Hochschule


Queue, please!

Am Anglistischen Seminar ist man very British

Schlangestehen, das können Heidelbergs Anglisten, zumindest das haben sie von den Engländern gelernt. Und in jedem Semester, an den ersten beiden Vorlesungstagen, gibt man ihnen Gelegenheit, eine Kostprobe davon zu geben. Im Kampf um eine erfolgreiche Ausbildung.

Verdammt Glück haben sie gehabt. Mit dem Wetter. Daß es nicht geregnet hat. Daß die Frühlingsnacht vom 24. auf den 25. April so mild gewesen ist. Statt der Schlafsäcke zum Schutz vor der Kälte wird die Gitarre ausgepackt. Das lange Warten beginnt. Schon gegen 22.30 Uhr sitzen die ersten auf den Haupteingansstufen des anglistischen Seminars, sehr früh, siebeneinhalb Stunden zu früh. Mit Schlafsack, Isomatte und ein bißchen Proviant harren sie aus, um in ihrem Studiengang jene Kurse sicher belegen zu können, die eine Voraussetzung für die Zwischenprüfung sind. Denn nur wer vorne mit dabei ist, kann frei auswählen, den anderen bleiben meist nur die Lückenfüller, die Reste, die keiner haben will. Wie jene, die auch nach dem dritten Semester keinen Erfolg in der Belegung eines Pflichtkurses hatte. Zu Stift und Papier mußte sie greifen, den zuständigen Professor zu erweichen, ihr wäre wohl sonst das BAfÖG gestrichen worden.

"Aus der Not eine Tugend machen" - so drücken es die aus, die die Nacht auf den Stufen durchgefeiert haben. Musik zwingt der Straße Leben auf, lockt Fremde aus den umliegenden Discos, Kneipen und gelegentlich auch Wohnhäusern, überredet sie, die laue Frühjahrsnacht unter freiem Himmel zu verbringen. "Always look on the bride side of life", leichter fällt das, feiert man nicht alleine, bekommt man Unterstützung, Sympathisanten. Sogar Peter, der Hausmeister des Seminars, um halb drei aus dem Bett gescheucht durch das Singen, Gitarrespielen, Lachen unten auf der Straße, zeigt Verständnis, läßt einige drinnen auf die Toilette, bringt Sprudelflaschen gegen Erschöpfung und trockene Kehlen.

Sein Protest soll an die richtige Stelle gehen, sagt er. Nein, nicht den lärmenden Studenten könne er einen Vorwurf machen, da müsse man schon an oberster Stelle vorstellig werden. Bei denjenigen, die diese Prozedur nicht durchmachen, noch nie durchgemacht haben, noch nie mit dem Rücken an einer Holztür gelehnt haben, die Nacht hindurch, fünf, sechs, sieben Stunden lang. Irgendwann wird das ungemütlich, schmerzt das. Und mit dem Schmerz kommt der Frust. Die Feierstimmung verfliegt, die Müdigkeit kommt, und irgendwo tief drinnen war der Frust schon immer da. Der Ärger auf die Institutsleitung bricht hervor.Doch dort ist die Ratlosigkeit spürbar, ein bißchen auch das Unverständnis für das "panische Frühanstehen" mancher Studenten, so Prof. Höfele. Auswege sollen in den nächsten beiden Wochen besprochen werden, in Zusammenarbeit mit der Fachschaft. Doch eines scheint sicher: Im Interesse einer gleichmäßigen Belegung aller Kurse wird der Eintrageritus wohl beibehalten werden.

Viele standen montags auch schon hier, die Hoffnung auf zusätzlich ausgelegte Listen für Kurse hat sie mitten in der Nacht ein zweites Mal aus den Federn geschmissen. Dann die Nachricht, daß schon montags zum Teil Kurslisten ausgelegt wurden, die eigentlich für Dienstag reserviert waren. Unruhe. Ein bißchen Wut mischt sich hinein. "Jetzt habe ich schon zwei Nächte nicht richtig geschlafen !" Die das sagt, sitzt bei Schlangenmeter 25 auf dem Boden, seit 3.50 Uhr schon. Sie fragt mich nach der Uhrzeit. Vielleicht hat sie extra keine Uhr mitgenommen, um nicht immer die Minuten, die Stunden zählen zu müssen und doch festzustellen, daß es noch viel zu lange dauert. So kommt das Gerücht auf, schon um sechs Uhr würden die Nummern, kleine Zettelchen mit der Macht, die Reihenfolge der Eintragung zu bestimmen, ausgeteilt werden. Ein Informierter zerstreut diese Hoffnung auf Verkürzung der Langeweile aber sofort wieder: Vor sieben Uhr wird nichts passieren. Nichts, außer der Party, die irgendwie zumindest am Schlangenanfang auch um fünf Uhr noch im Gange ist. Gedankenzerstreuung, aber doch nicht ganz abgelenkt: Die Nummer eins ist schon gemalt, Zeichen der Ungeduld. Um 5.40 Uhr kommt die Zeitung, Leseunterhaltung für ganz vorne. Wäre da nicht die Erschöpfung, schließlich schluckt sie doch der Briefkasten.

