Wenn die Sonne keine Farbe hat Leben und Studieren mit dem weissen Stock Fuer viele ist es ein Alptraum, fuer einige Heidelberger ist es harte Realitaet. ruprecht wollte wissen: wie lebt, wie studiert es sich in einer Welt, die man nicht sieht? Wenn Sabine gefragt wird, was sich vor ihren Augen abspielt, kann sie das nur schwer beschreiben: " Viele Leute denken, wir sehen einfach alles schwarz. Aber es ist nicht schwarz, auch nicht grau, es ist einfach nur gar nichts." Sabine ist blind, wegen eines Arztfehlers. Zu frueh geboren, kam sie nach der Geburt direkt in den Brutkasten - in den sechziger Jahren eine neue und unausgereifte Methode. "Sie haben mir zuviel Sauerstoff gegeben, das hat die Augen zerstoert." Sabine sitzt fast ohne sich zu bewegen, waehrend sie erzaehlt. Ihre Haende liegen stumm auf den Knien, auch ihre Mimik ist sparsam. Koerpersprache ist nicht die Sprache der Blinden. Seit vier Jahren studiert Sabine in Heidelberg Anglistik und Germanistik. Ein literaturintensives Studium - fuer Sabine bedeutet das einen enormen organisatorischen Aufwand. Ihre Seminare sucht sie sich nicht nach persoenlichem Interesse aus, sondern danach, fuer welche wenigstens einige Buecher in der Blindenschrift Braille vorhanden sind. "Goethe statt Arno Schmidt, das kann schon frustierend sein." Sekundaerliteratur gibt es kaum in Punktschrift. Sabine laesst sich die meisten Texte von einem Blindendienst auf Kassette lesen, wenn es einmal schnell gehen muss, auch von Kommilitonen. Doch das Lernen uebers Hoeren ist muehsam. "Ich drifte oft mit meinen Gedanken ab, manchmal schlafe ich sogar ein dabei. Punktschrift ist besser, aber auch wesentlich teurer." Bis die Texte vom Lesedienst zurueckkommen, vergehen oft mehrere Wochen. Eine Hausarbeit zu schreiben, bedarf einer sorgfaeltigen Vorausplanung ueber mehrere Monate; bei der Literaturrecherche ist sie von Kommilitonen abhaengig, Referatsthemen laesst sie sich schon zu Beginn der Semsterferien fuers folgende Semester geben. Spontaneitaet im Studium gibt es fuer Sabine nicht. Martina, Studentin am Institut fuer Uebersetzen und Dolmetschen, hat es da wesentlich leichter. Die Hilfsgeraete auf ihrem Schreibtischsind neuer, der Fortschritt der Technik in den letzten Jahren war rasant. Mit einem Scanner, der alle Standarddruckschriften erkennt, kann sie sich Buecher und Kopien in den Computer einlesen. Der Rechner wandelt die Texte dann in Punkt-Schrift um, und auf einer "Braillezeile" erscheinen Plastikpunkte aus kleinen Loechern. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit faehrt Martina mit ihren Fingern ueber die Zeichen. Jahrelanges Training ist dafuer noetig. Wer erst als Erwachsener erblindet, schafft es meist nicht mehr, das Fingerlesen gut zu beherrschen. Im Prinzip stehen Martina mit ihrer Anlage alle Buecher zur Verfuegung. Doch die Technik hat auch ihre Tuecken. "Um ein Buch von 300 Seiten einzuscannen, brauche ich oft einen ganzen Tag. Und da ich nicht mit einem Blick kontrollieren kann, ob der Scanner alles erkannt hat, merke ich erst spaeter beim Lesen, wenn 'mal wieder ein Grossteil des Textes nichts geworden ist." Wert der gesamten Anlage: 70.000 DM, gezahlt vom Sozialamt. Beantragt hat Martina die Hilfsmittel gleich zu Beginn ihres Studiums, die komplette Anlage bekam sie im 3. Semester. "Zwischendurch haette ich am liebsten alles hingeschmissen." Wer blind ist, braucht Geduld. Martina lebt allein in einem kleinen Einzimmer-Appartement in der Altstadt. Wohngemeinschaften hat sie satt. Mit 16 kam sie auf ein Internat fuer Blinde in Marburg, die Schueler wohnten in WGs ueber die Stadt verteilt. Die Marburger Schule ist bekannt dafuer, ihre Schueler zu grosser Selbstaendigkeit zu erziehen. Und tatsaechlich: Muehelos bewegt sich Martina mit ihrem Stock in der vollen Hauptstrasse, biegt genau zum richtigen Zeitpunkt in eine kleine Gasse ein. "Wo die Strassen abgehen, hoere ich am Klang der Schritte, ueberhaupt an den Geraeuschen in