommen, in den USA hingegen gefeiert.

Auf der documenta IX in Kassel war moderne Kunst aller Art zu bewundern und zu kritisieren. Die Expo ´92 und die Sommer-Olympiade rückten Spanien in den Mittelpunkt des internationalen Medieninteresses. Fu Mingxa - eine 14-jährige Chinesin - gewann im Turmspringen Gold. Zum ersten Mal seit 1960 waren südafrikanische Sportler - schwarze und weiße - am Start. Eine algerische 1500m-Läuferin setzte sich gegen den Sexismus in ihrem Land durch und startete bei Olympia. Ein halbes Jahr zuvor in Albertville hatten die Organisatoren vergessen ein olympisches Dorf zu bauen, ein Fehler, der den Spaniern nicht unterlief.

An Höhepunkten fehlte es nicht. Einer war der Umweltgipfel in Rio, von dem so viel erhofft worden war. Aber wie immer, wenn es um große Gesten in der Weltpolitik geht, versagten die Politiker. Die Einteilung in Erste und Dritte Welt wurde wieder mal deutlich. Die 500 Jahrfeiern zur Entdeckung Amerikas bildeten einen weiteren Höhepunkt. Während man auf der einen Seite Columbus´ Erfolg feierte, protestierte man auf der anderen Seite gegen 500 Jahre Unterdrückung.

Im britischen Königshaus kriselte es, in Brasilien mußte ein korrupter Präsident seinen Hut nehmen, und in Süd-Korea wurde Ende des Jahres der erste zivil-demokratische Präsident gewählt. Der Maastricher Vertrag war in einigen europäischen Staaten Gegenstand einer Volksabstimmung, und in den USA wurde der in der Tradition Kennedys stehende Baby-Boomer Bill Clinton zum Präsidenten gewählt. An den Uni-Wahlen 1992 in Heidelberg beteiligten sich kaum 30% der Studierenden. Ein Rechtsruck war nicht festzustellen, aber ein großes Maß an Desinteresse und Gleichgültigkeit.

Aus der Fülle der Ereignisse den Erfolg oder Flop des Jahres zu küren ist ebenso schwierig wie die Wahl der Person des Jahres. TIME wählte Clinton, und nicht jeder stimmte der Entscheidung zu.

Wer war für Heidelbergs Studenten die Person des Jahres 1992? "Der Mann des Jahres soll etwas Besonderes geleistet haben,” meinte ein Kommilitone, "es reicht nicht, daß er gewählt wurde.” In diesem Sinne wurden der Langstreckenläufer Dieter Baumann, das Schwimmtalent Franziska van Almsick und der skandalträchtige Jürgen W. Möllemann genannt. Außerdem wurde der Juraprofessor Hefermehl wegen seiner Kontaktfreudigkeit zu den Studenten zu einem "freundlichen Menschen des Jahres” ernannt.

Für viele war 92 nichts Besonderes. Ein ganz normales Jahr. Andere erinnern sich nicht nur an besondere Menschen, sondern auch an Ereignisse. Zu den Flops des Jahres zählen die "Steuerlüge zweiter Teil”, "die Maastrichtdebatte im britischen Unterhaus”, "das schlechte Wetter”, "die Uni-Wahlen”, "die neue Sendung von Ilja Richter, die wegen Unfähigkeit des Moderators nach einer Folge eingestellt wurde”; als chronischer Flop wurde die Vergabe der DAAD-Stipendien in Heidelberg genannt.

Natürlich gab es neben den Pleiten auch positive Ereignisse, wie "den Besuch des Bundeskanzlers in Heidelberg”, "die Wildwoche Ende des Jahres in der Mensa”, "den Hit des Jahres: A la la la long” und sämtliche Sommerurlaube.

Der Tod von Willy Brandt und die Ermordung des Mafia-Richters Falcone sowie die Hungersnot in Somalia und die AIDS-Erkrankung des Basketballspielers "Magic” Johnson haben nachdenklich und traurig gestimmt.

Verärgert haben die "Einigung zum Asylartikel, weil das die politischen Probleme hier auch nicht löst”, "die Xenophobie in Deutschland”, "das Negativ-Ereignis des Jahres: der anhaltende Bürgerkrieg auf dem Balkan und die Ohnmacht der EG, den Krieg zu beenden”.

Zum Wort des Jahres wurde "Politikverdrossenheit”. Die Begründung eines Kommilitonen: "Wenn man soviel Skandale und soviele zurückgetretene Minister erlebt - im letzten Jahr waren es fünf -, dann muß man sich fragen, ob da nicht inzwischen eine Ver-trauenskrise regiert.”

Und dann gab es die persönlichen Ereignisse: "meine neue Freundin Angela ... sie ist das bewegenste Ereignis aus dem Jahr 92”, "meine Tochter ... sie hat Laufen gelernt, fängt an sprechen zu lernen und wird halt größer, das habe ich in der Form noch nie so wahrgenommen”, "meine absolute Traumhochzeit”, "mein neues Auto” ...

Neunzehnhundertzweiundneunzig - auch aus studentischer Sicht ein bewegtes und ereignisreiches Jahr.

Tong-Jin Smith


ELSA, ELSA, und das mit Recht!

ELSA, die "European Law Students Association", ist eine junge Organisation europäischer Jurastudenten, die noch nicht so mitgliederstark, professionell und finanzkräftig ist wie die entsprechende Vereinigung der Wirtschafts-wissenschaftler, aber deshalb nicht minder vom Engagement und den Ideen ihrer Mitglieder profitiert.

Vor dem Hintergrund eines zusam-menwachsenden Europa und der allmählichen Annäherung der verschiedenen Rechtssyste ist ELSA, das trendgemäße Ziel eines internationalen Dialoges verfolgend, in den letzten Jahren für die Studenten der Rechtswissenschaften immer interessanter geworden und ist heute, 12 Jahre nach der Gründung 1981 in Wien, in 28 europäischen Ländern aktiv. In Wien ist auch heute noch der Sitz der Mutterorganisation ELSA International. ELSA Deutschland ist seit 1987 in Heidelberg ansässig, und die Fakultätsgruppe Heidelberg ist mit 156 Mitgliedern eine der größten in Deutschland.

Die politisch unabhängige, gemeinnützige Organisation finanziert sich ausschließlich durch Mitglieds- und Kostenbeiträge (jährlich DM 30,- ) sowie durch Spenden.

Das gesteckte Ziel: " Juristen in Europa gemeinsam für Europa !" wird hauptsächlich mit den folgenden vier Programmen verfolgt:

- Zunächst das Academic Activities Programm, das den Studierenden, Referendaren und Doktoranden den Austausch von Informationen ermöglicht. Ergänzt werden die wissenschaftlichen Aktivitäten durch spezielle Angebote, wie die ELSA LAW REVIEW, wo man sich kreativ und juristisch fundiert mit der europäischen Problematik ausein-andersetzen kann. Außerdem gibt es STUDIES ABROAD PROGRAMS, die ein Studium im Ausland erleichtern sollen, und LEGAL RESEARCH PROGRAMS, die bei Literatur-recherchen im Ausland helfen.

- Das zweite Programm hat den Namen SEMINARS & CONFERENCES. Dieselbigen werden von den Fakultätsgruppen europaweit und mit internationaler Beteiligung organisiert, um Diskussionen mit Fachleuten anzuregen und Einblicke in fremde Rechtssysteme zu geben. SUMMER LAW SCHOOLS vermitteln Kenntnisse in Spezialthemen und verbessern die Sprachkenntnis. Auch gibt es für Mitglieder STUDY VISITS, im Rahmen derer sich Fakultätsgruppen untereinander besuchen.

- Das wohl interessanteste ist das STUDENT TRAINEE EXCHANGE PROGRAM. Die Fakultätsgruppen aller Länder suchen Praktikantenstellen bei Anwaltskanzleien in ihrer jeweiligen Stadt, und entsprechend der Zahl der gefundenen Plätze ist es 'Einheimischen' möglich, ein Praktikum, das bis zu drei Monaten dauern kann, im Ausland zu absolvieren.Die Praktikanten werden privat untergebracht und betreut. Der Austausch findet meist während der Sommermonate statt, und die Höhe der Lebenshaltungskosten wird vom Gastland getragen. Da natürlich die Anzahl an Praktikumsplätzen begrenzt ist, findet eine Auswahl der Praktikanten nach Kriterien der Sprachkenntnis und eventuellen Wünschen des 'Arbeitgebers' statt.

- Außerdem beraten informierte Mitarbeiter natürlich über Studienmöglich-keiten im Ausland, und es finden entspre-chende Informationsabende statt.

"Gemeinsam für Europa"

Die ELSA Heidelberg hat in diesem Sommer drei Praktikanten aus Frankreich, Italien und Finnland betreut, und ebensoviele haben im Ausland einige Berufserfahrungen gesammelt. Ein interessantes und gelungenes Erlebnis für die 20 Beteiligten war der Austausch mit ebenfalls 20 Russen aus Moskau und St. Petersburg, der gemeinsam mit ELSA Regensburg geplant und durchgeführt wurde. Die Gruppen haben während eines je zweiwöchigen Aufenthaltes die Städte und die Austauschpartner kennengelernt. In jeder der Städte fand ein Seminar- und Kulturprogramm statt und nicht zuletzt feuchtfröhliche Feste.

Die ELSA Heidelberg betreut auch besonders ERASMUS-Studenten und freut sich selbstredend über neue Mitglieder. Es findet 14tägig eine Sitzung um 19.30 Uhr im Studihaus statt, zu der auch Nichtmitglieder ebenso herzlich eingeladen sind wie zum Stammtisch um 21.00 Uhr am Donnerstag in der Alten Gundtei, Zwingerstraße.

Ständige Informationen findet man am ELSA-Brett im Juristischen Seminar.

Tanja Ruhnke


Requiem für eine Linke

Wie linkes Denken in die Sackgasse geriet

4. Oktober 1990. Gestern war Wiedervereinigung. Die Nachkriegszeit der Deutschen Teilung ist abgehakte Geschichte. In meinem französischen Kleinwagen fahre ich von Berlin zurück in Richtung Leipzig auf der Autobahn, die weiter nach Nürnberg und München führt und die seit gestern "Bundes-autobahn A9” heißt. An Bord zwei Tramper aus Kreuzberg. Der Klassik-sender im Radio spielt ganz unvermittelt das Kaiserquartett von Joseph Haydn ein, die Melodie zu "Einigkeit und Recht und Freiheit”. "Stop, Ausmachen, Schluß mit dem deutschnationalen Quatsch”, brüllen die beiden Kreuz-berger im Fond des Wagens. Eingeschüchtert werfe ich eine Pop-Kassette ein und bringe das Streichquartett zum Verstummen. Nach einer Erklärung gefragt, warum sie diese Musik ablehnen, antworten mir meine Mitfahrer , sie seien links, entschieden gegen die Wiedervereinigung, für einen eigenen Weg der DDR zum "Sozialismus mit menschlichem Antlitz” gewesen, und sähen nun die Gefahr eines "Vierten Reichs” in Deutschland wiedererstarken. Ich schüttele den Kopf.

Sind dies die Linken der Neunziger Jahre ? Kritisch denkende, nach differenzierter Betrachtung schreiende, unbeugsame Individuen ?

Ein Blick zurück in die Geschichte: Die Parteien des linken Spektrums waren im Kern nichts anderes als ein Produkt der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Ihre Wiege stand in den unmenschlich durchnumerierten Proletarier-Hinterhöfen des Berliner "Zille-Miljös”, den dreckigen Betrieben und dunklen Bergwerken des Kohlenpotts oder Oberschlesiens. Die Verelendung breiter Massen, Kinderarbeit und unbeschreibliche Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft schrie nach Opposition gegen die "Drei-Viertel-Gesellschaft” des Deutschen Reiches. Aber der sozialkritische Aspekt war nur eine Spielart aufkommender neuer linker Gruppierungen wie der KPD und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der späteren SPD; ihr Anliegen besaß tiefere Wurzeln: Es stand mehr auf dem Spiel als die bloße Überwindung unerträglicher Lebensumstände, die Spuren der Linken führen zurück zu den großen Namen der Moderne, lassen sich zurückverfolgen bis hin zu Descartes Postulat des "Cogito”. Aufklärung hieß die Devise des Zeitalters, alle Menschen würden Brüder, sein Versprechen. Kant und Hegel entzauberten die Gottgläubigkeit ihrer Zeit als plumpen Aberglauben an einen weltfernen, tönernen Riesen, Marx schmiedete diese Erkenntnis in Politik um und denunzierte den "Überbau” der bürgerlichen Gesellschaft. Newton entmythisierte die Vorgänge in der Natur, indem er einen Apfel fallen ließ und erklärte, daß nichts Außergewöhnliches dabei sei. Freud trieb einen Stollen tief hinein in die menschliche Seele, erkannte ihre Beeinflußbarkeit.

Große Projekte allesamt: Die Einsetzung des Menschen in seine Unabhängigkeit und damit seine Freiheit. Auf diesem Acker großer Verheißungen und Menschheitsträume stand die Wiege der Linken.

