"Mir ging's beschissen" Seit 5 Monaten im Gemeinderat: Jutta Goettert lernt, sich durchzubeissen Zuegig wandern ihre Augen ueber die bedruckten Seiten. Mehrere Stapel anderer Akten liegen verteilt auf dem Tisch. Eine aeltere Gemeinderaetin kommt und bespricht sich mit ihr. Die Aeltere steht und blickt auf die sitzende junge Raetin herab. Um die beiden baut sich der altehrwuerdige Sitzungssaal des Heidelberger Gemeinederates auf - dunkles verschnoerkeltes Holz und bleigefasste farbige Fenster. Das Gespraech ist beendet, die Sitzung beginnt. Sie blaettert weiter in den Akten und loeffelt nebenbei einen Joghurt in sich hinein - die junge Raetin ist Jutta Goettert, geordnetes Haar und leicht ausgefranste Jeans, die Vertreterin der Studi- Liste und mit 23 Jahren Juengste im Gemeinderat. Zu einem friedlichen Joghurtgenuss kommt es aber nicht, denn Dorothea Paschen von der GAL dreht sich zu ihr um und wirft ihr wuetende Worte an den Kopf. Jutta reagiert.mit Betroffenheit und Verstaendnislosigkeit. Die Kommunalpolitik verlangt ihren Tribut und nimmt dabei wenig Ruecksicht auf Neulinge. Die Erwartungen, die an sie und die Studi-Liste nach den Wahlen im Juni gestellt wurden, waren gross: Als dritte Studierenden-Liste ueberhaupt in einem deutschen Stadtrat sollten sie studentische Interessen wie den Ausbau des Radwegenetzes, die Foerderung des Oeffentlichen Nahverkehrs, und eine engagierte Frauen- und Umweltpolitik vertreten. Die Studi-Liste musste und muss ihren studentischen Waehlern und auch der Fachschaftskonferenz - die sie materiell oder doch zumindest mit Infrastruktur unterstuezt hat - erst beweisen, dass man solch eine eigene Liste ueberhaupt benoetigt. Jutta selbst muss zudem dafuer sorgen, dass die drei anderen verbliebenen Aktiven der Studi-Liste, - Christian Weiss, Felix Berschin und Olaf Hoelzer - sich gut genug in die Arbeit eingebunden fuehlen. Schliesslich hatte sie den Platz 1 und damit den Ratssitz ziemlich spaet und ueberraschend gegen den bekannteren und erfahreneren Christian Weiss bekommen - den Makel der unerfahrenen Quotenfrau musste sie erst loswerden. Jetzt erhaelt Christian, der sich vor allem mit dem Kulturbahnhof und Verkehrspolitik beschaeftigt, aus den Aufwandsentschaedigungen von Jutta einen Anteil. Felix Berschin ist Nahverkehrsspezialist (und nebenbei F.D.P.- Mitglied), Olaf Hoelzer sitzt im Bezirksbeirat von Neuenheim und beschaeftigt sich ebenfalls mit Verkehrspolitik. Doch obwohl die Verbindung zur Fachschaftskonferenz noch stark ist - Christian Weiss und Olaf Hoelzer sind dort Kommunalreferenten, die Studiliste hat zudem feste Sprechstunden und Buerodienst in den Raeumen der FSK - musste die Gruppe natuerlich aus dem Unibereich herausgetreten. Jetzt sitzt die Studi-Liste im Gemeinderat neben den etablierten Altparteien und soll dort ihre Ziele in konkrete Politik umsetzen. Aber wer nimmt schon eine "Goere" von Anfang zwanzig ernst? Hoechstens jene, die selbst erst um die dreissig sind. Die anderen laecheln erst einmal - quer durch die Fraktionen. Zudem kann man als Einzelne wie Jutta schon rein organisatorisch nicht viel ausrichten. Deshalb war die erste Tat der Aufbau einer "Zaehlgemeinschaft" mit Dr. Annette Trabold, der einzigen Gemeinderaetin der FDP, und Dr. Arnulf Lorentz, dem einzigen Vertreter der Liberalen Demokraten (LD). Beide sind schon seit mindestens einer Legislaturperiode im Rat. Die Zaehlgemeinschaft dient dazu, den Fraktionsstatus zu erlangen und damit an Sitze in