point&counterpoint: Fit fuer die Uni? Frustrierte Lehrer, hilflose Professoren, ueberforderte Stu- denten. Einstmals Bildungsprivileg der Oberen Zehntausend, schliessen dieser Tage annaehernd 50 % baden wuerttem- bergischer Schueler mit der Allgemeinen Hochschulreife ab. Masse oder Klasse? Wird das Gymnasium seiner Zielvorga- be, naemlich der adaequaten Vorbereitung auf ein Hoch- schulstudium, noch gerecht ? Ja! Hans-Bernhard Petermann, Studienrat fuer Philosophie und Religion am Hoelderlin-Gymnasium Gewiss: Wenn in bildungsbuergerlich strukturierten Staedten wie Heidelberg mehr als 60% eines Schueler-Jahrgangs das Gymnasium besuchen, knapp ein Viertel der Abiturienten einen Schnitt von 2,0 und besser erzielt, wenn gleichwohl ein Drittel der Abiturienten nicht in der Lage ist, bei einem sprachlich durchschnittlichen Artikel eine vom Autor refe- rierte These und die von ihm selbst vertretene Meinung aus- einanderzuhalten, geschweige denn fuer diese Differenzie- rung sprachlich geeignete Mittel zur Verfuegung zu haben, dann scheint der fuer ein Studium qualifizierende Wert des Abiturs wie auch der gymnasialen Bildung unter das erfor- derliche Niveau gesunken zu sein. Doch ist die Lage differenzierter zu sehen: Das Abitur- zeugnis ist kein ausreichender Beleg fuer die erreichte schu- lische Bildung. Zweifellos duerften 30% der Abiturienten nicht in der Lage sein, eigenstaendig ein Hochschulstudium zu bewaeltigen. Das ist aber nicht Indiz fuer die Behauptung, es sei noch nie so leicht gewesen, das Abitur zu erreichen wie heute. Denn auch "gute" Schueler finden sich unter den zu einem Studium Ungeeigneten. Warum? Die Zeugnisnote gibt vor allem Auskunft ueber die Faehigkeit zu gezielter, kurzzeitiger Wissensakkumulation; nur zum geringen Teil wird auch eine sehr gute Note durch Kritikfaehigkeit und Urteilsvermoegen erworben, sondern vor allem durch Fleiss. Diese Wertskala setzt sich im Hochschulbereich fort. Kann dieses Notensystem unter gegenwaertigem sozialem Druck (gute Berufschancen durch gute Noten) das geeignete Mittel zur Steuerung beruflicher Ausbildung sein? Jedenfalls bekla- gen sich nicht selten auch Schueler ueber diese einseitige Form der Beurteilung; sie fuehlen sich durch das Schulsy- stem unterfordert und in ihren intellektuellen Kompetenzen zu wenig beruecksichtigt. Die Kritik aber gilt dem Lei- stungssystem und nicht den schulischen Bildungsmoeglich- keiten selbst, die so vielfaeltig sind wie nie zuvor.Das Pro- blem liegt in der angemessenen Nutzung,die letztlich jedem Schueler selbst ueberlassen bleibt. Eine mangelhafte Ausbil- dung soll mit dieser Behauptung nicht auf die Schueler ab- gewaelzt werden. Vielmehr ist diese ein Symptom gegen- waertiger Bildungssystemik: Die Schule von heute kann be- stehende lebensweltliche Verhaeltnisse nicht ueberspringen, wonach Schule eben nicht den ersten Stellenwert im Leben junger Menschen einnimmt, vielmehr andere Erfahrungs- raeume der Schueler miteinbeziehen muss. Wie kaum eine andere Institution ist Schule daher zur Neuorientierung ver- urteilt, "Paedagogisierung" dafuer das Stichwort. Folge: Auch weniger begabte Schueler haben die Chance, Bildung zu erlangen, die Begabteren aber koennen, aufgehalten durch fuer sie redundante Wiederholungen, zu kurz kom- men. Den begabten Schueler aber gibt es heute genauso wie frueher. Nur muss er viel staerker aus dem Ueberangebot von Bildungsmoeglichkeiten auswaehlen: Angesichts der Informationsflut der Medien und der in den Schulen erheb- lich angestiegenen Stoff-Fuelle ist es schwerer geworden, den Wert einzelner Informationen fuer den eigenen Bil- dungsgang in ein ertragreiches Verhaetnis zu setzen. M.a.W.: Heute wird ausserordentlich viel gelehrt und ge- lernt, aber zu wenig ausgebildet in der Faehigkeit, mit Ler- nen umzugehen, Gelerntes anzuwenden, eigenstaendig zu erarbeiten. Haben Schueler die Chance dazu? Sie haben die- se, wenn sie aus der Rolle passiver Informationsempfaenger herausfinden und sich durch die Lehrer zu geistiger Eigen- taetigkeit anregen lassen. Ein Lehrer verfehlt seinen Beruf, wenn er nicht staendig auf dieses (Sokrates: maeeutische) Ziel hinarbeitet, den Lernenden zu vermitteln, sie haetten sich das zu Lernende selbstaendig erarbeitet. Die Gymnasien erstreben heute zunehmend dieses Ideal; gelingt es den Schuelern, mit diesem Angebot in produktiven Dialog zu treten, werden sie fuer ein Studium geeignet vorgebildet. Die Bedingungen dafuer koennen stets besser sein, gut sind sie dann, wenn man sie zu nutzen versteht. Nein! Prof. Dr. Hans Szklenar Mediaevist am Germanistischen Seminar Die provokative Frage, ob das Abitur noch fuer ein Studium qualifiziere, laesst sich im ganzen wohl bedauerlicherweise nur verneinen. Jedoch muessen zwei Dinge klargestellt wer- den. 1. Es geht nicht um die Frage der Intelligenz der Studie- renden, sondern ausschliesslich um die Frage ihrer Vorberei- tung fuer die Universitaet. 