Doch weiter in der Chronologie der Ereignisse: Nach dem Ende des II. Weltkriegs entstand die Bundesrepublik unter konservativer CDU-Regie als Vorposten des kapitalistischen Lagers gegen den kommunistischen Machtblock. Die SPD bekämpfte die beharrende Politik Adenauers, sich nach dem erfolgreichen Wiederaufbau Westdeutschlands auf "keine Experimente” einzulassen. Doch dann kam die große Zeit der SPD des Willy Brandt mit seiner "Ostpolitik” und seinem neuen Demokratie-verständnis ("Mehr Demokratie wagen!”). Allerdings hatte die Macht-übernahme der SPD die Linke bereits tief gespalten: in die SPD, eine Volk-spartei der linken Mitte, nun selbst Teil des zuvor bekämpften Establishments, durch die Last der Regierungsverant-wortung in ihren Träumen und im Umsetzen revolutionärer Ideen eingeschränkt. Ihr gegenüber stand die "radikale Linke” von 1968, die ihre Visionen auf keinen Fall auf dem Friedhof eines Wohlstandsdeutschland beerdigen lasse wollte. Sie beharrte weiter auf ihrer Utopie, daß sich persönliche Freiheit und absolute Gleichheit vereinen ließen.

Denn das Denken linker Gruppen hatte sich immer radikal und absolut gegeben, im Kursbuch oppositionellen Denkens hatte es keine Umwege und Kompromisse zu geben, jetzt oder nie, hopp oder topp, gegen den Status Quo auf zu neuen Ufern, gegen das konservative dumpfe Gestern. Dies war der Grund für die Entstehung der APO, junge Leute, die ihre Ideale enttäuscht sahen und erkannten, daß die SPD zur "Ja-aber-Partei” mutiert hatte. Rot ja, aber nur ein wenig rötlich. Anti-militaristisch ja, aber die Bundeswehr mußte sein. In den 70er Jahren kochte dieser innere Widerspruch vollends hoch: Einige, denen ihr '68er-Exil aus Kommunenalltag, Degenhardt-Platten-Hören und dem ewigen Lallen von der baldigen Revolution erschien, gründeten eine Umweltpartei und knabberten als "Grüne Raupen” am Fundament der SPD-Mutterpartei, die ausgerechnet dieses Thema noch nicht besetzt hatte. Wiederum andere unverwüstliche Truppenteile starteten den "Marsch durch die Institutionen”, manche frustrierte der verpfuschte Traum von '68 derart, daß sie nach Australien gingen, um Schafe zu züchten, oder in die RAF, wo sie sich die bessere Welt herbei-bomben wollten, wie Kinder, die das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel umwerfen, wenn die gnadenlose Eins des Würfels sie zu Verlierern abstempelt. Gemein war ihnen allen ein unerbittlicher Moralbegriff: Sie teilten die Welt ein in Gut und Böse, in kommunistisch und kapitalistisch, in "taz" und "Bild", in Renault 4 und Porsche 911, in Weiß und Schwarz. Und erkannten in ihrer Verbohrtheit dabei nicht, daß sie selbst zu den Satten, zu den Privilegierten dieser Welt gehörten, sie, die Revolutionäre nach Gutsherrenart.

Herbst 1989. Ein Höhepunkt dieser Denkungsart: Makaber die taktlosen Vorwürfe an ehemalige DDR-Bürger, die ihr erstes West-Geld in Kaufhäuser trugen; makaber auch das Liebäugeln mit dem maroden DDR-System, so nach dem Motto: Die hatten im Osten ja schon das bessere System, aber wir im Westen haben sie auch nie machen lassen.

Eine Zwickmühle, in der alle Linken stecken: Ein Leben im Wohlstandsland Bundesrepublik Deutschland, aber auf der Stirn tragen sie das jahrhundetealte Kainsmal der Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit. Das läuft in Deutschland nicht. Rechte Matadore wie Strauss und Springer haben das Zeitliche gesegnet; an ihnen kann sich nun keiner mehr abarbeiten. Typische linke Gleichberechtigungsthemen wie die verbiesterte Emanzipation der Alice Schwarzer befinden sich seit Mitte der 80er auf dem absteigenden Ast; die Universität ist politisch tot, Studenten laben sich nicht mehr an gesellschaftskritischen Sit-ins und happenings, kennen sozialistische Begriffe nur noch aus dem Kreuzworträtsel in der Cafeteria, der "Kalte Krieg” ist vorbei. Und die Union kann einen Skandal nach dem anderen liefern, mehr als eine Patt-Situation bringt die "Sonntagsfrage” der SPD dennoch nicht.

Wo sind all die Rosinen-Themen hin, mit denen sich früher linke Politik betreiben ließ ?.
Auf dem SPD-Sonderparteitag zur Asylfrae im November 1992 konnte man ein meterhohes Plakat mit einem Satz Willy Brandts lesen: "Besinnt euch auf eure Kraft und darauf, daß jede Zeit ihre eigenen Antworten will.”
Wo sind die linken Antworten unserer Zeit ?

(ah)


Liebesspiele im Supermarkt

Warum Utopie und Realität ein Verhältnis haben

Aus guten Günden scheiden sich an der Utopie die Geister. Selbsternannte Realisten wollen sie aus der Welt geschafft wissen, da utopieproduzierende Idealisten angeblich nur Katastrophen herauf beschwören. Für sie verhalten sich Realität und Utopie wie zwei Parallelen, die sich frühestens in der Unendlichkeit oder im Jenseits berühren. Den Utopisten dagegen scheint das Leben nicht unendlich und der Himmel nicht gesichert genug. Darum machen sie sich an der Realität zu schaffen. Allerdings scheiden sich auch an dem, was Realität genannt wird, die Geister. Aus gutem Grund.

Utopie ist mindestens zweierlei: Kritik an den bestehenden Verhältnissen und der Entwurf einer Alternative. Nach dem Planspiel kann der konstruktive Veränderungsvorschlag, die Energie freisetzen, die nötig ist, um Veränderungen gegen diejenigen durchzusetzen, die den Status Quo als Optimum begreifen.

Es ist also verständlich, "wenn immer schon die konservative Phantasielosigkeit als irreale Utopie denunzierte, was über den Rahmen des Bisherigen hinausging.” (H. Gollwitzer). Auffällig ist allerdings die unseriöse und oft gefühlsgeladene Polemik bei der Abwehr von möglichen gesellschaftlichen Alternativen. Soviel "Denunziation einer prinzipiellen Infragestellung der Gegenwart” (H. E. Schiller) verrät ein Immunsystem, dessen aggressive Reaktion die Angst vor den Verlust eines fest gefügten Weltbildes erahnen läßt. Legitimationsbedürftig scheint hier nicht die Utopie zu sein, sondern das Bestehende, das "mit seiner eigenen Moral und seinen Idealen kollidiert” und Demokratie zwar als Regierungsform, aber nicht als Lebensform akzeptiert.

Freiheit

Zentraler Begriff unserer Gesellschaft ist die Freiheit. Allerdings verbunden mit einer Reglementierung des sozialen Wandels durch das Primat der Wirtschaft und einer Stabilität, die nur garantiert wird durch Produktivität und Wachstum, die als Grundwerte das Bewußtsein

des Einzelnen innerhalb sozial sanktionierter Normen hält. Eine Freiheit, die auf dem primitiven Gesetz des Stärkeren und auf darwinistischen Grundprinzipien beruht: Alle gegen Alle. Anachronismen in einer technisch hochentwickelten Gesellschaft.

Letzter größerer utopischer Entwurf war die "ökologische Umgestaltung der Industriegesellschaft” mit einem integrierten Lastenausgleich zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern. Ein gesellschaftlicher Umbau, der im Osten unter dem Namen Perestroika vorgenommen, ja sogar nachdrücklich gefordert wird, ist angeblich im freien Westen aus Kostengründen unmöglich.

Das utopische Denken wird von seinen Kritikern als Sehnsucht nach einer nicht existierenden heilen Welt dargestellt, einer Sehnsucht also, die den realen Gegebenheiten keine Rechnung trägt. Hierin liegt tatsächlich die Gefahr des utopisierens: Daß man vor Sehnsucht versäumt, zu handeln oder daß man, orieentiert an einer Idealvorstellung, jegliches Maß verliert. Andererseits offenbart die Existenz des utopischen Denkens eine Realität, die als mangelhaft erfahren wird, denn wo kein Leidensdruck ist, besteht auch kein Verlangen nach Veränderung. Utopien wurzeln in einem Bedürfnis nach einem gesellschaftlich spannungsfreieren Zustand.

Individuell kann ein spannungsfreierer Zustand erreicht werden, wenn überschüßige Energie z.B. durch Lachen, Weinen, das heilige OM usw. oder im "Orgasmus zum Ausdruck kommt, da dieser die vollständigste, befriedigenste und bioökonomischste Abfuhr ist. (E. E. Baker). Hierbei ist die Qualität und nicht die Quantität von entscheidender Bedeutung.

Kann überschüssige Energie nicht abgebaut werden oder ist der Mensch dabei nicht emotional frei, bleibt die Energie im Körper und Führt zur "Panzerung” oder sie wird aktiv oder passiv (als Aggression) über die Muskulatur abgeleitet. Folgt man dieser Theorie von Reich, dann müßte sich unter der sexualfeindlichen Moral des christlichen Abendlandes eine sado-masochistische, jedenfalls keine harmonische Gesellschaft, entwickelt haben.

Auffällig ist, daß sowohl das Christentum und der Kapitalismus einen besonderen Missionseifer entwickelt haben, den man mit umgekehrtem Vorzeichen im Kommunismus, der ja bekanntlich aus dem christlichen Kapitalismus erst hervorgegengen ist, wiederfinden kann. Die bisher unvergleichliche Erfolgsstory der Abendlandes beruht aber auch auf den imme wiederkehrenden Aufklärungsbemühungen, die gegen die konservatorische Statik Innovationsschübe erzeugte.

Paradise

Die Verringerung der Spannung kann, wenn das Prinzip Hoffnung gänzlich in die Flucht geschlagen wurde, auch durch die Einnahme von Drogen erreicht werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß man auf legale und illegale künstliche Paradiese zurückgreifen kann. Diese Zweiteilung wird allein mit der Kulturfremdheit der illegalen Rauschmittel begründet. Die Legalität beruht nur auf einer Tradition, hinter der die wirtschaftlichen Interessen der einheimischen Drogenproduzenten und Dealer stehen dürften.

Die Ursache für den Konsum von Drogen liegt ähnlich wie das Entstehen von Utopien in einer als defizitär erfahrenen Realität begründet. Einerseits wird also die freie Drogenwahl reglementiert, andererseits von den Utopiekritikern der Versuch, der Versuch das Bestehende prinzipiell unzugestalten, denunziert.

Subtiler als der Flachmann am Morgen wirkt die Infusion via Satellit und Kabel aus den Traumfabriken. Dort bewegen sich Traumfrauen auf Traumschiffen und im Kaufhaus des großen Bellheim bewältigen Männer mit den richtigen Tugenden jedes Problem.

Am auffälligsten ist die Durchdringung des Mediums Film durch die Heileweltvorstellungen der Werbung bis in die Details der Interieurs in Serien (und Spielshows) wie Forsthaus und Glottertal. Hier verschnulzen Fiktion und Werbeidylle zur "konsumsteigernden Bedürfnisförderung” und ziehen den Kauf durch "hergestellten Anreiz”, dessen sexuelle Komponenten hier nicht weiter beschrieben werden müssen, nach sich. In dieser Welt sind am Ende alle Babys zufrieden, die Frauen tragen das richtige Make up und die Männer haben den Schaltknüppel des besten Autos fest im Griff, ja sogar die dritten Zähne werden wieder erotisch.

Dabei entsteht jedoch auf sozial niedrigerem Niveau eine Diskrepanz zwischen "povozierter Lusterwartung und möglicher Lusterfüllung”, eine Unzufriedenheit, die scheinbar nur durch Konsum beseitigt werden kann, der wiederum durch besondere Leistungsfähigkeit erst möglich wird. Nur wer was leistet, darf sich was leisten. Der Kreislauf zwischen Konsumversprechung und Leistungsdruck ist in seiner Funktionsweise einer Droge vergleichbar. Eine echte Entspannung findet nicht statt.

Die Einforderung der versprochenen Freiheit kann zu linker Radikalität führen. Während das ungestillte Verlangen nach dem versprochenen Vollkaskoparadies, an dem man angeblich durch Mitlaufen teilhaben kann, eine rechte Geisteshaltung begünstigt, die aus diesem, durch Anpassung erworbenen Anspruch, ein Recht auf Ordnung ableitet.

Radikalität wird oft auf die Wirkung utopischer Ideen zurückgeführt. Dabei wird verschleiernd die Wirkung als Ursache dargestellt.

Vielleicht erklärt sich die Utopieallergie der "Realisten” aus dem Utopiecharakter, der von ihnen propagierten Realität und der ihr innewohnenden Individualutopie aus umgelenktem Lustprinzip auf Leistungsbasis: The persuit of happiness nach dem struggle for life. Was bleibt? Der Herzinfarkt als Heldentod und eine Solidarität, die als Bedrohung empfunden wird.

