Studentenalptraum Latinum Jedes Semester kaempfen 200 Heidelberger Studis damit Dabei geht es um mehr als einen Schein. "Ich kann nachts schlecht schlafen, weil mich im Traum jemand die lateinische Grammatik abfragt", erzaehlt Karin. Sie hat die Aufnahmeklausur fuer die Latinumspruefung wieder nicht bestanden. Dabei hatte sie dieselbe Lateinuebung schon letztes Semester gemacht, dazu noch einen Crash-Kurs - um auf Nummer sicher zu gehen. Dann hatte sie die Latinumspruefung gewagt und war durchgefallen. Obwohl ihr der Lateindozent dieses Semster wegen der nicht bestandenen Aufnahmeklausur dringend abraet, will sie die Latinumspruefung noch einmal auf eigene Faust wagen. "Wenn ich das nicht schaff´, hoer' ich auf", erklaert Karin resigniert. Und gefragt, was sie dann machen wolle, meint sie nur: "Ich weiss nicht, aber ich hoer' dann auf." Viel mehr bleibt ihr auch nicht uebrig. Denn durch die Pruefung darf sie nur zweimal fallen, dann ist Schluss. Und was danach kommt? Woher soll sie das wissen? Schliesslich ist sie schon im dritten Semester, hat sich auf der Uni eingelebt und Spass am Studium. Karin ist keine Ausnahme. In ihrem Lateinkurs sassen bei Semesteranfang knapp fuenfzig. Die Aufnahmeklausur fuer die Lateinpruefung schrieben nur 32 mit, von denen wiederum ca. 50% durchfielen. Und die Buerokratie kennt kein Pardon. Selbst wenn einer in England aufwuchs und sich bestens in der englischsprachigen Literatur auskennt, kann er sein Anglistikstudium an den Nagel haengen, wenn er mit Cicero oder Caesar nicht zurecht kommt. Fuer fast jede Geisteswissenschaft ist das Latinum obligatorisch. Andreas ist es noch gut ergangen. Nachdem er sich vier Semester lang in seinem Geschichte- und Spanischstudium mit Latein rumgeschlagen hatte, wechselte er auf die Paedagogische Hochschule. So hatte er sich sein Studium zwar nicht vorgestellt, aber immerhin ist das noch besser als nach vier Semestern vor dem Nichts zu stehen. Sven wusste von vornherein, was mit dem Latinum auf ihn zugekommen waere, und ging gleich auf die PH, auch wenn ihn das Uni- Studium mehr interessiert haette. Doch das alles ist noch Uni-Alltag, Normalitaet, gewoehnlicher deutscher Ordnungssinn. Die ganze Absurditaet dieser verbuerokratisierten Lernerei zeigt sich erst dann in ihrer vollen Haerte, wenn Studenten nicht nur mit dem Studium, sondern etwa auch mit dem Berufsleben oder dem Auslaenderstatus zu kaempfen haben. Anna z.B. ist im dritten Semester. Auf dem zweiten Bildungsweg hat sie ihr Abitur nachgeholt. Da sie ueber 30 ist, bekommt sie kein Bafoeg mehr, muss also weiterhin ihren Beruf als Hebamme ausueben. Fuer ihr Geschichtsstudium benoetigt sie das Grosse Latinum. "Ich finde es unmoeglich", meint sie verzweifelt, "dass man in nur drei Semestern das Grosse Latinum nachholen muss. Wie soll ich das machen und nebenher noch arbeiten?" Unverstaendlich ist auch, weshalb alle, egal ob sie das Grosse oder das Kleine Latinum oder gar noch das Graecum und das Hebraicum brauchen, nur zwei Semester Aufschub fuer die Zwischenpruefung bekommen. Zudem berichtet Anna von uebelsten Verhaeltnissen, unter denen die Studierenden diese ganze Latein-Tortur mitmachen muessen: "Im ersten Semester war der Kurs total ueberfuellt, und die Akustik war dermassen schlecht, dass man selbst in der ersten Reihe nichts verstand." Naechstes Semester will Anna den dritten Kurs zum Latinum machen. "Da wird nur ein einziger Kurs angeboten, am Montagmorgen. Ich kann da beruflich nicht. Wieso machen sie nicht wenigsten s einen Ausweichkurs?" Jean-Pierres