Schlangenmeter 96: Seit 6.10 Uhr hat sie diese Marke erreicht. "Wir kriegen noch unsere Kurse, doch, ich bin da zuversichtlich." Ein abschätzender Blick nach vorne begleitet den Ausspruch. Zweckoptimismus? Andere nehmen das nicht so locker. Vor allem die Erstsemester sind etwas ratlos, die Konfrontation mit dem Massenbetrieb Uni läßt einigen Frust zurück. Bei Schlangenmeter 60 macht sich einer Luft: "Das ist ja Wahnsinn." Um 5.20 Uhr ist er hier eingetroffen, diesmal ausnahmsweise mit dem Auto, denn sein erster Zug fährt erst um 5.20 Uhr, und bei einer Stunde Wegzeit: Was wäre da noch an Kursen für ihn übriggeblieben? So ist er um vier Uhr aufgestanden, um wenigstens etwas Einfluß nehmen zu können. Wenn man so will, hat er noch Glück gehabt. Nicht jeder Student ist motorisiert, und in Heidelberg fahren die ersten Straßenbahnen erst kurz nach fünf. So bleibt vielen gar nichts anderes übrig, als sich erst gegen sechs Uhr einzureihen in den Kampf um eine gute Ausbildung. Denn im Dunkeln mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, den Mut bringen vor allem viele Studentinnen verständlicherweise nicht auf.

Einige der Erstsemester kannten den Andrang aus Erzählungen, "mit gesundem Menschenverstand" jedoch wollten sie das nicht wahrhaben. So sitzen, lehnen, stehen sie nun seit ungefähr halb sechs Uhr an der Gebäudeecke, ca. 80 Meter vom Eingang entfernt, mit Gedanken an die Zukunft: "Stell dir mal vor, wie das im Wintersemester wird!", "Wo soll das noch hinführen?" Die Antwort findet sich um 6.25 Uhr: Schlangenmeter 100 ist erreicht. Und trotzdem irgendwo immer wieder ein Lachen, eben "aus der Not eine Tugend machen".

Frühstückszeit. Ein kühler Wind streicht durch die Gasse, läßt viele Wartende die Arme um den Körper schlingen, fröstelnd denkt so mancher an das Wintersemester, an den Herbst, an Regen und Kälte. Bei Schlangenmeter 53 besorgt einer Kaffee in Pappbechern, vorne wird Tee aus dem Haus gegenüber geschlürft. Einige haben sich warme Getränke mitgebracht, Brötchen und Gebäck vom Bäcker. Eine Studentin sitzt in einem Hauseingang gegenüber der Schlange, alleine, die Thermoskanne voll mit Kaffee neben sich. Der Blick geht genervt und irgendwie ungeduldig nach unten, auf die kalten Steinstufen. Zwei biegen um die Ecke, ihr Mund verzieht sich unweigerlich, als sie den Andrang sehen. 105 Meter ist die aktuelle Länge. Dann 6.45: Bewegung, bis 30 Meter vor den Eingang erheben sich die Wartenden. Weiter vorne sitzt man schon zu lange, wartet schon zu viele Stunden, um sich von der plötzlichen Hektik anstecken zu lassen. Dichter drängen sich die Stehenden, ordnen sich zu Viererreihen, die Schlange verkürzt sich um 30 Meter. 6.50 Uhr: Endlich öffnet sich die weiße Tür, mit einemmal stehen alle, einer nach dem anderen verschwindet im Gebäude. Drinnen ein kahler Eingangsraum, ein kleiner Tisch. Dahinter einer, der kleine orangene Garderobenpapierstückchen austeilt. Die Zettel mit den Nummern. Die Trophäen der Nacht.