Angesichts der Destruktivität, die unsere Gesellschaft hervorbringt und die in der globalen Umweltzerstörung ihren deutlichsten Ausdruck findet, spricht A. Gruen von "Realismus als Krankheit”. Demnach führt die Außengelenktheit des Individuums unter Aufgabe der inneren Gefühlswelt zu "zwei völlig entgegengesetzten Realitäten: die Realität der Macht und die Realität der Liebe.” Erstere beruht auf dem männlichen Mythos aus Tatkraft, Macht und Erfolg, der es nötig macht, daß die eigenen Gefühle wie Freude und Leid abgespalten werden, wobei die Fähigkeit zum Mitleiden verloren geht. Zugunsten eines Gefühls der Unverwundbarkeit. Was noch nach außen als Gefühl dargestellt wird, ist demnach häufig nur Selbstmitleid.

Äußerer Feind

Die Entwicklung beginnt mit der Unterwerfung unter eine Macht (die Eltern), um deren Wohlgefallen zu erregen und dadurch an ihr teilzuhaben. Darum wird "das Kind alles an sich selber haßen, was es in Konflikt mit den Erwartungen der Eltern bringen könnte”. Die schlechten Eltern werden dann zu guten Eltern stilisiert und die Wirklichkeit wird verzerrt wahrgenommen. Damit aber die in Wahrheit erfahrenen Verletzungen und der Verlust des Gefühlslebens nicht bewußt werden können, muß die Lebenslüge daß das schlechte Gefühl das Gute ist, möglichst zur Norm gemacht werden.

Eigenschaften wie Gehorsam, Anpassung und Unterwürfigkeit werden sprachlich zu Verantwortungsbewußtsein und Pflicht-Gefühl umgemünzt. Menschen, die sich über die Norm hinaus Freiheiten zugestehen, werden als störend oder sogar als Bedrohung empfunden. Um dem Gefühl der Ohnmacht nicht bewußt zu werden, daß aus der fortgesetzten Unterwerfung resultiert, müssen Schwächere, oder aus der Masse heraus, aus einem pervertierten Solidaritätsprinzip, Andere unterdrückt werden. Auf den Missionseifer mancher Ideologien wurde oben schon hingewiesen.

Das Konzept einer heilen Welt oder besser und genauer: das Bedürfnis nach einem Gefühl der Ganzheitlichkeit, das den meisten Utopien zugrunde liegt, bedroht das labile Gleichgewicht der "Realität”, die durch den "Verrat am Selbst” entstanden ist und oft nur durch einen äußeren Feind aufrechterhalten werden kann. Darum wird das Wettbewerbssystem mit dem als Konkurrenten innewohnenden Feind zum Naturgesetz erhoben und nicht die Liebe bzw. die Solidarität, die ebensogut den Charakter eines Naturgesetzes haben könnten.

Vielleicht ist klarer geworden, in welchem Verhältnis unsere Gesellschaft zu Drogen, Radikalität und Utopien steht. Die kommen aus der Mitte der Gesellschaft und nicht von ihren Rändern. Utopie und gesellschaftliche Realität sind die zwei Seiten der selben Münze.

(fb)


Lesefutter

"Zu Gast bei Marcel Proust" zeigt den Romancier als Gourmet

Man stelle sich vor: Der junge Mann nimmt eine Tasse Tee zu sich, in die er ein Gebäckstückchen taucht. Kaum hat der erste mit dem Kuchenaroma gemischte Schluck Tee seinen Gaumen berührt, als er zusammenzuckt. "Ein unerhörtes Glücksgefühl ... hatte mich durchströmt”, so wird er später von dem Vorfall berichten, und: "Ich fühlte mich von einer kostbaren Substanz erfüllt ... (und) hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt und sterblich zu fühlen.” - Willkommen in der Welt von Marcel Proust, wo schon der Geschmack aufgeweichten Biskuits heftigste Wallungen des Gefühls auszulösen vermag. Es ist eben dieser Gaumenreiz, der zu Beginn von Prousts Hauptwerk, dem siebenteiligen Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”, eine wahre Invasion der Gefühle verursacht: Nachdem der Erzähler "Marcel” von dem in Tee getunkten "Madeleine”-Törtchen gekostet hat, überfluten ihn aus der Tiefe seines Bewußtseins Bilder einer verloren geglaubten Kindheit - Erinnerungen, die gleichsam aus einer Tasse Tee aufsteigen, um die Buchseiten zu füllen.

Hors d´Oeuvre

Doch lassen sich die zum Begriff gewordene "Episode der kleinen Madeleine” - eine der berühmtesten Stellen der Literaturgeschichte - und andere Momente aus Prousts intensivem Seelenleben nicht nur in der oft mühsamen Lektüre seines Oeuvre erleben. Wem danach ist, der kann die Proust´sche Genußfähigeit und Sensibilität jetzt am heimischen Eßzimmertisch erfahren - mit einem Häppchen Proust für den literarisch vorgebildeten, besonders verwöhnten Gaumen sozusagen. Dank dafür gebührt - wem sonst? - einem Pariser Verlag, den "Editions Du Chêne”, die im Sommer 1991 den Band "Proust, la Cuisine Retrouvée” veröffentlichten; die deutsche Version ist im September letzten Jahres unter dem Titel "Zu Gast bei Marcel Proust. Der große Romancier als Gourmet” beim Münchner Wilhelm Heyne Verlag erschienen. Auf über 200 Seiten werden da - begleitet von Zitaten aus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”, zeitgenössischen Illustrationen und üppigen Farbphotos - Prousts reiche kulinarische Lebenserfahrungen in Form von 70 Kochrezepten re-konstruiert. In Frankreich wie in Deutschland kam das Lesefutter an: "Du Chêne”, das zum Branchenriesen "Hachette” gehört, verkaufte innerhalb kurzer Zeit 25.000 Exemplare - angesichts des eher esoterischen Themas und des Preises von 248 Francs ein Erfolg, der den Verlag nach eigenen Angaben selbst "sehr überraschte”. Der Heyne Verlag, der sein Buch für 58 Mark unter die Leute bringt, kann ebenfalls nicht klagen: "Zu Gast bei Marcel Proust” war zu Weihnachten schon ausverkauft; seit Ende Januar liegt die zweite Auflage in den Buchhandlungen. Kein Wunder: Der Leserkreis, den Heyne mit dem Schlemmer-Brevier anspricht, ist, so weiß man auch dort, "vielschichtig” - Gourmets gehörten ebenso dazu wie Bibliophile, "die einfach Spaß an solchen Büchern haben”. Darüber hinaus erleichtere der "sinnliche Appeal” des Buches so manchem Leser, der bisher vor Proust schriftstellerischem Werk zurückgeschreckt sei, den Zugang.

Wie auch immer: Daß "La Cuisine Retrouvée” und sein deutscher Ableger von so vielen Lesern goutiert wird, hat sicherlich auch mit den Autoren zu tun, die als Experten ausgewiesen sind: Anne Borrel, die die Textpassagen auswählte, ist Generalsekretärin der "Association des Amis de Marcel Proust”, und Alain Senderens, der aus Prousts Speise-Beschreibungen die Rezepte kom-ponierte, ist einer der renommiertesten Küchenchefs von Paris ("grand cuisinier avant l´Eternel”, nannte ihn die Zeitschrift "Art et Décoration”). Jean-Bernard Naudin schließlich, der Photograph, schuf mit seiner Kamera Bilder, die mit sichtlich proustischem Genuß im Glanz des Geschirrs, der Eleganz der Interieurs und dem Schimmer der Speisen schwelgen.

Plat du Jour

Als Grundlage für das literarische Kochbuch dienten die Romane des 1922 52jährig gestorbenen Spätimpressionisten Proust; sie sind voll von Erinnerungen an Mahlzeiten im Kreise seiner Familie, in der Gesellschaft von Freunden aus den Pariser Salons oder in der Abgeschiedenheit jenes berühmten, durch Korkplatten hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossenen Zimmers in seiner Wohnung am Boulevard Haussmann, wo zwischen 1905 und 1912 der größte Teil von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” entstand. Bis in die Details der Schüsselwärmer und Kaffeegeräte ("röhren-förmig und kompliziert wie ein physikalisches Instrument, das gut duften würde”) spiegeln Prousts Texte die bürgerliche französische Küche des ausgehenden 19. Jahrhunderts wider. Die Besessenheit des Romanciers mit dem kulinarischen Genuß kam nicht von ungefähr: Erst die für ihn so charakteristische Über-empfindlichkeit der Sinne, angesichts derer einer seiner Biographen einmal von der "Hautseele” Prousts sprach, ermöglichte ihm den Zugang zu seiner Vergangenheit und wurde so zur eigentlichen Voraus-setzung seines literarischen Schaffens.

Die enge Verknüpfung von Gaumenreiz und Seelenregung ist in Prousts Werk tatsächlich allgegenwärtig. Schon in seinem Jugendroman "Jean Santeuil” (1896-1904) etwa heißt es: "Was für ein hübsches Museum ergibt doch ein Diner, ... (ein Museum,) in dem jedes Meisterwerk Wünsche in uns weckt, die in ihm zugleich ihre Befriedigung finden, wie zum Beispiel dies beinahe schwarze Reh da mit dem dunklen, warmen, zuvor gebeizten Fleisch, das von einer kühlenden, blütengleichen Decke aus Johannisbeergelee überzogen ist ...” Unter den Köstlichkeiten, die Proust einst so genoß und die nun vor dem Leser und Betrachter ausgebreitet werden, finden sich Kalbsnieren in Champagner-Sauce und Seezunge nach Art der Normandie ebenso wie Schaumsüßspeise mit Erdbeeren. Den Höhepunkt des Reigens aber bildet jenes Rindfleisch in Gelée "à la mode de Françoise”, nach dem Rezept jener Köchin aus Prousts Elternhaus, die auch in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” erscheint und die er eingedenk ihrer Kochkünste einmal mit Michelangelo verglich.

Dessert

Kunst und Gaumenkitzel - das ist eine Kombination, die in Frankreich wie Deutschland offenbar sehr "en vogue” ist. So erschien etwa zeitgleich mit "La Cuisine Retrouvée” in einem anderen Pariser Verlagshaus ein Buch mit dem Titel "A table avec les impres-sionistes”, das für 340 Francs 30 "impressionistische” Rezepte bietet (darunter "Soupe au Pistou” - eine Gemüsesuppe mit Basilikum). Bei "Editions Du Chêne”, das die Mode des Was-große-Künstler-so-gegessen-haben vor drei Jahren mit der Veröffentlichung von Claude Monets persönlichem Rezeptbuch (bei Heyne unter dem Titel "Zu Gast bei Claude Monet” ebenfalls im Programm) begonnen hatte, will man weitermachen: "Wir planen für die Zukunft Bücher ähnlicher Art”, heißt es aus Paris, "doch möchten wir noch keine Namen nennen.” Auch bei Heyne hält man sich bezüglich weiterer Projekte bedeckt; diesen Monat erscheint als Koproduktion mit "Du Chêne” zunächst einmal der Band "Zu Gast bei Colette”, für den Herbst sei ein weiterer zu erwarten, über den man noch keine Auskünfte geben wolle. Ob Schlemmer-Bücher ähnlicher Machart auch für deutsche Autoren geplant seien? - "Das könnte sein”, heißt es aus dem Heyne-Lektorat, doch werden Leser hierzulande wohl noch einige Zeit darauf warten müssen, zu erfahren, was zum Beispiel Günter Grass während seines Aufenthaltes in Kalkutta so auf dem Teller hatte.

Was der Genießer Marcel Proust von der kulinarischen Auswertung seines Romanwerks gehalten hätte - wer weiß. Immerhin: Einem Reporter gegenüber erwähnte er einmal, er wäre, hätte er das Schreiben aufgeben müssen, am liebsten - na, was wohl? - Konditor geworden.

(bpe)


Das jüngste Gericht

Mit den folgenden zwei Gerichten aus der italienischen Küche beginnt eine neue Serie in ruprecht. Alle hier vorgestellten Rezepte zeichnen sich durch eine einfache und schnelle Zubereitung aus. Die Mengenangaben beziehen sich auf ein Menü für zwei Personen.

Penne mit Zucchini und Tomaten

200 g Penne rigate

4 Tomaten

1 kl. Zucchini

3 EL Olivenöl

1 kl. Zehe Knoblauch

Salz/Pfeffer

Tomaten in kleine Würfel, Zucchini in feine Scheiben und Knoblauch in kleine Stückchen schneiden. Olivenöl in Pfanne erhitzen; Tomaten und Zucchini hinzugeben. Ca. 10 Minuten anbraten, dabei häufig umrühren, dann Knoblauch, eine Prise Salz und Pfeffer dazugeben. Auf kleiner Flamme noch ca. 15 Min. dünsten, unterdessen Wasser für die Penne zum Kochen bringen, Salz (pro Liter Wasser 1 EL) und Nudeln hineinschütten. Sobald die Nudeln weich sind (nach ca. 8 bis 10 Min.), abgießen; Gemüse unter die Nudeln rühren - fertig!

