Flug durch die Netze

Auch der einfache Heidelberger Studierende kann jetzt seine Ausfluege durch die nulldimensionale Welt des Internets ma- chen. Dort wird inzwischen die akademische Gemuetlichkeit von einer zunehmenden Kommerzialisierung bedroht.

Dieter ist viel unterwegs. Der heu-tige Tag fing z.B. damit an, dass er sich in Washington, D.C, die neuesten Bulletins des Praesidenten abgeholte (er schreibt gerade an seiner Zu- lassungsarbeit ueber das Medienverhalten der amerikani- schen Regierungschefs). Einige Sachen waren unklar, er musste sich deshalb danach mit einem ehemaligen PR- Berater des Praesidenten in Caye/Wisconsin in Verbindung setzen. Trotzdem war er am spaeten Vormittag wieder zu- hause und hatte noch Zeit, in Madrid in "El Pais", seiner spanischen Liebingszeitung, zu blaettern.

Eine schoene neue Welt fuer Dieter; fuer Sabine gehoert das schon seit fast 2 Jahren zum Alltag. Als Physikerin ist sie es gewohnt, dass sie wichtige Forschungsergebnisse immer oefter am aktuellsten in den Netzen findet, dass die Online- Daten die effektivste Moeglichkeit sind, schnell einmal etwas nachzuschlagen, dass manche Fachzeitschriften die Papier- Edition zur Ausnahme und die elektronische Form zur Regel gemacht haben.

Die Rede ist natuerlich von Ausfluegen ins Internet, dieser geheimnisvollen, anarchischen Anballung von Informationen, die - glaubt man mittlerweile nicht nur Fachzeitschriften, sondern auch der Presse von Focus bis Baeckerblume - uns alle demnaechst in einer vierten Dimension virtueller Real- titaet verschwinden lassen wird.

Auch in Heidelberg hat diese Zukunft schon begonnen, und seit dem Sommer steht das Netz selbst fuer einfache Studie- rende wie Du und ich offen. Denn jetzt kann sich jeder mit einem einfachen Antrag ein studentisches Benutzerkonto im Uni-Rechenzentrum im Neuenheimer Feld einrichten lassen, von aus er seine Entdeckungszuege durch das Netz starten kann. Das geht entweder aus dem URZ selbst oder - fuer diejenigen, die ein Modem besitzen - ueber zur Zeit sieben Telefonanschluesse, die man von zuhause anrufen und sich so ferngesteuert in die URZ-Computer einloggen kann. Noch ist es nur ein verhaeltnismaessig kleiner Teil der Stu- dierenden, die unterwegs sind: Gegen Ende Oktober gab es z.B. im Uni-Rechenzentrum etwa 4000 Konten (die soge- nannten "Logins" oder eben Englisch "Accounts"); davon waren aber in den vorangegangenen 3 Monaten nur etwa 1100 aktiv gewesen. Studentische Konten gab es etwa 700, davon rund 300 aktive Benutzerinnen und Benutzer (zu 86% Benutzer uebrigens). "Jetzt, zu Semesterbeginn werden taeglich werden aber 20-30 neue Antraege gestellt," sagt man uns im Rechenzentrum aber.

Was wollen die alle dort? Wir fragten uns das auch und starteten eine kleine Umfrage unter den aktiven Benutzern - per e-mail natuerlich (und natuerlich nicht ohne ein paar un- serer Opfer mit in 100facher Ausfertigung verschickten Fra- geboegen zu verwirren). 590 Leute - der allgemeinen Zu- sammensetzung nach hauptsaechlich Studierende im Haupt- studium und Doktoranden - antworteten. Erwartungsgemaess kuerten sie die elektronische Post, die e- mail, zum beliebtesten Dienst des Internet. Der Austausch von elektronischen Briefen oder Rundbriefen ist also der wichtigste Grund, sich an den Bildschirm zu setzen - und zwar, das zuzugeben scheuten sich die meisten nicht, auch im privaten Bereich ("sonst wuerde mich meine Freundin in Kanada verlassen", merkte ein Befragter an). Damit verbun- den sind die sogenannten "Newsgroups"; das sind weltweite schwarze Bretter (zur Zeit knapp 6000), in denen man zu bestimmten, oft eng begrenzten Themen Rat geben oder su- chen oder Diskussionen fuehren kann.

An zweiter Stelle steht einerseits das Fernbedienen anderer Computer mit dem "telnet"-Kommande; daneben aber jetzt schon ein ziemlich junger Dienst, das "WorldWideWeb" ge- nannt. Das ist der bisher umfassendste und erfolgverspre- chendste Versuch, alle in den elektronischen Weiten erhaelt- lichen Informationen, die oft auf ganz unterschiedliche Weise gesucht und abgerufen werden muessen, miteinander durch eine immer groessere Anzahl von automatischen Querver- weisen zu vernetzen. So wird man automatisch von einem Computer zum naechsten, von einem Kontinent zum anderen geschickt, bis man seine Daten hat. Zwar reichen auch hier auch die duemmsten Terminals und Computern, bei hoehe- ren Maschinenwesen aber kann man so auch bunte Bildern und schrille Toenen einfangen.