2. Es gibt zweifellos lokale und regionale Unterschiede, es gibt immer noch hervorragende Gymnasiallehrer, die ihren Schuelern die notwendige pro- paedeutische Ausbildung vermitteln, soweit es Schulgesetze und Richtlinien zulassen. Aber im Hinblick auf eine fuenfjaehrige Unterrichtstaetig- keit am Gymnasium und eine mehr als dreissigjaehrige Lehrtaetigkeit kann ich mich des beklemmenden Eindrucks nicht erwehren, dass heute zu vielen Studierenden das Studi- um groessere Schwierigkeiten bereitet, als das zu meiner Studienzeit oder in meinen frueheren Berufsjahren der Fall gewesen ist. Dieser subjektive Eindruck wird durch den ob- jektiven Befund bestaetigt, dass viele Studierende ihr Studi- um schon nach kurzer Zeit abbrechen oder andererseits lan- ge ueber die Studienzeit hinaus fortsetzen. Man wird gewiss zu beruecksichtigen haben, dass heute ein wesentlich hoeherer Anteil an Schuelern das Abitur ablegt als frueher und dass wiederum ein wesentlich hoeherer An- teil an Abiturienten ein Studium aufnimmt als frueher, ohne jedoch davon ausgehen zu duerfen, dass der Anteil der Stu- dierfaehigen innerhalb der Bevoelkerung tatsaechlich in ent- sprechendem Masse zugenommen haette. Aber das ist nur eine Seite des Problems. Auf der anderen Seite fehlt es bei einem fuer das universitaere Gesamtklima zu hohen Prozent- satz von Studierenden an Fertigkeiten und Kenntnissen, die eigentlich durch das Abitur garantiert sein sollten und ohne die ein eigenverantwortliches Studium nicht denkbar ist, so dass notwendige Erfolgserlebnisse ausbleiben. (I) Zu den nicht mehr zureichend eingeuebten Grundfertig- keiten gehoert (1) das Training des Gedaechtnisses, der Merkfaehigkeit, d.h. schlicht das Lernen von Daten und Fakten, die gedaechtnismaessige Verfuegbarkeit fachrelevan- ter Stoffmengen (daher die Angst vor Klausuren); (2) die Ei- nuebung sprachlicher Fertigkeiten, d.h. einfach die Beherr- schung des Deutschen in Wort und Schrift, (daher die oft um Monate verzoegerte Abgabe von Seminararbeiten - und na- hezu keine mehr darunter ohne grammatische Fehler); (3) die Entwicklung argumentativer Faehigkeiten; (4) die Aneig- nung breiterer Fremdsprachenkenntnisse (zumindest: Latein, Englisch, Franzoesisch), wobei es im Hinblick auf die Stu- dierfaehigkeit insbesondere darum gehen muss, fremdspra- chige Quellen und Forschungsliteratur zu verstehen. Darueber hinaus entbehren die Studenten folgender Kenntnisse: (1) Sie haben weithin kein historisches Geruest mehr, kein nationalgeschichtliches, schon gar kein weltge- schichtliches; noch Examenskandidaten darf man nicht un- bedingt fragen, wann die Franzoesische Revolution stattge- funden habe, geschweige denn die Reformation; (2) sie ha- ben weithin eine zu spaerliche Kenntnis des europaeischen Literaturkanons seit der Antike, den der Unterricht in Deutsch und in den klassischen und modernen Fremdspra- chen frueher vermittelt hat; (3) sie haben - um einen letzten Bereich anzufuehren - zunehmend weniger Kenntnis der christlichen Wurzeln des Abendlandes, seit unmuendige Kin- der den Religionsunterricht abwaehlen koennen; die Bibel ist ja nicht einfach ein Buch, das man lesen kann oder auch nicht, sie ist - von jeder spirituellen Bedeutung hier abgese- hen - ein Stoffreservoir, aus dem die europaeische Literatur und die bildende Kunst seit rund zweitausend Jahren schoe- pfen. Wenn man Schuelern diesen Schluessel vorenthaelt, muessen ihnen grosse Texte der abendlaendischen Literatur verschlossen bleiben. So kann man denn nur wuenschen, dass sich das Gymnasium wieder staerker der Einuebung von Grundfertigkeiten und der Vermittlung von Grundkenntnissen zuwendet, damit das Abitur wieder in befriedigendem Umfang fuer ein Studium qualifiziert.