Penne mit Mozzarella und Tomaten

200 g Penne rigate

3 Tomaten

1 Mozzarella (ca. 120 g)

4-6 Basilikumblätter

4 EL Olivenöl

Essig/Salz/Pfeffer

Tomaten und Mozzarella in Würfel schneiden. Mit den grob zerkleinerten Basilikumblättern und Öl in den Teller verteilen. Ein Spritzer Essig, wenig Salz und etwas Pfeffer dazugeben, umrühren und gut durchziehen lassen. Wasser zum Kochen bringen, Salz (pro Liter Wasser 1EL) und Penne hineingeben. Die Penne nicht ganz weich kochen (sie dürfen nicht matschig werden), abschütten und untermischen - guten Appetit!

Markus Collalti


aus der Serie: Museen in Heidelberg

Das Auge der Straße

Bruce Gilden, amerikanischer "street photographer", bis 19. 2. im DAI

Photographien von Bruce Gilden sind bis 19. Februar 1993 im Deutsch-Amerikanischen Institut, Sofienstraße 12, Telephon 06221/24772, zu sehen; Öffnungszeiten sind Mo-Fr 12:00-18:00 Uhr, Mi 12:00 - 20:00 Uhr und Sa 9:00 - 13:00 Uhr, der Eintritt ist frei.

Faltige und fette Gesichter, Blicke des Augenblicks, wie eingefroren. Arme, Alte, Schwarze, Jugendliche, Geschäftsleute und Frauen im Gespräch. Ein Toter von Fliegen bedeckt, Arbeiter, ein Blinder mit entstellter Augenpartie. Eine alte Dame mit Strandhut und eine dicke Schwarze auf einem weißen Handtuch in der Sonne liegend.

Gesichter, Menschen und Situationen aus alltäglichen Situationen gerissen. Menschen auf den Straßen New Yorks, Coney Islands und Haitis, dies sind die Motive des 1946 in New York geborenen "street photographer” Bruce Gilden. Er zählt zu den wichtigsten Photographen dieses Genres. 1985 wurde er für seine Arbeiten anläßlich der "International Triennial Exhibition of Photography” in Fribourg mit dem Grand Prize ausgezeichnet. Seine Photographien, die nun auch hier in Heidelberg im Deutsch-Amerikanischen Institut zu sehen sind, wurden bereits in den wichtigsten Museen und Festivals Amerikas und Europas gezeigt, z. B. bei den "Rencontres” in Arles, im "Mois de la Photo” in Montreal und in der "Barbican Art Gallery” in London.

Es ist die Dynamik der Stadt New York und die Armut der Bevölkerung Haitis, die Bruce Gilden auf seinen Bildern einzufangen sucht, die von den vielen Menschen in New York und Haiti ausgehen. Die Realität der Straße.

Seine Bilder sind schwarzweiß. Mimik, Bizarres, Bewegungen und Farbkontraste werden dadurch besonders deutlich. Seine Motive, Menschen, direkt angegangen und überrascht. Sobald das Blitzlicht sie zu attackieren scheint, werden sie sich des Photographen bewußt. Reaktionen kommen zu spät. Festgehalten wird die Realität davor, die Wahrheit.

Bruce Gilden wird mit seiner Nähe zum Objekt, ein Teil des selben. Dadurch wirken seine Photographien unmittelbar und kraftvoll.

Besucher der Ausstellung werden schonungslos dieser Unmittelbarkeit und Kraft ausgesetzt, die nichts beschönt, direkt und brutal ist. Gerade das ist es, was erschreckt, fasziniert und unerwartet schön ist.

(ks)


Dem Sonnengott unter die Strahlen geschaut

Wissenschaftlern gelingt der erste Blick in den Ofen der Sonne

Die europäische Gallex-Kollaboration beobachtet zum erstenmal in der Geschichte der Astronomie die Vorgänge im Inneren der Sonne. Eines der grundlegenden Probleme der Naturwissenschaft scheint gelöst: Das Neutrino -einst Problemkind der Physik und Hoffnungsträger einer unsichtbaren Weltallmaterie- verhält sich doch "normal”.

Helios, der Sonnengott, vom Purpurgewand umhüllt, saß auf seinem Thron in der Königsburg, umgeben von den Horen, den Stundengöttinnen, dem Jahr und den Jahrhunderten, als sein sterblicher Sohn Phaethon vor ihn trat. "Vater”, sprach der Jüngling, "man spottet auf der Erde über mich. Sie sagen, ich sei nicht dein Sohn. Mache mir ein Geschenk, das mich vor der Welt als deinen Sohn ausweist!”

1930 postulierte der theoretische Physiker Wolfgang Pauli ein neues Teilchen. Dieses Elementarpartikel sollte die beiden klassischen Pfeiler der Physik, den Energie- und Impulserhaltungssatz, retten, die bei den Messungen zum Betazerfall ins Wanken geraten waren: Addierte man die Massen der beim Betazerfall gemessenen Produkte Neutron und Elektron, so ergab sich, daß diese leichter waren als die Ausgangssubstanz der Reaktion, das Proton. Pauli folgerte, es müsse beim Betazerfall einen geschickten Schwarzfahrer geben, der, hätte man ihn einmal dingfest gemacht, die Grundfesten der Physik wieder zurechtrucken würde.

1933 griff Enrico Fermi Paulis Idee wieder auf und nannte das neue Teilchen "neutrino”, italienisch für kleines, neutrales Teilchen, um es vom "neutrone”, dem großen, neutralen Teilchen, abzugrenzen. Es dauerte 26 Jahre, bis Pauli 1956 ein Telegramm der experimentellen Physiker Cowan und Reines erhielt. Die beiden Forscher hatten am Savannah-Reaktor in South-Carolina erfolgreich "ghost-buster” gespielt und den, wie sie ihn nannten "Poltergeist”, das Neutrino, dingfest gemacht. Zwei Jahre später starb Pauli.

Helios legte seine Strahlen ab und bat den jungen Mann näherzutreten. Er erkannte seinen Sohn. "Beim Styx,”, schwor er, "ich werde dich nie vor der Welt verleugnen. Du sollst von mir haben, was auch immer du verlangst.” "Dann lasse mich einen Tag lang deinen geflügelten Sonnenwagen lenken”, bat der Sohn. Der Vater erbleichte.

Die Neutrinos, die uns auf der Erde erreichen, ent-stammen fast ausschließlich einem Kernfusionsprozeß im Inneren der Sonne. Bei diesem "Wasser-stoffbrennen” verschmelzen in der Summe vier Protonen zu einem Heliumkern, wobei zwei Neutrinos freigesetzt werden. Und zwar in solch rauher Menge, daß allein den Nagel unserer linken Großzehe jede Sekunde 66 Milliarden dieser Elementarteilchen durchsausen. Auch nachts. Denn die Erde, wie alle Materie, ist für ein Neutrino praktisch durchsichtig: Da es kernphysikalisch nur der schwachen Wechselwirkung unterliegt, hat es eine Halbwertsdicke von einigen Lichtjahren Blei. Zum Vergleich: Die Sonne ist gerade einmal acht Lichtminuten Vakuum von der Erde entfernt.

Diese Durch-dringungs-fähigkeit macht das Neutrino zum einzigen Zeugen der Vorgänge im Sonnenkern. Während das Gammaquant, das Licht, für die Distanz vom Ofen im Sonneninneren zur Oberfläche eine Million Jahre benötigt, breitet sich das Neutrino von seiner Entstehung an mit Lichtgeschwindigkeit aus und ist acht Minuten später bei uns.

"Würde man das Sonnenfeuer in diesem Moment abschalten, könnten wir, wäre das so einfach, acht Minuten später einen Abfall des Neutrinoflusses messen”, erklärt Roland Wink, Physiker am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Das Sonnenlicht dagegen würde noch eine Million Jahre mit ungeminderter Intensität weiterstrahlen.

Was das Neutrino zu einem derart guten Götterboten der Vorgänge im Sonnenkern macht -nämlich sein Ignorieren jeglicher ihm in den Weg geworfenen Materiehindernisse-, macht es auch zu einem ausgesprochen schlechten Götterboten, der sich nur höchst ungern dazu überreden läßt, von den Ereignissen seiner Entstehung Zeugnis abzulegen. Um des superschnellen Alles-Durchrasers dennoch habhaft zu werden, benutzen die physikalischen Jäger die Umkehrung des Elektroneneinfangs, eine Variante der natürlichen Betaradioaktivität, zum Bau einer Neutrinofalle: Ein Element fängt ein Neutrino ein und wandelt sich anschließend -unter Aussendung eines Elektrons- in ein Element gleicher Massen-, aber um eins erhöhten Kernladungszahl. Diese neue Substanz gilt es dann nachzuweisen.

"Sohn”, rief der Sonnengott, " du bist jung, du bist sterblich, du bist dem nicht gewachsen! In der Höhe wird dir schwindeln; die Hitze wird dich verglühen! Noch ist Zeit, deinen Wunsch zurückzunehmen. Verlange alles andere von mir, ich will es dir geben!” Aber Phaethon beharrte auf seinem Willen, und der Vater hatte ihm den heiligen Schwur geschworen.

Die ersten Messungen dieser Art ergaben einen gegenüber dem Erwartungswert um zwei Drittel erniedrigten Neutrinofluß und begründeten damit das "Solarneutrinoproblem”. "Theoretisch ließen sich Lösungen dieses Problems im Mikrokosmos der Elementarteilchen oder im Makrokosmos der Astrophysik finden”, erläutert Roland Wink. Makrokosmisch genügte es, das "Standardmodell Sonne”, sozusagen als Serienausstattung für Astrophysik-Bücher, mit einer Kerntemperatur von 14,7 statt 15,6 Millionen Grad anzubieten. Mikrokosmisch geht es um die Frage, ob das Neutrino eine Ruhemasse hat oder nicht. Eine Erklärung könnte dann das Modell der Neutrinooszillation bieten: Im Teilchenzoo tummeln sich drei verschiedene Spezies der Art der Neutrinos, das Myon-, das Tauon- und das Elektron-Neutrino. Diese könnten sich, vorausgesetzt sie hätten eine Masse, chamäleonartig ineinander umwandeln. Der Flug Sonne-Erde böte ihnen genügend Gelegenheit zum Erproben ihrer Verwandlungskünste, so daß eine reinrassige Elektron-Neutrino-Population den Wasserstoffofen Sonne verlassen, eine gemischtrassige Trias verschiedener Anteile der drei Neutrinospezies dagegen die Erde durchstrahlen würde. Die Umkehrung des Betazerfalls als irdische Neutrinofalle registriert aber nur Elektron-Neutrinos. Der Nachweis eines reduzierten Elektron-Neutrinoflusses auf der Erde käme daher dem Nachweis einer Ruhemasse für das Teilchen gleich.

Als im Osten die Morgenröte erwachte und die Hörner des Mondes sich am Rand verloren, bestrich Helios das Gesicht des Sohnes mit einer heiligen Salbe, damit er die Flammenglut ertrage. Dann führte er ihn zum Sonnenwagen. Noch einmal bat er: "Überlasse die Lenkung des Wagens mir, laß mich der Welt das Licht schenken und bleibe du nur Zuschauer!”

Das Neutrino ist nach groben Schätzungen einige Milliarden mal häufiger als alle anderen Teilchen des Universums zusammen. Eine -wenn auch winzige- Neutrino-Ruhemasse könnte die Gesamtmasse der Weltallmaterie enorm vergrößern.

Von dieser Gesamtmasse aber hängt es ab, ob das Universum wie im Augenblick so auch in Ewigkeit gleich den Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein auf eine glatte Wasseroberfläche wirft, auseinanderdriften oder aber irgendwann einmal seine Ausbreitungsrichtung umkehren und wieder zusammensurren wird. Bei einer kleinen Gesamtmasse des Kosmos wird die ständig zunehmende potentielle Energie der auseinanderstrebenden Materie immer kleiner sein als die kinetische Energie, die der "Big-Bang” dem Universum einst mit auf den Weg gab. In diesem Fall wird das Universum sich immer mehr verdünnen, um am Ende im Fast-Nichts zu versickern.

Befindet sich im Universum dagegen etwa hundert mal mehr Materie als im Augenblick bekannt, wird die potentielle Energie der Schwerkraft die kinetische überschreiten und das Universum wieder in einem einzigen Punkt zusammenfallen. Es folgt ein neuerlicher "Big-Bang” - und die Erkenntnis, daß unser Universum alles andere als einzigartig, sondern nur ein kleines Zwischenweltall in der unendlichen Abfolge von vorhergewesenen und nachkommenden ist.

Aber der Sohn schien die Worte des Vaters nicht zu hören, ergriff die Zügel der Rosse und stäubte die Morgennebel spaltend in Richtung Himmel davon.

Als die Rosse merkten, daß eine schwache Hand die Zügel lenkte, wichen sie von ihrer gewohnten Bahn ab, rasten bald zu hoch zu den Sternen, bald zu tief gegen die Erde. Der Erdenkreis fing Feuer. Die Meere trockneten aus, und die Flüsse versiegten.

Die europäische Gallex-Kooperation hat nun das Neutrino als bisher wahrscheinlichsten Träger einer möglichen "unsichtbaren” Universumsmasse ausgeschlossen.