Früher, da standen die Anglistik-Studenten erst um sieben Uhr an, um sich einzutragen, reihten sich auf der Treppe auf, mit Ellenbogenmentalität um ihre Kursbelegungen kämpfend. Vor zwei Jahren dann führte die Fachschaft Anglistik als Protestaktion die Vergabe der Nummern ein. Die Schlange stand nun auf der Straße, öffentlich, für alle sichtbar. Umsonst. Der Protest hat sich etabliert, geändert hat sich nichts. Noch immer ist das Kursangebot nicht bedarfsorientiert, teils deshalb, weil Personal, aber auch, weil notwendige Geräte, wie beispielsweise Tonbandgeräte für die Phonetikkurse, fehlen. Aber manchmal heizen die Studenten ihre Hölle auch selbst. Wenn erst einmal gesammelt wird, um danach eine Auswahl zu treffen, schließlich deshalb in einigen Kursen 4 - 5 Plätze frei bleiben, verschmiert die simple Schwarz-weiß-Malerei ein bißchen. Um fünf nach sieben ist der ganze Spuk vorbei. Ein paar komen aber doch noch. Um 7.10 Uhr. Nehmen ihre Zettel entgegen, dann Verwunderung auf ihren Zügen: 243 waren vor ihnen da. (rot)


Verständnisschwund trotz Datenflut

Der moderne Wissenschaftsbetrieb produziert Datenströme, die niemand mehr überblicken kann. Die Kanalisation dieser Informationsmengen in leicht zugängliche Datenbanken ist nur mit Hilfe der gesamten scientific community möglich. Darauf müssen sich auch die Hochschulen und ihre Studenten einstellen.

Akademiker sind von Berufs wegen Datenverarbeiter. Sie müssen wissen, was bereits bekannt ist und was nicht. Kein leichtes Unterfangen angesichts der Tatsache, daß z.B. Biologen und Mediziner mehr als eine Million wissenschaftlicher Arbeiten pro Jahr publizieren.

Um der Publikationsflut Herr zu werden, hat man schon frühzeitig bibliographische Datenbanken eingerichtet. Die Grenzen dieser Datenbanken werden jedoch dann erreicht, wenn es zuviel Literatur gibt. Sucht man beispielsweise die Medizin-Bibliographie MEDLINE nach dem Begriff HIV ab, findet man allein für das Jahr 1994 mehr als 7000 Arbeiten über dieses Thema. Da man aber nicht das Literaturzitat per se will, sondern die Information aus der zitierten Arbeit, sind solche Bibliographien nur eine Notlösung für das Informationsproblem.

Deshalb gibt es heute kommerzielle Faktendatenbanken für die meisten Gebiete, sehr umfangreiche z.B. für Chemie- und Wirtschaftsdaten. Sie sind aber so teuer, daß sie sich nur größere Unternehmen und Institute leisten können. Das Absurde daran ist, daß die ursprünglich mit Steuergeldern erarbeiteten Forschungsergebnisse von Firmen oder Instituten gesammelt und nun an diejenigen Wissenschaftler zurückverkauft werden, die dieses Wissen produziert haben.

Traditionelle Publikationen: Um Karriere zu machen, sind Wissenschaftler darauf angewiesen, möglichst viel zu veröffentlichen. Es spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, ob die Werke gelesen werden oder in irgendwelchen Bibliotheken verstauben. Das Paradoxe an den meisten wissenschaftlichen Arbeiten ist, daß sie nur in Verbindung mit anderen Sinn machen, aber gewöhnlich nicht mit diesen zusammen vorliegen. Die Evolutionstheorie etwa wurde aus vielen Einzelbeobachtungen abgeleitet. Natürlich kann man alle Artikel zu einem bestimmten Problem zusammentragen und daraus eine neue Theorie ableiten. Effektiver wäre es jedoch, wenn man alle Informationen automatisiert zusammensuchen könnte und Einzeldaten dann z.B. in Form einer neuen Theorie interpretiert.

Warum funktioniert diese Vorgehensweise nicht? Klar: weil man besagte Daten nicht einfach z.B. aus einem Computer abrufen kann. Einer von vielen Gründe dafür: Die meisten Entscheidungsträger der heutigen Forschungslandschaft sind im Vorcomputerzeitalter ausgebildet worden. Sie scheinen sich nicht besonders für Computer und Netze zu interessieren, nicht zuletzt wohl aus einer unterschwelligen Angst heraus, mit den neuen Techniken nicht mehr zurechtzukommen.