In der Beliebtheitsskala hinter dem WWW kommt "Gopher", das als Vorform des erstgenannten betrachtet werden kann. Auch hier werden Informationen, die sich auf irgendeinem Computer irgendwo auf der Welt befinden, den Benutzern anderswo mit Querverweisen zugaenglich gemacht. Nur ist das alles textorientiert, also bei weitem nicht so universell wie das WorldWideWeb. Das WWW selbst ist ein Mittel, um an weitere Dienste des Internet heranzukommen: Die Uebertragung von Dateien vie "ftp", z.B. als Zugriff auf eine riesige Anzahl von oeffentli- chen Software-Archiven ; die Abfrage von Datenbanken und von Datenbanken ueber Datenbanken (mit WAIS z.B.); das Blaettern in elektronischen Zeitungen. Fuer direkte, hautna- he Beschimpfungen sind die IRC-Kanaele zustaendig: Hier kann man wie mit Funkgeraeten mit mehreren Leuten gleichzeitig (sozusagen) in Echtzeit Meinungen austauschen.

All dies ist laengst nicht mehr nur fuer Naturwissenschaftler interessant, obwohl die bei der Anzahl der Benutzer im Re- chenzentrum und auch bei der Vernetzung in ihren eigenen Instituten klar in Fuehrung liegen (in unserer Umfrage waren es mehr als 80% Naturwissenschaftler): Auch Germanisten oder Psychologen erstarren mit zunehmender Haeufigkeit vor ihren Bildschirmen und versinken fuer Stunden im Cy- berspace. Die Nutzung fuer Studium und Forschung scheint in Heidelberg, glaubt man der ruprecht-Umfrage, dabei auf jeden Fall die Hauptrolle zu spielen (wer gibt schon gerne zu, dass er auch gelegentlich ein interaktives Ballerspiel ue- ber transatlantische Leitungen sausen laesst). Trotzdem sind es vor allem die Naturwissenschaftler, die sich ihre Arbeit kaum ohne Online-Datenbanken und Zugrif- fe auf andere, weit entfernte Archive vorstellen koennen. Bei ihnen wird der Umgang mit diesem Medium, das kann man an den Antworten und vor allem auch an den Kommentaren erkennen, schon in viel groesserem Masse erwartet. Das merken so viele, dass sich der Verkehr im Netz von und nach Heidelberg ungefaehr jedes halbe Jahr verdoppelt; aehnliches gilt fuer das gesamte Internet. Fuer Neulinge ist die WWW-Titelseite des Unirechenzen- trums ein guter Platz, um einen Streifzug durch die Netze zu beginnen. Von dort aus kann man z.B. zum Gesamtkatalog in der Schweiz gelangen, von dem aus man wiederum nach Amerika, Asien oder auch nebenan nach Mannheim verwie- sen wird. Oder vielleicht nach Heidelberg. Man weiss nie.

Noch ist das Internet, wie ein Benutzer irgendwo aus Idaho einmal in eine Newsgruppe schrieb, "das, was der prakti- schen Verwirklichung von Anarchie in unserer Welt momen- tan am naechsten kommt". Es gibt sozusagen keine Hierar- chien: Wer etwas zu sagen hat, stellt es als Datei zur Ver- fuegung und hofft, dass sich jemand dafuer interessiert; wer etwas braucht, sucht halt irgendwo in den virtuellen Weiten nach der benoetigten Information; die Netze schlucken an- onyme Tiraden ebenso wie gepflegte politische Diskussio- nen. Die Regeln variieren und werden von den jeweils Be- troffenen gemacht; meist gibt es viele Alternativen und nie- manden, der ueber einen ganzen Bereich herrscht. Die Hoch- schulen und Forschungseinrichtungen stellen die Infrastruk- tur zu Verfuegung, ohne von jedem Einzelnen Rechenschaft zu verlangen: Einige Firmen sind dabei, in der vagen Vermu- tung, dass Imagepflege auch im Netz fuer sie wichtig ist. Zwar gibt es zentrale Stellen, die Adressbereiche vergeben oder als sogenannte "Backbone"-Rechner einen grossen Teil des Datenverkehr in einer Region vermitteln: Im Prinzip denkt man im grossen gemeinsamen Streben nach wissen- schaftlicher Wahrheit nicht so sehr daran, welche Uni wel- chem Institut welches Bit in Rechnung stellen sollte; die Wege der Elektronen sind schliesslich nicht voraussehbar, da die Router immer die guenstigsten, aber eben nicht immer die gleichen Wege fuer die Daten waehlen.

Doch diese akademische Gemuetlichkeit schwindet in dem Masse, da sich auch kommerzielle Anbieter in den Cyber- space draengen. Immer oefter stellt hier die Frage: Wer zahlt fuer welche Leitungen? Wer darf von welchen Verbindungen profitieren und damit letztendlich Geld machen? Ist die Um- wandlung eines Wissenschaftsnetzes wie des Internet in ein Massenmedium ueberhaupt machbar?

Wer sich jetzt einklinkt, wird die Antworten mitgestalten koennen.

hnikolau@urz.uni-heidelberg.de
uetz@embl-heidelberg.de

Antraege fuer studentische Benutzer-Accounts gibt es in der Beratung des URZ, INF 293. Nach Vorzeigen des Studi- ausweises habt Ihr Euren Zugang in der Regel am naechsten Tag. Dann koennt Ihr die Unix-Computer benutzen, Euch aber auch vom PC-Pool und von den Macintoshs einloggen, ebenso aus den PC-Pools der UB in der Altstadt. Darueberhinaus bieten immer mehr Instiute - auch in der Altstadt - ihren Studierenden vernetzte PC-Pools und Zu- gaenge zum Internet.

Literatur, um sich zurechtzufinden, gibt es z.B. im URZ und in der UB, etwa "In 8 Sekunden um die Welt" von Gunther Maier oder "Navigating the Internet" von R.J.Smith und M. Gibbs.