Unter 1200 Meter Gesteinsüberdeckung steht im italienischen Gran Sasso Massiv ein Tank mit dreißig Tonnen Galliumchlorid. Das in flüssiger Phase vorliegende Gallium fängt ein Neutrino ein, verwandelt sich in das gasförmige Germaniumchlorid, das aufsteigt und mit einer Halbwertszeit von elf Tagen in Umkehrung der Entstehungsreaktion wieder in Gallium und ein Neutrino zerfällt. Die Entwicklung geeigneter Zählrohre, mit denen man diese extrem seltenen Germaniumzerfälle messen kann, dauerte zehn Jahre. "Auf diesem Gebiet, dem low-level-counting, sind wir in Heidelberg mittlerweile Weltmeister”, kommentiert Gallex-Mitarbeiter Roland Wink. "Unsere Zähler registrieren im Durchschnitt alle zwei Wochen einen Störimpuls.”

Vom Erdenbrand stiegen Qualm und pechschwarzes Dunkel auf. Phatheon fühlte seine Sohlen erglühen. Er konnte die glutheiße Hitze schon nicht mehr atmen, als schließlich das Feuer seine Haare ergriff. Brennend stürzte er zur Erde, wo ihn der breite Strom Epidauros aufnahm. Helios verhüllte sein Haupt in tiefer Trauer.

Till Kirsten, Gallex-Sprecher und Direktor des Max-Planck-Instituts für Kernphysik, bringt das Ergebnis dieses experimentellen Riesenklimmzugs auf den Punkt: "Als erste Menschen überhaupt haben wir direkt zugesehen, wie die Sonne in ihrem Inneren Energie erzeugt.” "Da die Gallexreaktion eine sehr niedrige Energieschwelle hat, konnten wir zum ersten Mal den Großteil des von der Sonne ausgesandten Neutrinospektrums erfassen.”, erklärt Roland Wink. In diesem niedrigen Energiebereich bewegen sich knappe hundert Prozent aller Sonnenneutrinos; vorrausgegangene Versuche erfaßten immer nur einen Abschnitt des Spektrums, in dem sich zwei Hundertstel Prozent der Elementarteilchen aufhalten. Gallex hat in seiner ersten Meßperiode eine Neutrinoproduktion von 83 +/- SNU gemessen (1 SNU = "solar neutrino unit” = 1 Reaktion pro 1036 Target Atome). Das Standard Sonnenmodell sagt für dieselbe Zeitspanne 74 SNU voraus. "Die Grundfesten unserer Naturerklärung verhalten sich so solide normal, daß einige sensationsgierige Betrachter jetzt vielleicht sogar enttäuscht sind”, kommentiert Till Kirsten. "Nicht gesehen haben wir die Neutrinomasse, unser Ergebnis steht in vollem Einklang mit masselosen Neutrinos.”

Das "Solarneutrinoproblem” scheint seiner Aufklärung ganz nahe zu sein. Zur endgültigen Abklärung bleiben der Physik noch knappe 3,5 Milliarden Jahre. Dann nämlich wird sich die Sonne von einem Stern der Hauptreihe in einen Roten Riesen und wieder etwas später in einen Weißen Zwerg oder ein Schwarzes Loch verwandeln. Aber das ist eine andere Geschichte und soll auch ein anderes Mal erzählt werden.

Kymene, die Mutter des Phatheon, weinte mit ihren Töchtern unaufhörlich vier Monate lang, bis die zärtlichen Schwestern in Pappeln, ihre Tränen in Bernstein verwandelt wurden. (tb)


Bruchstücke aus Indochina

Episoden einer Reise nach Vietnam

Vietnam, das ist ein Krieg. Vietnam, das sind vielleicht auch noch Boat People, Flüchtlinge, die auf dem südchinesischen Meer von Piraten überfallen werden, oder, neuerdings, Gastarbeiter, deren Heime angezündet werden. Aber wer kennt schon Vietnam, das Land? Die Geschichte des südostasiatischen Staates hat für betagtere Tagesschau-Seher 1975 aufgehört und für die jüngere Semester gar nicht erst stattgefunden.
Dabei ist Vietnam inzwischen schon zwei Kriege und eine Perestroika weiter.

Ho-Chi-Minh-Stadt ist wieder Saigon

Nostalgie hängt klebrigsüß in der Luft, wenn in Saigon, dem jetzigen (und doch wieder ehemaligen) Ho-Chi-Minh-Stadt, die alten Straßencafés wiedereröffnen und die Besitzerinnen von den wilden Zeiten mit den Yankees erzählen. Natürlich werden die Jahre der amerikanischen Präsenz in Südvietnam in der Erinnerung immer goldener.

Die Beamten und Mitarbeiter der besiegten südvietnamesischen Armee, die Kollaborateure der Imperialisten, sind aus den Umerziehungslagern und Gefängnissen zurückgekehrt. Wer sein Heil nicht auf einem Boot nach Westen suchte, nimmt jetzt Teil an der vietnamesischen Variante der Perestroika. Nach Jahren der "Fremdherrschaft” durch linientreue nordvietnamesische Brüder wird aus Ho-Chi-Minh-Stadt, dem besiegten Sodom, wieder Saigon, das dynamische Wirtschaftszentrum des Landes.

Cholon bleibt chinesisch

"Wir sind seit tausend Jahren hier”, sagt der chinesische Händler auf dem Markt in Cholon, dem geschäftigsten Stadtteil von Ho-Chi-Minh-Stadt, "wir haben nicht nur diesen Krieg überlebt” sagt er, und meint den allerletzten Krieg Vietnams gegen China, der 1979 über 200.000 in Vietnam lebende Chinesen aus dem Land zurück in die Heimat ihrer Vorfahren trieb. Danach war in Vietnam der Handel fast völlig zusammengebrochen. Ohne die Chinesen kommen die Waren in Vietnam kaum herum. "Wir sind seit tausend Jahren hier”, sagt der Wächter im konfuzianischen Tempel nebenan, "mich wird man hier nicht vertreiben.” "Die, die von uns übriggeblieben sind, brauchen sie, um ihr Land wieder aufzubauen.”

Chi, der staatliche Führer im Palast der alten Kaiserstadt Hue, erzählt uns brav, wie sehr das Volk unter dem Joch der präsozialistischen Feudalisten gelitten habe. In Wirklichkeit aber meint auch er vor allem jene Herrscher, die das Pech hatten, bloße Marionetten des übermächtigen Nachbarn China zu sein. Denn in Vietnam hat man sich schon immer über seine Unabhängigkeit vom Reich der Mitte definiert. Der letzte Krieg gegen den großen Drachen ist erst 14 Jahre her.

Jetzt aber rücken die ungleichen, verfeindeten Nachbarn notgedrungen wieder enger aneinander. Denn beide werden von Regierungen geführt, die eine kommunistische Ideologie mit einem kapitalistischen Regierungssystem verbinden wollen. Hier wie dort fürchten sich die alten Männer in den Machtzentralen davor, von einer neuen Zeit hinweggefegt zu werden.

Narben im Delta

Die Felder sind mitunter fleckig im Mündungsgebiet des Mekong. Die Amerikaner sprühten sich die Sicht auf die kommunistischen Kämpfer mit dem Pflanzengift Agent Orange frei. Wo nach dem Krieg statt dem entlaubtem Dschungel Reis angebaut wurde, bekommen die Bauern das Gift auch nach anderthalb Jahrzehnten zu spüren, wenn sie ihre ver-krüppelte Ernte einfahren, von der sie nicht wissen wollen, was sie demjenigen antut, der davon ißt. Die Bauern aber schimpfen nicht mehr auf die Yankees, sondern auf die Regierung, die sie erst zögernd aus dem System staatlichen Zwangsaufkaufes der Ernte entläßt. Wo der Pflanzer seinen Giftreis für sich selbst erntet, erntet er viel davon.

Im Delta ist die Zukunft nicht

Kim winkt uns hinein. In der Herberge ihrer Eltern im Mekong-Delta darf zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder Platz für große weiße Langnasen sein. Endlich jemand, mit dem sie Englisch üben kann. Denn Englisch, weiß sie, ist wichtig, um sich in den thailändischen Flüchtlingslagern durchzusetzen und vielleicht doch nicht, wie immer mehr Boat People, nach Vietnam zurückgeschickt zu werden. "Für mich gibt es hier immer noch keine Zukunft”, sagt sie. Dennoch: Nur wenige ihrer Landsleute besteigen noch einen der Seelenverkäufer, die Ende der siebziger Jahre eine ganze Schicht des Volkes in den reichen Westen, in ein überfülltes Übergangscamp oder auf den Meeresgrund brachte. Kim will die teure Route nach Thailand nehmen; dort warten weniger Piraten auf die Boote als auf dem Weg nach Hongkong.

Wer ist willkommen in den Städten des Nordens?

Im Norden des Landes ist es bisweilen ungemütlich für uns. "Lintschu” schreien uns die Kinder auf der Straße nach. "Lintschu” hören wir auch die Erwachsenen rufen. Ganz anders als im Süden spürt man oft Mißtrauen, Ablehnung. Wege werden falsch beschrieben, Waren sind plötzlich ausverkauft, Türen gehen unvermittelt zu. Ab und an fliegt ein Stein. Wir verstehen das alles nur zu gut. Natürlich kann man hier nichts von Leuten halten, die aussehen wie Amerikaner. Was aber heißt "Lintschu”? "Russe” übersetzt uns ein Student schließlich. "Wer hier wie ein Russe aussieht, ist nicht beliebt. Die haben uns nämlich ihre arrogantesten Funktionäre hergeschickt. Das waren unsere Kolonialherren, nicht die Amerikaner. Sobald die Leute wissen, daß ihr Deutsche seid, werden sich ihre Mienen aufhellen.” Womit haben wir das eigentlich verdient?

(hn)

Reisen auf eigene Faust in Vietnam

Gelangten Touristen früher nur im überwachten Rudel ins Land, so kann man heute auch wieder als Einzelreisender nach Vietnam eindringen. Seit etwa 2 Jahren stellen einige vietnamesische Botschaftsangestellte zu gewissen Zeiten, unter bestimmten, wechselnden Bedingungen, wieder Einzelvisa aus (wenn sie gerade gut gelaunt sind). Oft genügt schon die Buchung einer 1-Tages-Tour für nur 100 Dollar, um ein Visum für 2, 3 oder vielleicht sogar 4 Wochen zu kommen.

Am besten kann man eine solche Reise von Bangkok aus planen und organisieren (Flüge nach Bangkok ab etwa 1100-1400 DM). Der Stadtteil Banglampoo hat sich in den letzten Jahren zum wohl größten Rucksacktouristen-Ghetto der Welt entwickelt. Die unzähligen Reisebüros, die sich hier vor allem an der "Khao San Road” angesiedelt haben, vermitteln einem die Schein-Tagestouren zusammen mit dem eigentlich gewollten vietnamesischen Visum - für 350 $ bekommt man dann z.B. die Einreisegenehmigung, die Pflicht-Tour in Vietnam und die Flüge Bangkok-Saigon und Hanoi-Vietiane (Laos). Wenige Reisende haben es bisher geschafft, ihr Visum direkt bei der vietnamesischen Botschaft zu bekommen; aber auch in diesem Fall empfiehlt sich die Vertretung in Bangkok.

Von Banglampoo aus reisen sehr viele Traveller in die umliegenden Länder Südostasiens; hierhin kehren sie aber vor allem mit den neuesten Nachrichten und Tips aus diesen Ländern zurück. Man tut also gut daran, hier in den Cafés und Unterkünften rund um die "Khao San Road” möglichst viele Informationen zu sammeln; denn die Bestimmungen und Bedingungen für Touristen in Vietnam ändern sich, wie gesagt, ständig. Einige Tage in der Rucksacktouristen-Kolonie sind besser als jeder noch so umfangreiche Reiseführer.

Besonders wichtig ist es, herauszufinden, ob und welche Reisegenehmigungen man für welche Art der Fortbewegung außerhalb Saigons und Hanois braucht, wo man gerade echte oder gefälschte Reisegenehmigungen zu welchem Preis bekommen kann und was es kostet, ohne einen Permit erwischt zu werden. Auch die Auswahl der billigen Unterkünfte (ab ca. 2$ pro Nacht und Person im Doppelzimmer) verändert sich ständig, ebenso die Empfehlungen für das Weiterkommen im Lande (ab etwa 0,5 Cents pro Kilometer im Überlandbus).

Wer die Zeit hat, sollte, um ein Gefühl für die Region zu bekommen, eine Reise nach Vietnam mit einer Fahrt nach Laos oder Kambodscha verbinden. Kambodscha ist von Thailand aus zur Zeit nur mit dem Flugzeug zu erreichen, in die laotische Hauptstadt Vientiane aber kann man mit Bus und Bahn gelangen

Reiseführer: "Vietnam”, Lonely Planet Verlag, Seattle, USA (engl.); Illner, Hans: "Reiseland Vietnam”, edition aragon, Moers..


Helme mit grünem Punkt

Jahrelang hatte der Krieg ein negatives Image, doch langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß Pazifisten Kriege erst möglich machen. Darum wird auch demnächst in Deutschland aus humanitären Gründen und einem neu gewachsenem Verantwortungsgefühl der Krieg zu einer friedenschaffenden Maßnahme erklärt.

