"Nicht Geisteskrankheit, sonder Liebe" Studentenalltag in China Ploetzlich wird es dunkel. Dort, wo sich der chinesische Volkswirtschaftstudent Geng Huang eben noch die Haare glattstrich und Gel in die Schlaefen massierte, glimmt jetzt ein Zigarettenende. Die Dunkelheit schluckt die Schweiss- tropfen auf seiner Stirn. Ab 10.30 herrscht in den Studen- tenwohnheimen der Universitaet Nanjing Elektrizitaetssper- re. Auch Samstag nachts. "Viel zu frueh, um im Dunkeln rumzusitzen", sagt Geng Huang. "Hier kann man nicht rich- tig lernen, nicht richtig leben und" - er senkt die Stimme zu einem vertraulichen Fluestern - "nicht richtig mit seiner Freundin zusammensein." Wohnheim der Studenten der Volkswirtschaft, 6. Stock, Raum 6-314 steht auf Geng Huangs Visitenkarte. Was die Visitenkarte verschweigt: In Raum 6-314 leben acht Studen- ten auf zwanzig Quadratmetern. Die Poster an den Waenden wellen sich vor Feuchtigkeit. Es riecht nach Schweiss, Rauch und billigem Rassierwasser. Vier Doppelgeschossbetten, zwei Tische aus Sperrholz und eine unverhangene Neonlam- pe - "Du kannst dich an alles gewoehnen", sagt Geng Huang,"nur nicht daran, dass du nie allein bist." Auf zwei Meter Entfernung werden die besten Freunde unertraeglich: "Wenn meine Freundin hier ist, muss ich die Vorhaenge vors Bett ziehen." Draussen, auf den Rasenflaechen zwischen den Gebaeuden, haben einige Studenten Feuer gemacht. Sie sitzen in Grup- pen um die Flammen herum, lutschen Wasserschnecken aus und trinken Cola gegen das Salz in den Schnecken. In den unruhigen Licht- und Schattenmustern dahinter, auf Unterla- gen aus Zeitungspapier und Handtuechern, draengen sich die Liebespaare. Geng Huang schlaegt in militaerischer Pose die Arme hinter dem Ruecken zusammen und verzieht den Mund: "Wissen die eigentlich nicht," , zischt er durch die Zaehne, "dass es illegal ist, waehrend des Studiums einen Partner zu haben? Die sollen studieren und sich nicht verlie- ben. Das sind Konterrevolutionaere, Unzuechtige!" So sei das frueher gewesen, lacht er. Liebe an der Universitaet wurde mit Verlust des Studienplatzes bestraft. Die Regelung gebe es immer noch. Aber seit Beginn der Oeffnung Chinas wuerde sie nicht mehr angewandt. Er schaut nachdenklich auf die Paare: "Drei meiner Freunde mussten ihrer Mutter versprechen, vor dem Diplom keine Freundin zu haben. Die haben das bis heute gehalten. Lange geht das aber nicht mehr gut." Vor dem Frauenwohnheim versperrt die Hausmeisterin den Eingang: "Die Maedchen laufen da jetzt im Sommer immer leicht bekleidet herum. Die wollen da keine Maenner sehen, wenn sie aus der Dusche kommen. Schon gar nicht mitten in der Nacht." "Verdammt", fluestert mir Geng Huang ins Ohr, dann laechelt er die Hausmeisterin an und sagt laut: "Prof. Zhu hat mir aufgetragen, Zhou Min die beiden neuen Ex- amensthemen mitzuteilen. Ich muss dringend mit ihr spre- chen." Die Hausmeisterin schaut Geng Huang solange starr in die Augen, bis dieser den Blick abwendet. Dann laechelt sie: "Deine Freundin lernt gerade im Auditorium, glaube ich." Aus den hohen Gitterfenstern des Auditoriums faellt ein Lichtkegel in die Platanenallee, die zum Eingangstor fuehrt. In einem kuenstlichen Pappelwald am Rande der Allee steht ein Gitarrenspieler, das rechte Bein auf eine Steinbank ge- stuetzt, singt er vor einem verstreut um ihn herum sitzenden Publikum die Lieder Cui Jians, des kommunismusfeindlichen Propheten der chinesischen Rockmusik: "Jedesmal, wenn ich dich kuesse, spuere ich den Irrsinn. Gestern habe ich meine Augen noch benutzt, um die Welt zu betrachten. Heute sehe ich nur noch dich. Das Problem ist: die Welt und ich werden von dir ausgeloescht... ". Zhou Min sitzt in der zweiten Reihe, eingeklemmt zwischen zwei anderen Studenten, deren Arme sie beim Schreiben