Zwei Wirklichkeiten - Ausstellungen in Mannheim und Ludwigshafen Wer sich auf die legendaere erste Schau mit dem Titel "Neue Sachlichkeit" besinnt, wird seinen Gang durch die aktuelle Mannheimer Ausstellung gleichen Namens noch vor dem of- fiziellen Vorspann (der Kriegsdarstellungen zeigt) beginnen, und zwar bei den expressionistischen Exponaten in der Sammlung der Kunsthalle; G. F. Hartlaubs Ausstellung aus dem Jahre 1925 sollte naemlich urspruenglich "Nachexpressionismus" heissen, ein Titel, der der Uneinheit- lichkeit des Kunstschaffens in den zwanziger Jahren unzwei- felhaft eher gerecht geworden waere. - Die heutige Schau gliedert sich im weiteren nach den klassischen Gattungen Landschaft (die hier zunehmend auch 'Stadtlandschaft' meint), Portrait und Stilleben. In der Vielfalt der Exponate - es sind 250 Werke von 70 Kuenstlern - stehen jeweils kritische und affirmative Tenden- zen nebeneinander; so laesst Gustav Wunderwald eine rie- senhafte massive Bruecke als beherrschendes Element ins Bild hineinragen, deren Wuchtigkeit, so meint man, die dar- unterstehenden Passanten erdruecken muss; Wilhelm Schnarrenberger zeigt abweisende monotone Haeuserfronten (deren Inhumanitaet uebrigens in der Diskussion um die Be- bauung der neuen Bundeshauptstadt zu erschreckender neu- er Aktualitaet kommt). Dagegen muten die froehliche Bunt- farbigkeit von Otto Moellers Bahnhofsvorplatz in Steglitz oder die Schneelandschaften Wegeners und Wedewers naiv und regressiv an; Adolf Erbsloeh ueberstrahlt seine Darstel- lung der Stadt Positano mit dem gleissenden Licht eines ro- mantisch-idealistischen Eskapismus'. Nicht einordnen laesst sich in dies Schema der aufs Metaphysische zielende (aber gaenzlich unidyllische) magische Realismus Franz Radzi- wills; zusammen mit den Maschinen-Darstellungen Carl Grossbergs bildet er die Wurzel fuer spaetere gegenstaendli- che Tendenzen wie z.B. den Psychorealismus Konrad Kla- phecks. Bei den Menschendarstellungen stehen Georg Schrimpfs nazarenische Religiositaet oder der 'Hurra-Bolschewismus' des heroisch-sentimentalen Arbeiterbildnisses gegen die Thematisierung des sozialen Elends der unteren Schichten. Otto Dix' Prostituiertenbilder z.B. stellen aber nicht nur die Frau als Opfer, sondern auch ihre reichen Kunden als Vertre- ter einer dekadenten Buergerlichkeit dar. Auch George Grosz, der ueber viele Werke hinweg ein Bildpersonal von typisierten, karikativ ueberzeichneten Vertretern gesell- schaftlicher Gruppierungen entwickelt hat, greift die herr- schende Klasse an; in immer neuer Weise kombiniert und kontrastiert er den Kriegsinvaliden, den wimpelschwingen- den deutschnationalen Reaktionaer, den Militaristen und das Spieperehepaar. - Eine Hauptattraktion der Ausstellung ma- chen natuerlich die gropen Individualportraits Christian Schads und wiederum Dix' und Grosz' aus. Die typischen neusachlichen Stilleben mit ihrem eigentu- emlichen atmosphaerischen Reiz verweisen nicht so sehr auf eine hoehere Realitaet im inhaltlichen Sinn wie Radziwills Landschaften, sondern beziehen ihre fast abweisende, une- motionale Nuechternheit aus der tendenziellen Autonomie der formalen Gestaltungsmittel. Alexander Kanoldts Stille- ben IX beispielsweise verharrt nicht im Mimetischen, son- dern konstituiert eine eigene Bildwirklichkeit: Die Formen sind so deutlich gegeneinander abgegrenzt, dass sie die eige- ne Abbildhaftigkeit thematisieren; auch die Farbe orientiert sich zwar zunaechst an der Wirklichkeit, wird aber derart intensiv eingesetzt, dap sie einen unuebersehbaren Eigenwert gewinnt; und schliesslich erweist sich auch die Komposition als hoechst artifiziell, indem naemlich die Blaetter der zentral angeordneten Topfpflanze in ihrer Ausrichtung praezise auf das Liniengeruest der umgebenden Gegenstaende rekurrie- ren. Zu den in Ludwigshafen gezeigten Kuenstlern, zur vollen Konkretion von Einzelform, Farbe und Anordnung der Bildelemente, ist es nur ein einziger Schritt: die Losloesung vom Gegenstaendlichen. Hier von Abstraktion zu sprechen waere falsch, da kein Bezug zur Umweltwirklichkeit mehr vorhanden ist; die Komposition steht absolut und bildet eine eigene Wirklichkeit. (Einen ergaenzenden Teilbereich wid- met die Ausstellung allerdings der Kunst zwischen Mimesis und Konkretion.) Die Konkrete Kunst laept sich grob eintei- len in eine lyrische Formensprache, die in Ludwigshafen vor allem unter dem Titel "Abstraktion in Frankreich" gezeigt wird, und ein geometrisches Gestaltungsprinzip, das u.a. im Suprematismus, im Konstruktivismus und von de Stijl ge- pflegt wurde. Waehrend die poetische Formgebung dem Ku- enstler jenseits der Gegenstaendlichkeit jede Freiheit inklusi- ve Duktus und persoenlicher Sinnunterlegung erlaubt, be- schraenkt sich der Geometrismus zumeist auf die stereo- bzw. planimetrischen Grundformen. Das radikalste durchge- hende Gestaltungsprinzip hat wohl Piet Mondrian entworfen, der nur die drei Grundfarben und die Nichtfarben schwarz und weiss nebst ihrer Mischfarbe grau zuliep und auperdem nur senkrechte und waagerechte Linien; die Diagonale war wegen ihres perspektivischen Anklangs eliminiert. Aus der- artigen Beschraenkungen ergibt sich natuerlich eine gewisse Vorhersagbarkeit bzw. Beliebigkeit, und es verlangt den Betrachter mangels Abwechslung schnell nach staerkeren Reizen; darin mag auch der Grund liegen, dap das Ludwigs- hafener Wilhelm Hack-Museum bei weitem noch nicht die bisher 15.000 Besucher der "Neuen Sachlichkeit" erreicht hat und wohl auch nicht auf die dort bis Ausstellungsende erwarteten 100.000 kommen wird. Zudem haette man viel- leicht auf einige der 400 (im uebrigen hervorragend ausge- waehlten) Exponate verzichten sollen. Weil die ungegenstaendlichen Kuenstler, die die vornehmlich dekorativen Qualitaeten ihrer Produkte durchaus erkannt hatten, auch auf die ehemals bildgebende Wirklichkeit, die sie hinter sich gelassen hatten, rueckwirken wollten, wird in der Ausstellung eine umfaengliche Auswahl nicht nur von Bauhaus-Moebeln und anderen Gebrauchsgegenstaenden aus der Entstehungszeit des modernen Designs, sondern auch von suprematistischen Kaffeegeschirren gezeigt; desgleichen wird die Auseinandersetzung der Kuenstler mit der Typo- graphie dokumentiert. (jpb)