Es ist beruhigend, daß den deutschen Soldaten abstehende und liebgewordenen Körperteile auch von Granaten abgetrennt werden, auf die akkurat "Made in Germany” gestanzt war und deren Verpackung einen grünen Punkt trug. Denn deutsche Waffen sind in aller Welt beliebt.

Die Einführung einer Gewissensprüfung für Politiker, die im Aufsichtsrat eines Rüstungsunternehmens sitzen, wird verständlicherweise am breiten Konsens dagegen scheitern. Und so werden demnächst deutsche Krieger im wilden Kurdistan oder milden Cuba am Lagerfeuer zur Guitarre "Blowing in the wind” singen. Unterdessen werden sich die Unterhändler der Waffenstillstandsverhandlungen in Genf oder Wien nach anstrengenden Wortgefechten im Wirlpool entspannen, während verzweifelte Waffenhändler und -produzenten zwischen den verfeindeten Hotels hin- und herpendeln, um auf den Verlust ihrer Arbeitsplätze hinzuweisen, der bei Einstellung der Kriegshandlungen droht.

Endlich müssen breite Schichten des Volkes über die komplexen Zusammenhänge und die daraus resultierende Doppelbelastung manchen Politikers aufgeklärt werden. Es ist fast eine menschliche Tragödie, wenn der Direktor einer Filiale von Zavodi Crevna Zastava, dem größten serbischen Rüstungsunternehmen, Eaglburger heißt.

Reisen bildet

Soweit die eher langweilige wirtschaftspolitische Seite. Aber so ein Krieg in der Fremde hat auch etwas kulturelles. Reisen bildet. Und darum könnte man sich vorstellen, daß schwächere Abiturienten die Gelegenheit bekommen, ihren Durchschnitt "Out of Area” zu verbessern. Für eine Stelle in der EG-Administration ist der geleistete Wehrdienst schon längst ein Einstellungskriterium.

Man kann nur hoffen, daß die deutschen Universitäten, die Potentiale, die der Krieg für Lehre und Forschung bereit hält, erkennen. Die Feldforschung im Buschkrieg wurde schon versäumt. Zukünftig aber wird das AAA Auslandssemester für finanzschwache Studenten aus Facharbeiterfamilien zum Nulltarif anbieten können und Sprachstudenten bekommen die Möglichkeit zu Praktikas im Einsatzgebiet. Psychologische Studien zur Kastrationsangst des Soldaten vor dem Einsatz oder Dissertationen über die ethnologischen Unterschiede in der Kriegsführung und deren Auswirkung auf die Akzeptanz beim Verlust von Körperfunktionen drängen sich förmlich auf. Von den Philosophen erwarten wir eine Phänomenologie des Schönen des Krieges und Archäologen werden Zugang zu bisher unerreichbaren Ausgrabungsstätten bekommen. Theologen werden basierend auf den Erfahrungen aus der Zeit der Kreuzzüge eine Moral für eine neue christliche Weltordnug erarbeiten. Die Fakultät für Islamwissenschaften wird hingegen in die direkte Nähe der zu erwartenden Krisengebiete verlegt.

Heimatfront

Die unüberschaubaren Möglichkeiten für Mediziner seien nur angedeutet: Operationskurse für Chirurgen, neue Erkenntnisse bei der Erforschung von Phantomschmerzen.. Deutschland wird wieder eine Führungsposition in der Prothesenentwicklung einnehmen. Neue Medikamente können im Rahmen von humanitären Maßnahmen an verwundeten Gegnern getestet werden. Junge Ärzte, die hier der Solidargemeinschaft beschäftigungslos auf der Tasche liegen, können ihr praktisches Jahr hinter der Front ableisten. Dabei verlieren sie die psychologischen Zimperlichkeiten und empfehlen sie als Vertrauensarzt für Landesversicherungsanstalten Germanisten, die sich freiwillig gemeldet haben, werden nach Befriedung der Krisengebiete beim Aufbau von Goethe-Instituten bevorzugt berücksichtigt.

Auch an der Heimatfront wird sich die gesellschaftliche Atmosphäre positiv verändern. Nicht die pazifistischen Schlappschwänze und Arschabwischer, die sogenannten Zivildienstleistenden, dienen dem Frieden, sondern die treu dienenden Bundis. Bei Einstel-lungsgesprächen wird die Frage nach "Auslandserfagrungen" zu den Standards gehören.

Und wer dann nicht dabeigewesen ist und seine Narben nicht wenigstens der Mensur verdankt, sondern nur dem letzten Fahrradunfall, wird die Augen niederschlagen und erkennen müssen, daß er den Job nicht verdient hat, weil er erst Kriege verursacht und dann kneift.

(fb)


Männermord als Uni-Sport

Ich habe Angst. Eine gute Freundin, nicht unattraktiv und bisher der zweitfriedlichste Mensch auf Erden, weiß jetzt, "wieviel Kraft in ihren Ellenbogen steckt”. "Ja”, strahlt sie,”endlich habe ich gelernt mit, Gewalt umzugehen, so richtig körperlich aggressiv zu sein.” Sie beklagt das friedvolle Elternhaus, nie eine Chance gewalttätig zu werden. Woher soll man da wissen, wieviel Kraft in seinen Ellenbogen steckt?

Der Wunderkurs, der ihr zu guter Letzt doch noch Gewalttätigkeit gelehrt hat, heißt "Selbstverteidigung für Frauen”. "Männer”, so das Credo der Kursveranstalter, "sind von Natur aus gewalttätig, Frauen müssen das erst mühsam lernen.” Natürlich! Sie haben recht! Die männliche Hälfte der Erdbevölkerung ist ein Wahnwitz aus Gewalt und Brutalität. Und was wäre bessere Abhilfe, als der anderen friedfertigen liebegebenden Hälfte nicht auch noch Gewalt und Brutalität beizubringen?

Nur haben die Kursveranstalter "Selbstverteidigung für Frauen " dabei eines vergessen. Und das bin ich: 1,60 m groß, Fliegengewicht, immer schon leicht asthmatisch und Arme wie Streichhölzer. Ich verabscheue Gewalt. Schon als Kind zog ich es vor, dem Schul-Halbstarken, nachdem er mein Pausenbrot verzehrt hatte, zum Nachtisch noch sein Lieblingseis zu kaufen als mich auf eine Schlägerei einzulassen. Als meine Mutter einmal einem Hund den Schwanz abfuhr, bekam ich Hautausschlag und verpaßte das Einmaleins. Das Schlimme daran ist: Ich bin Mann. Mir zeigt niemand, wieviel Kraft in meinen Ellenbogen steckt. Und so bin ich dann auch das einzige Opfer in einer Welt voller Kraft und Ellenbogen:

Ein Sonnentag. Ich wandele lustbeschwingt, im übrigen aber völlig gewaltfrei, die Heidelberger Hauptsraße entlang. Auf den Lippen ein Lied von Männern, die viel Zärtlichkeit brauchen; in Gedanken ein Bild von Menschen mit Blumen in den Haaren und ein Duft von Gras und Liebe. Links in meinem Blickfeld erscheint das bezauberndste Wesen am weiblichen Horizont. Dahinter - wie könnte es anders sein - die häßlichste aller SelbstverteidigerInnen für Frauen. Das erfahre ich aber erst später.

Natürlich weiß ich, daß es ungezogen ist und sich so ganz und gar nicht gehört. Aber so eine klitzekleine Geste in Richtung der Schönen ( merke: nicht der Häßlichen, der SelbstverteidigerIn dahinter) kann ich mir dann doch nicht verkneifen. Vielleicht pfeife ich ihr nach. Vielleicht schiele ich kurz etwas weniger schüchtern hinter meinen dicken Brillengläsern hervor. Vielleicht schnalze ich auch nur mehr so für mich anerkennend mit der Zunge. Da geschieht es: Die SelbstverteidigerIn fühlt sich -zu Unrecht- angemacht und sieht rot. Sie ist auf diese Situation vorbereitet. Oft genug stand sie vor ihrem von oben bis unten mit Schutzpolstern bedeckten Trainer. "Haut rein in die Vollen!” hat er dann gerufen und "Immer zwischen die Beine halten, Mädels! Da, wo er's spürt!” Erst wollte sie ja eigentlich nicht so recht. Sie fand, daß die Männer doch ganz lieb aussähen. Aber ihre KollegInnen nahmen ihr die Skrupel. "Zeig mir einen”, sagten sie, " einen einzigen, der kein potentieller Vergewaltiger ist, alles Lustmörder, Monster sind das.” Und ihr Betreuer fügte hinzu: "Ich schäme mich, ein Mann zu sein.” Mit der Zeit hat sie dann viel Spaß daran gefunden, ihrem Trainer in den Sackschützer zu treten.

Ich trage keinen Sackschützer. Der erste Tritt sitzt. Ich gehe in die Knie. Daß es besser als im Training sein würde, hatte man ihr ja gesagt. Aber so gut hat sie es sich dann doch nicht vorgestellt.

Die wohlbekannten Klänge krachender Knochen und platzender Hoden locken andere SebstverteidigerInnen an. Sie fassen sich an den Händen, schwenken lila Tücher und skandieren "Schwanz ab! Schwanz ab!” "Sollen diese Blödfrauen sich in Zukunft doch selber vergewaltigen”, denke ich, "werden ja noch sehen, was sie davon haben.” Die SelbsdtverteidigerInnen fühlen sich inzwischen so richtig wohl. Das hier ist ihr Leben. Einige veranstalten Trampolinspringen auf meinen Eingeweiden. Andere tauschen Merksprüche aus: "Trittst du in den Schwanze ihn, krümmt er sich zur Seite hin.”

"Was sind das für Männer, die euch so etwas beibringen?”, schreie ich, während mir eine AnfängerIn ihr Anti-Triebtäter-Spray in die Augen pustet. "Sado-Maso-Jünger? Schwule mit Partnermangel?” Es ist nichts als Galgenhumor. "Liebe und Schmerz”, siniert eine erfahrene SelbstverteidigerIn für Frauen und befördert mich per Handkantenschlag in eine bessere Welt.

Außer daß ich Mann war, habe ich mir auf Erden nie etwas zu schulden kommen lassen. Durch den langen Tunnel fliege ich direkt in eine stille Ecke des himmlischen Gartens. Dort sehe ich ein weinendes Mädchen sitzen. "Warum weinst du?”, frage ich, und Mitleid schnürt mein Herz zusammen. Sie schluchzt kurz auf und dann erzählt sie. Von dem Kurs "Selbstverteidigung für Frauen”. Und wie man ihnen in der ersten Stunde einen Video gezeigt hat, wo eine Frau einen Ziegelstein mit ihrer bloßen Faust zerschlägt. "Alle Frauen können das”, hat der Trainer gesagt. Und dann hat er noch gesagt: "Ich bin heute abend hier, weil ich mich schäme, ein Mann zu sein.” Was das bedeuten sollte, hat sie damals gar nicht so richtig realisieren können. Sie liebte ihren Vater doch, und der große Bruder war manchmal auch ganz nett. In der zweiten Stunde sollten sie dann den Ziegelstein zerschlagen. Alle konnten den Ziegelstein zerschlagen, nur sie hat sich die Hand verstaucht. "Die Sache war klar”, schluchzt sie, "alle Frauen können den Ziegelstein zerschlagen. Nur ich kann es nicht. Also bin ich keine Frau. Irgendwann habe ich es dann nicht mehr ausgehalten, keine richtige Frau zu sein und mich im Neckar ertränkt.” Ich nehme sie in den Arm und erzähle ihr von einer Zeit, in der die Frauen noch zum Orgasmustraining gingen, damit sie ein erfüllteres Liebesleben hätten. "Orgasmus? Liebesleben?” ,fragt sie verständnislos,”Was ist das?”. Als wir zurück in das himmlische Gras sinken, werfe ich einen letzten Blick auf die Erde. Im Bundesleistungszentrum tragen sich gerade zwei SportstudentInnen in eine Liste ein. "Männermord als Unisport” steht darüber. "Wie vergewaltige ich einen Mann/Fortgeschrittene”.

(tb)


Betroffenheit

Von der Psychologie der besseren Menschen

Schick ist es nicht mehr, schließlich sind die Achziger vorbei. Nur die wenigsten sind es immere noch, die haben den selbstgetöpferten Hirsetee-Becher schon längst mit einer Sektschale vertauscht und fröhnen völlig schamlos dem schnöden Materialismus. Wenn das kein Grund ist für die, die es immer noch sind, es auch zu bleiben: betroffen.