Neue Strategien: Informationen nützen nur etwas, wenn sie leicht und schnell verfügbar sind. Fachzeitschriften müssten deshalb eigentlich so funktionieren: Ein Wissenschaftler muß bei Einreichung eines Manuskriptes die Ergebnisse gleichzeitig maschinenlesbar und in einem standardisierten Format vorlegen. Der Artikel in der Fachzeitschrift sollte dann zeitgleich mit einem entsprechenden Datenbankeintrag erscheinen.

In der Tat ist dieses Prinzip in der Molekularbiologie schon teilweise verwirklicht. Neu entdeckte Gensequenzen werden von den meisten Fachzeitschriften seit einigen Jahren schon gar nicht mehr abgedruckt (was auch ziemlich witzlos wäre, denn 20 Seiten ...CGTAAGTTTGAT... wird niemand durchlesen). Die Artikel beschreiben nur noch wichtige Eigenschaften, z.B. Krankheiten durch zugehörige Gendefekte. Von der eigentlichen Sequenz wird nur noch die Datenbank-Nummer erwähnt, mittels der jeder die Sequenz abfragen kann.

Die meisten anderen Disziplinen, auch die anderen innerhalb der Biologie, sind davon noch weit entfernt. Freilich liegt das auch an der Art der Daten: komplexe philosophische Ideen lassen sich nicht so leicht katalogisieren wie chemische oder ökonomische Daten. Trotzdem ist es für alle Fachbereiche ein unumgängliches Ziel, Strategien zur systematischen Speicherung des jeweiligen Fachwissens zu entwickeln.

Was wir tun könnten: Die nötige Infrastruktur für die Informationsgesellschaft muß noch weiter ausgebaut werden. Ein großer Teil der Studenten und immerhin ein Viertel aller deutschen Haushalte verfügt bereits über einen Computer. Mit einem kostenlosen Benutzerkonto beim Rechenzentrum, einem Modem (ab 200 DM) und einer normalen Telefonleitung kann man sich nun z.B. ans Internet anschließen und dadurch von Zehntausenden anderen Computern weltweit Daten abrufen. Natürlich kann man auch ins URZ gehen oder seine Online-Aktivitäten von Uni-Instituten aus entfalten. Vor allem: Als Studis habt ihr die einzigartige Gelegenheit an einen kostenlosen Internet-Anschluß zu kommen - use it or lose it!

Das Problem ist heute oft nicht die Verfügbarkeit, sondern das Auffinden von Informationen. Mit moderner Software wird aber diese Aufgabe selbst für völlig Unbedarfte, die ihr bislang hilflos gegenüberstanden, immer leichter. Trotzdem gibt es noch viel zu wenig Informationen online. In der Zukunft müssen deshalb ganze Institute geschaffen werden, die ausschließlich Informationen sammeln und aufarbeiten, um sie anschließend der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ein Beispiel für ein solches Institut ist das European Bioinformatics Institute (EBI) in England, das Daten aus dem Bereich der Molekularbiologie sammelt und anbietet.

Forschungsförderung: Forschungsprojekte sollten nur gefördert werden, wenn ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit online zugänglich gemacht werden. Mittelfristig sollte das für alle öffentlich geförderten Informationsanbieter gelten (z.B. Statistisches Bundesamt und andere Ämter, Ministerien, Verbraucherzentralen, lokale Informationen, z.B. über Wahlen und Kandidaten, aber auch Fernsehprogramme und Busfahrpläne). Während man hierzulande Kohle und Landwirtschaft mit Milliarden subventioniert, haben noch nicht einmal die bundesdeutschen Oberdatenverarbeiter beim Statistischen Bundesamt einen Internet-Server.

Uni-Ausbildung: Ausbildung und Studium müssen diese Möglichkeiten vermitteln und fördern, was aus den obengenannten Gründen (Stichwort "PC-lose Dozentengeneration") an vielen Fakultäten nur schleppend passiert. Die Studenten sollten mächtig darauf drängen, daß endlich die relevanten Informationstechniken anstatt angestaubter Seminare und Praktika angeboten werden. Das kann natürlich in der Form von autonomen Seminaren geschen. Bei der derzeitigen Info-Explosion wird der alte Spruch vom "Lernen, um zu lernen" wieder brandaktuell, da man eher neue Information finden können muß, als nur einmal Gelerntes abzuleiern.