streift. Sie hat einen Papierblock untergelegt, damit der Ku- gelschreiber nicht auf dem Holztisch klappert. Es dauert eine Weile, bis sie Geng Huang bemerkt, der ihr vom Eingang aus zuwinkt. Sie schiebt sich lautlos durch die Stuhlreihen, so lautlos als wuerde sie beim geringsten Geraeusch aufhoe- ren zu existieren. Geng Huang begruesst sie mit einer kurzen Beruehrung. "Wir treffen uns in einer Stunde auf der Party im Biologiegebaeude, ja?" In einer Bar vor dem Haupttor der Universitaet laedt mich Geng Huang zu einem Bier ein. Er zuendet sich eine Zigaret- te an; dann erzaehlt er eine Liebesgeschichte. "Zhou Min ist eine wunderbare Frau. Ich war von Anfang an sie verliebt. Aber ich war zu schuechtern, sie anzusprechen. Eines Tages, als ich beim Lernen hinter ihr sass, habe ich meinen Taschen- rechner unter ihren Stuhl fallen lassen. Ein Stueck Plastik ist abgesprungen und die Batterien sind herausgefallen. Sie hat den Taschenrechner aufgehoben und mir zurueckgegeben. Wenn dein Taschenrechner kaputt ist, hat sie gesagt, kannst du meinen benutzen. Da wusste ich, dass sie mich mag." Geng Huang schuettet etwas Bier auf den Tisch und ver- streicht es mit der Unterkante seiner Flasche. "Sie ist hu- ebsch, intelligent und redet nicht zu viel." Er schaut mir ins Gesicht, zweifelnd, ob ich seine Situation verstehe. "Weisst du", erklaert er, "den richtigen Partner finden heisst im Chi- nesischen auch: das Lebensproblem loesen." Der Kuchen auf der Party im Biologiegebaeude schmeckt nach Sand und zuviel Zucker. Zhou Min hat ihr langes, schwarzes Haar beim Kuchenschneiden mit einer unge- schickten Handbewegung in die rote Crememasse gedrueckt. Sie streicht sich die Kuchenbrocken aus den Haaren, dann verschraenkt sie die Beine und legt die Haende uebereinan- der aufs rechte Knie. Dass das Licht um halb elf ausgehe sei gut so, sagt sie mit Nachdruck. Wenn man zu acht in einem Zimmer wohne, muesse man auf die Ruecksicht nehmen, die frueher schlafen wollen. In einem Einzelzimmer koennte sie nicht leben. Diese Einsamkeit!: "Wir sind alles gute Freun- dinnen. Wir brauchen uns gegenseitig." Sie brauche den Trost bei einem schlechten Test - und auch die Konkurrenz! "Klar streiten wir uns!" Aber hassen - das nie. Auf der anderen Seite des Raumes singt Geng Huang Ka- raoke. Er singt, als waere jedes Wort sein eigenes, ohne den Anflug eines Laechelns: "Das Schicksal sagte: du musst warten. In der Einsamkeit der Nacht konntest du dich nur selbst umarmen. Du warst oft traurig. Aber jetzt, wenn ich mich nach dir umdrehe, dann lachst du. Kannst du jetzt die Vergangenheit vergesssen?" Ueber seinem Kopf haengt eine chinesische Flagge. Jemand hat die Sterne mit Kugelschrei- ber umrandet, darunter stehen Namen, Daten, beste Wuen- sche zum Geburtstag und immer wieder die Zeichen fuer Liebe, Glueck und langes Leben. In der linken unteren Ecke, am Ort, der am weitesten von den fuenf weissen Sternen entfernt ist, haben Zhou Min und Geng Huang ihre Namen in ein Herz geschrieben. Das war vor einem Jahr. "Damals wa- ren wir alle wie im Schock", sagt sie. Damals war Geng Huangs bester Freund fruehzeitig aus den Semsterferien nach Nanjing zurueckgekehrt. In seiner Heimatstadt Schanghai hatte ihm seine langjaehrige Freundin erklaert, sie wolle ihn nicht mehr sehen. Sie sei in einen anderen verliebt. In Nanjing hatte das Semester noch nicht begonnen. Geng Huangs Freund war allein im Studentenwohnheim. Am drit- ten Tag hat er sich ueber den Sperrholztischen in seinem Zimmer erhaengt. Zhou Min streicht sich geistesabwesend den Rock ueber den Beinen glatt. "Unsere Lehrer sagen, er sei geisteskrank ge- wesen." Geng Huang ist von der Seite an sie herangetreten. "Das war keine Geisteskrankheit", sagt er und legt seinen Arm um ihre Schulter, "das war Liebe." (tb)