Es war ja auch ein bischen ungemühtlich, als früher plötzlich alle betroffen waren, als man nicht mehr unter sich war, in den Kneipen, in denen gelegentlich Antje mal was zur Klampfe sang. Oder als plötzlich Frau Schneider vom zweiten Stock, die bestimmt nur F. D. P. gewählt hatte die ganzen Jahre, auch in die Atemgruppe kam. Inzwischen kommt sie nicht mehr, aber man hat es ja immer gewußt, das "Hey, Du...” hatte bei ihr irgendwie einen falschen Klang. Ja, jetzt ist man wieder Minderheit , und das erleichtert das Leben , vor allem, wenn man es auf einer höheren Bewußt-seinsebene zu führen gewohnt ist. Es war ja letztendlich gar nicht einzusehen, daß der Rest des Volkes auch betroffen war von Dingen, die man doch erst mal verstehen mußte! Gott sei Dank hat man sich nie die Finger schmuzig gemacht, hat man sich nie mit diesen Mitläufern, diesen Oppurtunisten gemein gemacht. Wie die sich vom System haben korrumpieren lassen, unglaublich. Zum Beispiel Herr Knoff aus der Querstraße. Der hat mal im Fernsehen eine Sendung über das Wettrüsten und dessen Auswirkung auf die Dritte Welt gesehen, kam dann zu allen unseren Diskussionsrunden und Schweigekreisen. Dann haben wir ihn lange nicht mehr gesehen, plötzlich tauchte er dann im Fernsehen auf, wie er von so einem CDU-Minister eine Spende für sein Projekt in Nigeria , oder so, gekriegt hat. Sogar die Lufthansa hat ihm den Flug da runter immmer bezahlt. Wie man sich nur so prostituieren kann, so anbiedern, wie man seine Prinzipien so ohne weiteres über Bord werfen kann!

Schön, daß solche Leute nicht mehr stören. Zumal an den Betroffenen das (ruhmlose) Ende des gesellschaftlichen Alternativentwurfs östlich von uns auch nicht gerade spurlos vorübergegangen ist. Von gelegentlichen Ausnahmen (Golfkrieg = Demo gegen die USA und ihr verbrecherisches Regim) abgesehen ist Innerlichkeit angesagt, denn ändern kann man ja nichts an Ausländer-feindlichkeit / Ozonloch / Ausbeutung der DDR / Tierversuche / Bürgerkrieg in Jugoslawien , zumindest nicht ohne dieses System in irgendeiner Weise anzuerkennen. (Zwischenfrage: wen soll dieses System eigentlich verteidigen, wenn niemand das verteidigt, hm?) Wie schön, daß man da betroffen sein kann, es kostet nämlich nichts, noch nicht mal Überwindung , und ist praktisch folgenlos - aber man wird dadurch schlagartig zum besseren Menschen. Schließlich läßt man sich, zum Beispiel bei einem Konzert eines Liedermachers, das Elend der Kinder in Guatemala mit einem Lied nochmal so richtig knallhart vor Augen führen. Und da wird es ganz still. Ganz still. Weil, wir hören jetzt nicht mehr bloß zu, nein, jetzt machen wir Politik. Wir opfern gerade einen netten Konzertaugenblick dem namenlosen Schrecken der Erde außerhalb dieses Saales. Wir machen ihn uns bewußt, es wird uns klar. Und wir bewundern den Sänger, diesen erwählten Barden menschlichen Elends, der so großartige und treffende Worte gefunden hat für das Leid der Kinder in Guatemala . Den Nicht-Betroffenen kommen langsam die Tränen. Was hat es für einen Sinn, ein ohnehin betroffenes Publikum betroffen zu machen.? Was hat es für einen Sinn, wenn der Liedermacher Gehard Schöne Ende Oktober im Schloß einem wissenden Publikum Wissen vermittelt? Was für einen Sinn als den der Gewissensberuhigung? Nein, die Betroffenen wollen mit diesem System nichts zu tun haben, mit der Bundesrepublik und ihren Parteien keine Kompromisse schließen, desswegen können sie konkret leider gar nichts tun. Betroffenheit muß reichen. Sie reicht auch, meine Lieben, um sich einen Abend lang vorzulügen, man gehöre zu den besseren Menschen. Sie reicht auch, um sich einzureden, mit Betroffenheit sei irgend-jemandem auf diesem elenden Globus geholfen. Selbstverständlich ist es völlig legitim, Lieder über das Elend zu schreiben, Kunst bedarf überhaupt keiner Rechtfertigung. Zu dumm, daß Gerhard Schöne dazu aber nicht in der Lage war, zu dumm, daß ordinäre Betroffenheitslyrik Marke "Selbstgedreht” einfach keine Kunst ist. Ja, man könnte sagen, Gehard Schöne, und der ist nur ein Beispiel, hat nicht mit seiner Kunst sein Geld verdient, sondern mit dem Elend der Kinder Guatemalas, das er zu einem banalen Liedchen umgeschmolzen hat. "Phantasievoll” sei er, hörte man hinterher: Gegenstände, die ihm geschenkt worden waren, konnte man für eine Gegengabe, die einem am Herzen lag, eintauschen. (Die LP's mußten allerdings für DM eingetauscht werden.) Natürlich muß dazu eine Geschichte erzählt werden, und was wurde da nicht alles Schönes erzählt! Ich bewundere immer wieder den Mut anderer Leute, die sich nicht schämen, ihren Seelendreck vor hunderten wildfremder Menschen auszukotzen. Aber vielleicht liegt ja gerade hier das Geheimnis: es ist eine Familie der Betroffenen, hier ist niemand mit seiner Verlassenheit alleine, hier findet sich eine Worthülse für alles, was Menschen dann doch in den Selbstmord treibt. Wir alle kennnen diese Margrets, Uschis und Ullis, die uns an der Bushaltestelle auf die harmlose Frage "Wie geht's?” von ihrer Unterleibsoperation letzter und der Brustabnahme nächster Woche erzählen. Genau da gehören die hin.

Nein, gefährlich sind sie nicht, die Betroffenen, manche sind ja ganz nett. Ich gehe gerne zur Moni, wenn ich an Liebeskummer leide, getröstet werden will und keine Lust habe, mich wirklich damit auseinanderzusetzen. Aber für die Probleme dieses Erdballs ist Hirsetee als Therapie zu wenig.

Raphael Utz


Zementromane

Romane

In den guten
scheitern die Helden
auf der Suche
nach einer Passage
im Packeis.
Probleme, die
Odysseus nicht kannte.
In der Realität
scheitern die Erzähler
am Leben.
Allein Detektive
erreichen ihr Ziel.
Den Kopf unter der Decke
mache ich Sterne
schwarze auf weiß.
Am Morgen gefällt mir der Satz:
Never stop breathing.

Stilleben

Zementwerk
Vor dem Glanz
eine weinende Frau.
Der Nackte in einem Neubau
ißt trockenes Laub.
Hinter der Schminke bleibt Schmerz
ein verläßlicher Halt.
In seinem Zimmer sortiert er Widerstände.
Radiomusik erinnert an einen Krieg.
Seine Sätze äußern Wünsche.
Hör dir nicht zu!
Nachts füllt ihr Atem den Raum,
streich mir über die Stirn.
Die fremde Arbeit verrät unseren Tag.

Feierabend

- Haste das mitgekriegt?
schmiere von den händen waschen#
- Gestern is schon wieder ein Flugzeug abgestürzt.
in der küche klappert geschirr
- Und der Winkelhook ist tot.
klospülung rauscht
- Schöne Scheiße.

Lebensfluß

Strömungsbekanntschaften im Scheinwerferlicht.
Steinwurfwellen die ineinander fließen
sich ineinander verlaufen.
Flußbettsänderungen
Überfluß und Trockenheit.
Süß - salzige Meeresvermischung
mit weißem Mövengeschrei.

Kafka in Heidelberg

Im Schatten des Schlosses
können die vom Philosophenweg,
im horizontal zwei- bis dreischichtig
geteilten Fluß der Geschichte
nach der Wahrheit suchen.

Gang - Art

DAS
gerade ins ohnendliche übergehend
- eben noch bestehend -
bald schon vergangene
vergehend denkend
es ist nur übergang.
doch
DU BIST


Willkommen im Club

Symposion über die "Herausforderung Informationsgesellschaft"

"Falsch programmiert? - Herausforderung Informationsgesellschaft” ist der Titel des nun schon fünften Symposions des "Heidelberger Clubs für Wirtschaft und Kultur e.V.”, das am 22. und 23. April stattfindet. In Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Kolloquien soll es um vier Themenblöcke gehen: "Künstliche vs. natürliche Intelligenz”, "Das Individuum im Angesicht der Informations-flut”, "Information - Mündigkeit - Demokratie” und "Medien”. Dabei konnten - wie schon im vergangenen Jahr - prominente und kompetente Redner und Referenten verpflichtet werden. So wird FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff zum Thema "Politik-verdros-senheit als Kommu-nika-tionsprob-lem” sprechen, Prof. h.c. Joachim Fest, Mither-ausgeber der FAZ, sich mit Wolfgang Kaden, Chefredakteur des SPIEGEL, über "Anspruch und Wirklichkeit unserer Print-medien” streiten, und der Fernseh-journalist Dieter Kronzucker unter dem Titel "Two Minutes for the President” den US-amerikanischen Wahlkampf beschreiben. Heidelberger Wissenschaftler sind auch beteiligt; neben dem Astronomen Prof. Hans Elsässer und Prof. Jakob Ossner von der Pädagogischen Hochschule wird Prof. Eberhard Schmidt-Aßmann, Ordinarius für Öffentliches Recht, über das "Für und Wider direkter Demokratie” referieren.

Die Liste der Teilnehmer wie der Themen - auf dem Programm stehen zudem noch "virtual reality”, Videokunst, Ökowerbung, Sprachphilosophie, Unter-nehmenskommunikation, "infotain-ment” und "investigative journalism” - lassen schon ahnen, was sich der "Club” für seine Veranstaltung erhofft. "Uns geht es um eine wichtige Sache, die wir an der Universität vermissen: die fächerüber-greifende Diskussion”, meint Heike Bruhn vom "Club”. "Vor allem hoffen wir auf aktive Auseinandersetzungen in den Kollo-quien.” Dort soll jene "Begegnung von Studenten mit Leuten aus der Praxis” stattfinden, die eines der Hauptan-liegen des "Clubs” ist.

Wer bei "Falsch programmiert?” dabeisein möchte, wendet sich an den "Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur e.V.”, c/o Heidelberger Druck-maschinen, Kurfürstenanlage 52, Telephon 167291. Die Teilnahmebebühr beträgt 25 DM (bzw. 75 DM für Unternehmer). Eine Anmeldefrist besteht nicht, doch da die Teilnehmerzahl beschränkt sei, "empfiehlt sich”, so Heike Bruhn, "eine schnelle Anmeldung”.

(bpe)


Harmonie-Sampler

Die Musikervereinigung "The Beatless”, das Kulturreferat und der FSK und andere Gruppen schlossen sich im SoSe zur "Initiative für ein Kulturcafé” zusammen. Über Neujahr wurde, angeregt von der Initiative, in einem improvisierten Studio eine siebzigminütige CD mit 15 stadtbekannten Heidelberger Bands produziert. Mit dem "HD-entRockt”-Sampler werden zwei Konzertfestivals in der Aula im Neuenheimer Feld 684 verbunden.

Am 12. 2. zeigen ab 18.00 Uhr Handmade, Final Step, Howhowhow, Streetband Project, Bawdy House, Jail und Abigail was sie zu bieten haben. Zwei Wochen später, am 26.2., zur gleichen Zeit , am gleichen Ort spielen Wintercamping in Warschau, 30 Zone, Teasing a Sphinx, Nonny Nonny, Inverness, Groove Garden und Throb Throb auf. Für jeweils läppische 8 bzw. 12 DM.

Etwas teurer, für 20 Mark im Vorverkauf, macht es dann am 5. April "The element of crime” um 20.00 Uhr. (Vorverkauf im ZFB, Lauerstraße 1. In den Ferien Mi. von 14-16 Uhr und plus VVgebühr an den bekannten VVstellen.

Bleibt noch anzumerken, daß die Zeitung "The Beatless” ab April ihr Themenspektrum erweitert. Zu dem bisher behandelten Rock und Pop kommen Literatur, Kabarett, Theater usw. und ein. Veranstaltungskalender

(fb)


Streit-Sampler

Auf ungetrübte Euphorie stieß man nur selten im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung. Zu schnell lenkten Fragen wie die nach dem Wie und die nach den Kosten der Wiedervereinigung ab von Reflexionen über die wahrhaft historischen Ereignisse der Jahre 1989/90. Und nicht friedvolle und stille Freude, sondern lauthalser und heftiger Streit stand bald auf dem Plan.

Von größter Bedeutung war in diesem Prozeß der Wiederannäherung der sogenannte Literaturstreit, der sich im Frühjahr 1990 an der Erzählung "Was bleibt” von Christa Wolf entfachte. Bis zu polemischer Wut steigerten sich die Beiträge prominenter Schriftsteller und renommierter Publizisten in verschiedenen großen Zeitungen Deutschlands. Denn schon bald war deutlich geworden, daß es in der Debatte um weit mehr ging als um Christa Wolf, geschweige denn ihre Erzählung: eine nötige und geradezu überfällige Diskussion um die Rolle der Intellektuellen in beiden Teilen Deutschlands in den vergangenen vierzig Jahren war endlich entbrannt.

Diese höchst interessante und zumeist auf hohem Niveau geführte Debatte zu dokumentieren, ist das Anliegen des von Thomas Anz herausgegebenen Bandes "Der Literaturstreit im vereinten Deutschland”. Tatsächlich handelt es sich hier um eine sehr sorgfältige und gut lesbare Dokumentation. Sie erlaubt jedem Interessierten, die wohl wichtigste Auseinandersetzung um die deutsche Nachkriegsliteratur nachzuvollziehen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Als Spiegel der geistigen Situation im zu einenden Deutschland aber, so wird deutlich, ist diese Auseinandersetzung nicht nur für Literaturwissenschaftler von größtem Interesse.