Es wird Zeit, daß sich die Uni nicht nur in der Forschung der Informationsgesellschaft annimmt, sondern auch in der Lehre, und zwar so, daß das Endprodukt der Universitäten - nämlich das Wissen - der ganzen Gesellschaft zur Verfügung steht. (pue / hn)

Aktiv im Internet: Eigeninitiative ist eine Eigenschaft, die man als Net-Surfer mitbringen sollte. Ist die Datenbank, die Ihr gerade braucht, nicht vorhanden - richtet sie doch selbst ein! Am sichersten ist es, die Betreiber ähnlicher Datenbanken zu fragen, ob ihr deren Datenbank auf euer Interessengebiet ausweiten könnt (viele Internet-Datenbanken sind Einmann-Betriebe). Solche Angebote sind in aller Regel willkommen, da es immer noch viel zu wenige KNECHTE gibt, die Daten aus irgendwelchen Quellen MÜHSAM ABTIPPEN oder zumindest anderweitig maschinenlesbar zur Verfügung stellen.


Unter ferner liefen...

Lehramtsstudenten sind die Stiefkinder der Uni

Obwohl Lehramtskandidaten in ihren Fächern im Durchschnitt fast 50% der Studis ausmachen, werden sie nicht nur von der Universität in ihrer Gesamtheit sondern oft auch von ihren Fakultäten sehr stiefmütterlich behandelt. Betroffene Kommilitonen haben das Gefühl, Studenten zweiter Klasse zu sein.

Als die Teilnehmerliste im Mathe-Seminar durchgegeben wird, bemerkt Johanna, daß ihre Nebensitzerin nicht ihr zweites Fach angibt. "Studierst du nicht noch Germanistik?" fragt sie erstaunt ihre Kommilitonin. "Psst", zischt diese nur zurück, "wenn ich mein zweites Fach angebe, können sich die Leute ja denken, daß ich nicht auf Diplom, sondern auf Lehramt studiere."

Witzig? Komisch? Traurig? Jedenfalls gibt es immer wieder Studierende, sowohl Magister als auch Lehramtskandidaten, die letztere für irgendwie minderwertig halten. Das ist freilich kein größeres Malheur, und der gedemütigte künftige Lehrer kann das noch mit stoischer Ruhe hinnehmen. Doch härter trifft ihn schon, daß vielmals die Professoren ähnliche Ansichten haben. Denn die Aussichten der Dozenten, aus einem Lehramtskandidaten einen Wissenschaftler zu machen, der ihnen dann möglicherweise noch die passende Doktorarbeit zu eigenen Forschungszwecken liefert, sind nicht gerade gut. "Tatsächlich ist das Interesse der Professoren an Lehramtskandidaten außerordentlich gering", berichtet Herr Held, Studienberater des Oberschulamt in Heidelberg. "Lehramtskandidaten gelten als unter ferner liefen."

Doch wer sich darüber ärgert, ärgert sich schon zu früh. Das Resultat all dieser kuriosen Vorurteile wirkt sich nämlich keineswegs nur negativ auf das Selbstbewußtsein der Geplagten aus. Eine Folge davon ist auch, daß die Universität in ihrer Gesamtheit ihre Lehramtskandidaten recht stiefmütterlich behandelt. Das beginnt in den Instituten: Teilweise werden nicht einmal die vom Oberschulamt zugeschickten Prüfungstermine für das Staatsexamen ausgehängt, und viele Studienberater fühlen sich nur für den Magisterstudiengang zuständig. Die Bibliotheken kümmern sich viel zu wenig um passende Literatur: In Germanistik etwa, wo immerhin 42% auf Lehramt studieren, wird schon seit Jahren die Literatur für Didaktik völlig vernachlässigt, und Fächer wie Chemie oder Physik bieten keine Didaktik-Seminare an.

Hinzu kommt die ganze verheerende Beratungssituation: Wenden sich etwa Lehramtskandidaten mit ihren Fragen an die Dekanate, wird ihnen dort nur erklärt, man sei nicht zuständig für diesen Studiengang - nicht eingedenk des Geldes, das ihnen vom Oberschulamt für die Lehramtskandidaten bezahlt wird. Immerhin gibt es einmal im Monat eine Beratung des Oberschulamts, wo Herr Held die Lehramstsstudenten informiert. Herr Held stellt fest, daß dort immer wieder dieselben Fragen auftauchen, immer wieder die simpelsten Dinge mitgeteilt werden müssen: "Die Lehramtskandidaten sind völlig unterinformiert". Eine Germanistikstudentin erzählt von den Mühen, die es allein schon kostet, die Anmeldeformulare für das Saatsexamen aufzutreiben.