groesste Sorge hingegen ist, dass seine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland nicht fuer das Latinum ausreicht. Er muss nebenher noch den fuer Auslaender obligatorischen Deutsch-Kurs machen. Und fuer alles hat er summa summarum zwei Zusatzsemester Zeit. Falls ihm das nicht gelingt, ist nicht nur sein Studium, sondern auch sein Deutschlandaufenthalt zu Ende. Es ist unvorstellbar, was an der Uni Semester um Semester um die Sprache der alten Roemer gezittert und gebangt wird. Neidvoll sehen die geplagten Studenten auf ihre Kommilitonen, die das Latinum in der Schule "mitgenommen" haben. Viele von denen wissen zwar nicht mehr, was der Unterschied zwischen abl.abs. und a.c.i. ist; und sie waeren auch gewiss nicht mehr in der Lage, den einfachsten Uebungstext zu bearbeiten. Doch das zaehlt nicht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Latinumspruefungen eines der best funktionierenden Ausleseverfahren der Universitaeten sind. Vielleicht ist ein Student, der unter normalen Umstaenden das Latinum nicht nachholen kann, am Ende gar auf der Uni am falschen Platz? Doch abgesehen davon, dass dieses Auswahlverfahren fragwuerdig ist - schliesslich betrifft es in jeder Fakultaet nur einen Teil der Studis- kann man hier bedauerlicherweise auch nicht von "normalen Umstaenden" sprechen. Pro Semester werden vier oder fuenf Lateinkurse angeboten, die sich ueber zwei Semester hinziehen. Da in jedem Kurs ungefaehr 50 Leute sitzen, heisst das, dass an die 400 Studierende im Jahr Caesar und Cicero pauken muessen. Und auch wenn sich die Lateindozenten redlich bemuehen und ihr bestes geben, ist es unmoeglich, auf jeden der 50 Teilnehmer so einzugehen, wie es der Lernstoff erfordert. Da sind selbst die Dozenten am Ende mit ihrem Latein. Es fehlt an Geld: Die Univerwaltung ist schon darueber erbost, diese Kurse finanzieren zu muessen. So landet der Schwarze Peter beim Kultusministerium. Altphiliologe Dr. Christmann, der an der Uni die Lateinkurse organisiert, wirft dem Ministerium vor, dass es in den Schulen zu wenig darueber informiere, wie sehr Latein an den Hochschulen benoetigt werde. In anderen Bundeslaendern sei das anders. "Wir haben den Eindruck, dass da was vernebelt wird", meint er und fragt sich, ob die mangelnde Information auf eine "Spar-Manie" des Laendles zurueckzufuehren sei. Beim Kultusministerium gibt man sich ueber diese Vorwuerfe empoert: "Wir betreiben hier eine aufwendige Informationspolitik", erklaert Herr Reinhardt, der im Ministerium fuer Altphilologie zustaendig ist. Jaehrlich werden Zehntausende von Flugblaettern und diverse Broschueren verschickt. Das Problem sei lediglich, dass die Schueler die Warnungen nicht ernst naehmen. Die Latein- Dozenten kennen dieses Lied und versuchen nun, mit abstrusen Frageboegen an Baden-Wuerttembergs Hochschulen nachzuweisen, dass die Schueler eben doch nicht informiert sind. Die Uni-Leitung ist erbost, denn aus der Landeshauptstadt kommt keine finanzielle Hilfe. "Wir liegen mit dem Finanzministerium schon lange im Clinch", jammert Herr Reinhardt vom Kultusministerium. "Und primaer muessen wir uns doch um die Schulen kuemmern. Es ist schon schwer, genug Lateinlehrer bezahlen zu koennen. Wir koennen uns nicht auch noch um dieHochschulen kuemmern."Viele verzweifelte Studis kommen so kaum noch zu etwas anderem, und geben obendrein Hunderte von Mark fuer das angebliche Zaubermittel Crash-Kurs aus. Wie sagte doch Horaz so schoen? "Non cuivis homini contingit adire corinthum." - Nicht jedem gelingt es, nach Korinth zu kommen... (hee)