der Strasse." Sogar geparkte Autos kann sie spueren. Und verschiedene Bodenbelaege, Kopfsteinpflaster etwa oder Fliesen, geben weitere Informationen. Nur selten verliert sie die Orientierung, verfehlt ein Geschaeft, in das sie will. Wenn Martina Leute anspricht, sie um Hilfe bittet, bekommt sie die unterschiedlichsten Reaktionen. "Einige sind total unsicher. Manche tun sogar so, als seien sie gar nicht da und machen sich schnell aus dem Staub. Sie glauben, ich merke das nicht." Doch die positven Erfahrungen ueberwiegen. "Die meisten sind erstaunlich hilfsbereit." Im Supermarkt kennen die Verkaeufer Martina und helfen ihr beim Aussuchen der Lebensmittel. Kleidung kauft sie am liebsten mit ihrer Mutter oder mit Freundinnen. Sich auf den Geschmack der Verkaeuferin zu verlassen ist riskant: Im letzten Schlussverkauf ist sie allein fuer einen blinden Freund einen Sakko und eine Hose kaufen gegangen. Die Reaktion der Freunde war eindeutig, die Kleider hat er nie getragen. Wie stellt sich eine Blinde die Gegenstaende vor, wie sieht die Welt fuer sie aus? Eine haeufig gestellte, eine kaum zu beantwortende Frage. Martina hat bis zu ihrem sechsten Lebensjahr gesehen."Schlecht, aber mit einer starken Brille konnte ich sogar noch Bilder malen." Nach einer Operation sah sie kurze Zeit etwas besser, eine zweite misslang. Seitdem sieht sie nichts mehr. "Manche Dinge kann ich mir vorstellen, andere nicht, das kommt ganz auf die Situation an. An Farben kann ich mich immer schlechter erinnern. Wenn mir jemand etwas beschreibt, und dazu sagt, welche Farbe es hat, dann sind auch Farben in meinem Kopf, sonst nicht. Ich glaube, oft ueberlege ich mir gar nicht mehr, wie die Dinge aussehen." Wie ihre Freunde aussehen, das interessiert sie. Wenn sie einen Menschen kennenlernt, laesst sie sich oft von Freunden dessen Aussehen beschreiben. Erstaunlich oft liegt sie richtig mit ihren Vorstellungen. "Wenn ich mich zum Beispiel bei jemanden einhake, um mich fuehren zu lassen, bekomme ich viel mit von einem Menschen. Einige Blinde tasten auch die Gesichter ab, aber das kann ich nicht leiden." Im Moment hat Martina keinen Freund. "Aber wenn ich einen habe, dann ist mir schon wichtig, dass er gut aussieht. Viele denken, dass das uns Blinden egal ist." Kontakt mit dem anderen Geschlecht aufzunehmen, kann zuweilen schwierig sein: der Blickkontakt, ueber den so vieles laeuft, faellt weg. "Dass ich nicht so gut flirten kann, finde ich schon sehr schade." Wenn die Zeit es ihr erlaubt, unternimmt Martina mit Freunden ausgedehnte Radtouren. Im letzten Sommer hat sie sich ein Tandem gekauft, ein Rennradmodell. "Es war suendhaft teuer, aber ich habe mir gedacht: Wenn Du Dir einmal ein Fahrrad kaufst, dann soll es auch ein richtig tolles sein." Und wenn diejenige, die vorneauf dem Tandem sitzt und lenkt, mutig ist, erreichen sie gemeinsam 40 Stundenkilometer und mehr. Angst hat Martina keine: "Ich bin es gewohnt, mich auf andere zu verlassen." Angst hat sie am ehesten vor ihrer beruflichen Zukunft. Zwar haben grosse Firmen die Pflicht, eine gewisse Anzahl von Behinderten einzustellen, doch die meisten kaufen sich von dieser Verpflichtung frei. "Eine grosse Portion Glueck und Beziehungen brauchen wir schon", meint auch Sabine, "und natuerlich muessen wir besser sein als alle anderen." Mindestens einmal im Semester kommt die grosse Krise, die Lust, alles hinzuschmeissen. Eine kleine Sicherheit bietet beiden das monatliches Blindengeld, dass lebenslang allen stark Sehbehinderten gezahlt wird, in Baden-Wuerttemberg sind es zur Zeit etwa 1000 Mark. "Das ist schon eine grosse Beruhigung", meint Martina. Mit ihrem Schicksal hadert sie nicht. Als sie blind wurde, habe sie gar nicht recht begriffen, was das bedeutet, und nun sei es eben so. Auch wenn ihre Blindheit vererbbar waere, haette sie keine Bedenken, auch blinde Kinder in die Welt zu setzen: " Ich habe ein sehr schoenes Leben. Warum sollten das meine Kinder nicht auch haben?" (mp)