In kurzen, einleitenden Aufsätzen werden die wesentlichen Momente der einzelnen Diskussionsphasen zusammengefaßt. Dabei zeichen sich die Einführungen vor allem dadurch aus, daß sie sich nicht in langweiliger Objektivität verlieren, sondern durchaus auch Stellung beziehen, wobei sie jedoch zu beiden Seiten jene kritische Distanz wahren, die dem Lesern den freien Blick auf die Diskussuion nicht versperrt. Den Aufsätzen nachgestellt sind die jeweils wichtigsten Veröffentlichungen in den großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, so die den Streit einleitenden Artikel von Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher und die Repliken von Günther Grass über Lew Kopelew bis zu Martin Ahrens. Aber auch die Meinung des wortgewaltigen Wolf Biermann ist ebenso abgedruckt wie die von Walter Jens und Hans Mayer. In jedem Falle sehr lesenswert!!

Carolin Insam

Titel: Thomas Anz (Hg.): "Es geht nicht um Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991


Pure Verdünnung

Mit Motzki ist die ARD um einen neuen Spießer reicher. Trotzdem hat man sofort das komische Gefühl der Wiederholung. Der cholerische Kleinstbürger ekelt aus seinem geblümten Wohngefrierfach gegen alles was zwei Beine hat. Er neigt wie viele seiner Generation zu Größenwahn und Wirtschafts-wunderstolz, einem Gemisch aus Erziehung und Lebensgeschichte, das wir vielleicht aus eigener Erfahrung von unseren Vätern kennen. Soweit wirkt er wie das Abziebild seines Vorgängers Alfred. Aber MotzkiAlfred hat sich entwickelt. Er läßt einen Türken in seine Wohnung und auch gegen die Frauen geht er nicht mehr so erbarmungslos vor wie noch vor zwanzig Jahren. Sollte die Emanzipation etwas gebracht haben oder ist das Ekel nur älter geworden. Statt Sozis sind es jetzt die Ossis. Aber die waren ja auch Sozis. Die Probleme bleiben die gleichen und leider auch die Witze. Und Witze, die man schon kennt, sind langweilig. Bleibt die Frage, ob das Lachen über Motzkis uns hilft, mit diesen Typen besser klar zu kommen, gegen die man sowieso machtlos ist, oder ob das nur dazu führt, sich abzufinden. (fb)


ruprecht goes to the movies

Filmtips - und vor allem Meinungen

(in Klammern die Anzahl der ruprechte)

ruprechts Notenskala:
- nicht empfehlenswert
* mäßig
** ordentlich
*** empfehlenswert
**** begeisternd

Der letzte Mohikaner (1)

Klar, Michael Mann versteht sein Handwerk. Das hat er schon in unzähligen "Miami Vice”-Folgen bewiesen. Aber zum Filmemachen gehört eben mehr als Gewaltszenen in slow motion und die ach so prächtigen Landschaftsaufnahmen. Und da bietet der "Letzte Mohikaner” (nach der schon dutzendfach verfilmten Vorlage von James Fenimore Cooper) nur Komik, die keiner versteht, und das ewig nervige Ami-Pathos. Wie man hört, hat Hauptdarsteller und Frauenschwarm Daniel Day-Lewis wochenlang seine Flinte mit sich herumgetragen, um sich in seine Rolle hineinzuversetzen. Trotzdem: Er hat Besseres verdient, als jetzt mit ihr im Gebüsch herumzustraucheln.

Weiße Jungs bringen´s nicht (2)

Zwei Basketballspieler - ein weißer und ein schwarzer - raufen sich zusammen, um auf den Courts von New York City andere Teams abzuzocken. Das hat Tempo und Witz - die beiden konkurrieren nämlich nicht nur darum, wer den spektakulärsten "dunk” zustandebringt, sondern auch darum, wer der größere Maulheld ist.

Der Tod steht ihr gut (-)

Meryl Streep klagte unlängst darüber, daß es für alternde Schauspielerinnen kaum noch ernsthafte Rollen gebe. Deswegen durfte sie in "Der Tod steht ihr gut” aus dem Jungbrunnen trinken, ebenso wie ihre Rivalin Goldie Hawn, so daß sich die beiden nun, in alter Frische, eine Schlacht um das Objekt der Begierde - Bruce Willis - liefern können. Was aber als schwarzer Humor angepriesen wird, ist nichts anderes als billiger Klamauk mit einigen Spezialeffekten, die die beiden Frauen nicht unbedingt akttraktiver werden lassen.

Bodyguard (1)

"And I-hi-i will always love you-hou-ou”, singt Whitney Houston, die einen Popstar spielt. Was für ein Glück für Kevin Kostner, der ihren "Bodyguard” darstellt und sie vor einem Mörder beschützen soll - er liebt sie nämlich auch. Allerdings: Für den Zuschauer fällt bei der ganzen Sache wenig ab; denn auch wenn die Rechnung der Produzenten, durch die Koppelung eines Popstars (noch dazu eines schwarzen) mit einem (weißen) Filmidol breitestmögliche Zuschauerschichten anzusprechen, wohl aufgegangen ist, passiert zwischen den beiden Protagonisten nichts, was Anlaß gäbe, Whitneys Liebesbeteuerungen Glauben zu schenken.

Sister Act (2)

Eine Gangsterbraut auf der Flucht vor ihrem Gangster wird in einem Kloster versteckt, und siehe da: die Nonnen lernen das Leben. "Sister Act” hat Glück, daß er Whoopi Goldberg, amerikanische Vorzeige-Schwarze für alles Komische, hat; so ist ein Film herausgekommen, der sich geradezu aufdrängt für Gelegenheiten, bei denen man es nötig hat, kräftig zu lachen.

Bitter Moon (4; umstritten)

Ein skurriler Film mit unberechenbarem Verlauf. In zwei Zeitebenen wird die Liebes- und Lebensgeschichte von Oscar, einem erfolglosen Schriftsteller (Peter Coyote), und seiner Frau Mimi (Emmanuelle Seigner), einer anfangs kindlichen und sich später in einen Vamp verwandelnden Kellnerin, erzählt. Ihre intensive Liebesbeziehung leben sie vor der Kamera und in der Gedankenwelt von Harry, einem gefrusteten und verklemmten Ehemann (Hugh Grant), den Oscar mit seiner perversen Geschichte konfrontiert, aus. Harry, von der ihm fremden Welt unwiderstehlich angezogen, erfährt, wie sich Liebe und Leidenschaft Oscars und Mimis bis zu einem deratigen Höhepunkt steigern, daß sie einander überdrüssig werden, Liebe und Leidenschaft in ebenso leidenschaftlich empfundenen Haß umschlagen, der sie nur noch fester aneinander bindet. Immer wieder bricht die Schilderung intensivsten Lebens ab, wird unterbrochen von Rückschlägen in die Realität Harrys, in seinen trüben Ehealltag, der sich allerdings schlagartig ändern soll, als die Geschichte sich plötzlich in der Realität fortsetzt ... - Ein unsanft zum Nachdenken über Liebe und Hass aufrüttelnder Film.

Verhängnis (2)

Wenn man seine Familie, seinen Job und seine Zukunft vergißt, dann muß es sich um Leidenschaft handeln. Jeremy Irons spielt den rationellen Politiker, der der geheimnisvollen schönen Freundin seines Sohnes verfällt. Juliette Binoche übt eine fatale Anziehungskraft auf alle Männer aus und stürzt sie damit ins Verhängnis. Und so büßt Jeremy Irons (mit Ökosandalen und langen Haaren) für die einzige Leidenschaft seines Lebens.

Grüne Tomaten (4)

Dieser Film hat so viele sensible Heidelberger Menschen berührt, daß sich jeder Kommentar und jede Bewertung verbieten.

Gestohlene Kinder (4)

Ein Carabiniere bringt zwei Kinder in ein Heim; auf der Reise quer durch Italien kommen sie sich näher. Alles andere muß man selber sehen.


Ein Flug für Deine Meinung

ruprecht schickt zwei Student(inn)en nach London, Rom, Paris oder Kopenhagen

Du wolltest schon immer mal Michel Piccoli zu Croissants und Milchkafee treffen? Prinzessin Di vor dem Buckingham Palace "Kopf hoch, Mädchen!” zurufen? Hans-Christian Andersens kühle Meerjungfrau umarmen? Auf der Spanischen Treppe schmalhüftigen Jungs hinterherpfeifen? - Hier ist Deine Chance!

ruprecht gibt - in Zusammenarbeit mit der Deutschen Lufthansa - seinen Lesern die Gelegenheit, einen Flug zu zweit in eine europäische Hauptstadt ihrer Wahl - nach Paris, London, Rom oder Kopenhagen - zu gewinnen (ab Frankfurt).

Und mehr noch - Gewinnen ist ganz einfach:

1. Du beantwortest die Fragen der ruprecht-Leser-Umfrage. (Deine Antworten haben keinen Einfluß auf Deine Gewinnchancen.)

2. Auf dem Umfragebogen wählst Du Dein Reiseziel aus und vermerkst mindestens eine Adresse und Telephon-Nummer (notfalls Deine Heimat-Anschrift o.ä.), unter der Du bis zum 28. Februar erreichbar bist.

3. Du bringst den ausgefüllten Fragebogen bis spätestens 20. Februar zurück zu ruprecht, indem Du ihn entweder einem der ruprecht-Verteiler vor den Mensen überreichst oder an eine der folgenden Adressen schickst: ruprecht, c/o Frank Barsch, Turnerstrasse 175, 6900 HD bzw. ruprecht, c/o Bertram Eisenhauer, Kaiserstrasse 57, 6900 HD (und die Briefmarke nicht vergißt; es zählt das Datum des Poststempels).

4. Du wirst in der öffentlichen Ziehung am 21. Februar, 12 Uhr, im Foyer der Neuen Universität als Sieger ermittelt und von ruprecht benachrichtigt.

5. Du nimmst die Tickets entgegen, sucht Dir Deine(n) Reisepartner(in) und fliegst los.

Teilnahmeberechtigung und Flug-termine:

1. Teilnahmeberechtigt sind alle, die an der Universität Heidelberg oder der Pädagogischen Hochschule immatrikuliert sind. Ausgeschlossen sind ruprecht-Redaktionsmitglieder und deren Angehörige.

2. Eine Übertragung oder Barauszahlung des Gewinns ist nicht möglich.

3. Der Flug sollte eine Woche vor Abflug gebucht werden und muß bis zum 18. April 1993 angetreten sein.

4. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Was wir schon immer von unseren Lesern wissen wollten:

Der ruprecht-Frage-und-Gewinnbogen

Was studierst Du? In welchem Semester?

Woher hast Du diesen ruprecht?

O Mensa

O Seminar/Institut

O Freunde

O Kneipe o.ä.

O gefunden

Warum hast Du ruprecht dieses Mal mitgenommen?

Wie lange liest Du an dieser Ausgabe des ruprecht?

_____ Min./ _____ Std.

Liest Du ihn

O intensiv /

O teilweise /

O nebenbei?

Gibst Du den ruprecht an andere (Freund, Feind o.ä.) weiter?

O ja

O nein

Wie lange kennst Du den ruprecht (ehemals SCHLAGLOCH) schon?

_____ Semester

Welche Themen / Rubriken interessieren Dich besonders, welche würdest Du gern in ruprecht sehen?

O Hochschulpolitik

O studentisches Leben

O Wissenschaft

O Universitätsgeschichte

O Politik

O Wirtschaft

Kultur:

O Literatur

O Film

O Museen und Ausstellungen

O Theater

O Musik

O Essays/Kommentare

O Gedichte/Kurzgeschichten

O Comics/Karikaturen

O Veranstaltungshinweise

O Klatsch und Tratsch

O Kleinanzeigen (Wohnung, Partnerschaft etc.)

O Sonstiges:

Was gefällt Dir an dieser Ausgabe besonders, was mißfällt Dir besonders?

Mir gefällt:

Mir mißfällt:

Was vermißt Du bei ruprecht?

Wie würdest Du die Aufmachung des ruprecht ändern?

O gar nicht

O seriöser

O lockerer

O Sonstiges:

Welches Format sollte ruprecht haben?

O bisheriges (Zeitungs-)Format

O kleineres (DIN-A-4 Zeitungs-) Format

Wie findest Du ruprecht im Großen und Ganzen (auf einer Skala von -3 = sehr schlecht bis +3 = sehr gut)?

Würdest Du es begrüßen, wenn ruprecht künftig häufiger als zwei Mal pro Semester erschiene?

O ja

O nein

Dein Wunsch-Reiseziel:

O London

O Paris

O Rom

O Kopenhagen

Dein Name, deine Adresse(n) und Telephon-Nummer(n):

Wenn Du sonst noch Kommentare hast, leg Deinem Fragebogen doch einfach ein Extrablatt bei. Vielen Dank für Deine Mitarbeit und viel Glück!

Deine ruprecht-Redaktion


*Zur ruprecht-Titelseite