Ausschuessen und Aufsichtsraeten zu kommen. "Die Zaehlgemeinschaft ist eine Notgemeinschaft", charakterisiert Trabold die Zusammenarbeit, "die vor allem der Arbeitsentlastung dient" Enge politische Bande knuepften die Studierenden bisher zur GAL - was nicht verwundert, gab es doch noch vor der Gruendung der Liste Verhandlungen mit den Gruenen, die Studi-Liste in die GAL-Fraktion zu intergrieren. Jutta ist heute noch regelmaessiger Gast bei den Fraktionssitzungen der GAL, wie uebrigens Arnulf Lorentz auch. Doch die politische Symbiose ist seit der Abstimmung ueber den Haushalt gestoert. Jutta, die die zentralen Forderungen ihrer Liste - Radnetz, Parkraumbewirtschaftung, Abwassergebuehren - erfuellt sah, stimmte fuer die Vorlage, zusammen mit fast dem gesamten Rest des Stadtrates, aber gegen die GAL. GAL-Raetin Paschen: "Wir waren aeusserst ueberrascht." Die Gruenen warfen Jutta "Kaeuflichkeit" vor. Man sah in Juttas Verhalten "fehlendes politisches Gespuer". Von Seiten ihrer Arbeitsgemeinschaft will man ihre Eigenstaendigkeit aber unterstuetzen. Trabold fuegt hinzu "viele Seiten zerren an Jutta". Genau das ist ihr Problem: Noch neu und hilfsbeduerftig - "manchmal verliere ich den Ueberblick", so Jutta - sucht sie nach Stuetzen. Von ihrer Zaehlgemeinschaft kann sie nur moralische, seltener aber politische Unterstuetzung erwarten. Fuer die muss sie zur GAL. Dort aber darf sie nicht vergessen, dass sie keine Gruenen-Gemeinderaetin ist. "Es geht uns nicht um Vereinahmung, sondern um eine effektive Zusammenarbeit", beruhigt Paschen. An der muss die als machtbewusst bekannte GAL Interesse haben. Denn "obwohl ein Sitz fuer uns verloren ging", fuehrt Paschen aus, "war die Gruendung der Studi-Liste richtig, da mehr junge Leute angesprochen wurden." Aber diese zusaetzlichen Stimmen wollen die Gruenen natuerlich an sich binden. Fuer eine "effektive" Zusammenarbeit muesse man, so hoert man bei der GAL, eben im Vorfeld wissen, wie der/die andere abstimmt. Wenn die Gruenen das aber verlangen, setzen sie sich dem Verdacht aus, sie wollten Einfluss auf Jutta nehmen. Eine Raetin, die ihre Eigenstaendigkeit bewahren will, muss sich dem verweigern. Eigenstaendigkeit fuehrt leicht in die Isolation. Jutta ist nicht die Politprofessionelle, die ungeachtet der Personen, mit denen sie zu tun hat, ihre Ziele verfolgt. Eine sachliche Auseinandersetzung hat fuer Jutta immer auch eine persoenliche Komponente. So wird aus einem politischen Konflikt ein zwischenmenschlicher. Dann druecken die sonst strahlenden Augen Betroffenheit und Hilflosigkeit aus. Trotz dieser (Anfangs-)Schwierigkeiten: Jutta bewegt sich selbstbewusst zwischen den Tischen des "Grossen Saals". In vielem hat sie Routine erlangt: Sie applaudiert, liest und isst gleichzeitig; und truege sie eine Lesebrille, kaeme sie dem klassischen Ideal der Gemeinderaetin sehr nahe. Ihr Engagement und die schnelle Einarbeitung in die komplexen Probleme der Kommunalpolitik haben ihr zu Anerkennung verholfen. Wer von der Studi-Listen-Raetin die ausschliessliche Verfolgung ihrer Gruppen-Interessen verlangt, wird den Eigenheiten der Kommunalpolitik nicht gerecht. Denn "erfolgreiche Kommunalpolitik", vor allem bei den derzeit wechselnden Mehrheitsverhaeltnisse im Rat, "aeussert sich in erfolgreicher Kompromisspolitik", so Werner Pfisterer von der CDU. Und das heisst fuer Jutta, sich am politischen Schachspiel der Fraktionen zu beteiligen, um in den wechselnden Mehrheiten ihre Ziele durchzusetzen. (hb, hn)