So hat sich vor ca. einem Jahr ein Arbeitskreis für Lehramtskandidaten gebildet. Als sie im Januar einen Infoabend veranstalteten, war der große Hörsaal erfreulich - vielmehr erschreckend - voll, obwohl kaum Werbung dafür gemacht worden. Auch dort zeigte sich, daß die auf Lehramt Studierenden nicht mal über die grundlegensten Dinge informiert waren.

Schuld an dem ganzen Mißstand ist freilich auch die Kompetenzüberschneidung von Ministerium für Kultus und Sport und dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung. Da ersteres eigentlich nicht direkt mit der Universität zu tun hat und letzteres eigentlich nicht für das Studium der Lehramtskandidaten zuständig ist, bleiben dieselben gewissermaßen in einem Machtvakuum. Anstatt daß sich beide Ministerien der Lehrer in spe annehmen, bleiben diese nun sich selbst überlassen. Ein Mitglied der Arbeitsgruppe für Lehramtskandidaten konstatiert: "Das ist ja tragischerweise nicht spektakulär, sondern einfach Alltag an der Uni." - Merkwürdiger Uni-Alltag. In der Tat. (hee)

Das Dasein als Lehramtsstudent ist hart. Die folgenden Veranstaltungen machen es ein wenig angenehmer:


Studi, wohin?

Soziologische Studie zum "Studienverlauf"

Was läuft eigentlich schief, wenn es in einem Studiengang zwar ein paar hundert Studierende, aber nur ein Dutzend Absolventen gibt? Das wollten im vergangenen Sommer drei Heidelberger Soziologie-Studenten wissen.

Nicht nur den Herren Bildungspolitikern und der Professorenobrigkeit ist betrüblich bewußt, daß das Studium in diesem unseren Lande viel zu lang ist; auch die gemeine Studentenschar leidet unter dem sich wie ein Stück Kaugummi hinziehenden Studium. Drei Heidelberger Jung-Soziologen ließ das Problem, dessen Lösung häufig allein in der Reglementierung des Studiums gesucht wird, keine Ruhe. Claus Wendt, Christoph Schneider und Markus Gülland untersuchten in einer Studie an ihrem Institut, wie Probleme bei Finanzierung, Prüfungen und andere Faktoren auf "Studienverlauf und Studienerfolg" - so der Titel ihres 44seitigen Heftes - einwirken. Ihr Resümee: Stärkere Kontrolle und die "Einführung von sogenannten Effizienzkriterien" werden den Notstand nicht beheben können. Bemerkenswert: Die Studie gelang als rein studentisches Projekt, das ohne Unterstützung des Institus für Soziologie durchgeführt wurde (und den Studienabschluß der drei Autoren, so ist zu hoffen, nicht verzögert hat).

Mit einem detaillierten Fragebogen gingen die Autoren zunächst den Ursachen für die hohe Quote von Abbrechern in ihrem Fach nach, wendet sich doch etwa die Hälfte der Studienanfänger nach 2 Semestern wieder von der Soziologie ab. Der Befund: Daß so viele Anfänger die Weber-Gesamtausgabe so schnell wieder aus der Hand legen, habe nicht nur damit zu tun, daß Soziologie als "Parkstudium" benutzt wird. Wendt, Schneider und Gülland: "Ersehen läßt sich auch, daß ein Großteil der Neuimmatrikulierten schlichtweg eine falsche Vorstellung vom Fach hatte"; zudem vergehe der Spaß am Fach durch die Theorielastigkeit des Studiums.

Auch mit der Vorstellung, diejenigen Studierenden, die sich zum Weiterstudium entschließen, könnten ihr Studium in 9 Semestern (Regelstudienzeit) absolvieren, und jeder, der länger brauche, sei ein Bummler, räumten die drei Soziologen - auf der Basis der Befragungen ihrer Kommilitonen - auf. Vielmehr seien 12 oder mehr Semester "notwendig, um ein komplexes Studium zu absolvieren und sich in ein oder mehrere Spezialgebiete einzuarbeiten"; auch mangelnde Beratung und die Überlastung der Studierenden seien Faktoren für das verlängerte Verbleiben an der Uni. Ergo: "Nicht die durchschnittliche Studienzeit muß an die Regelstudienzeit angeglichen werden, sondern die Regelstudienzeit muß an die realistische Dauer von 12 Semestern angepaßt werden." Bezeichnend ist auch, daß Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit bei den Studierenden mit zunehmender Studiendauer stetig größer werden.

Unter den "äußeren" Faktoren, die Einfluß auf den Studienverlauf nehmen, steht die Nebentätigkeit vieler Studenten für die drei Autoren an prominenter Stelle; schließlich gaben 67% der befragten Studierenden im Hauptstudium an, sie jobbten nebenbei, um sich über Wasser zu halten.

Mit ihrer Studie möchten die drei Autoren nach ihren eigenen Worten dazu beitragen, daß "die Diskussion über die Hochschulreform in einer differenzierteren Form fortgeführt werden kann". Na denn. (gz/alf/bpe)


Jetzt neu: Umweltökologie

Ökologische Vorlesungen gab und gibt es im Feld schon des längeren. Dank der Studienreform, die den Bereich der Biologie jetzt in sechs Teilgebiete gliedert (Biochemie, Molekular- und Zellbiologie, Botanik, Zoologie und neu, die Ökologie) wird ein kompletter Studiengang "Ökologie" eingerichtet. In den Genuß dieser Schwerpunktsetzung kommen allerdings nur Studierende, die sich im Hauptstudium befinden. Und auch für die gibt es vorerst nur begrenzt Platz. 10 Hauptfach und 20 Nebenfach Studenten kommen zum Zuge, doch ist bei diesen Zahlen noch Bewegungsspielraum gegeben. Man richte sich hierbei auch nach der Resonanz, wie Prof. Rausch als neuer Leiter neben dem Zoologen Prof. Storch ruprecht mitteilte.
Scheine, welche für den Studiengang angerechnet werden, sind im Vorlesungsverzeichnis in Zukunft mit einem "Ö" versehen. Für die Prüfungen sind dann jeweils ein Zoologe und ein Botaniker vorgesehen.

Der Frage der Interdisziplinarität wird in Heidelberg zunächst intradisziplinär gelöst. So siedelt man die Ökologie nicht im Bereich mehrere Fakultäten an, wie es z.B. in Bonn mit Erfolg verwirklicht wurde, sondern findet die ökologische Vielfalt innerhalb der Biologie wieder. Zaghafte Schritte in Richtung einer interdisziplinär verwirklichten Wissenschaft bahnen sich jedoch an. So ist ein Nebenfach aus einem außerbiologischen Gebiet vorgesehen. Vorstellbar seien auch Pflichtscheine aus dem Bereich der Umwelt-Physik, Geologie, Geographie und Jura, erklärt der Ökophysiologe Prof. Rausch. Als problematisch aber wünschenswert wird die Eingliederung der Mikrobiologie gesehen, der gerade beim Problem der Altlastensanierung große Bedeutung zukommt.

Sollte es in Zukunft jedoch zu dem geplanten "Zentrum der Umweltökologie" (Prof. Rausch) kommen, in dem dieser Studiengang dann aufgehen würde, ist die Frage Heidelberger oder Bonner Modell sowieso hinfällig.
Letzte Hürde, die noch genommen werden muß, ist auf jeden Fall Stuttgart, dessen endgültiges Plazet erst Ende Mai zu
erwarten ist. Die Vorprüfung seitens des Ministeriums fiel jedoch bereits positiv aus. (bw)


Ausgelutschte Studis

Re-education der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg" - das ist doch genau das Thema, das einen Gegenwartsbezug hat. Da geht es doch um den Aufbau von Demokratie und die Überwindung von Politikverdrossenheit. Ironischerweise ist zu dieser Veranstaltung nur eine Teilnehmerin erschienen. Stefan Bamberg ist enttäuscht.

Doch er ist nicht der einzige, dessen Workshop wegen mangelnden Interesses abgeblasen bzw. nicht fortgeführt wurde. Die Studienwoche der Heidelberger Erziehungswissenschafter anläßlich des 8. Mai, des Datums des Kriegsendes, war in gewisser Hinsicht ein Flop, wie die Handvoll Fachschafter, die morgens an den farbbeklecksten Werktischen im "Café Gisela"des Erziehungswissenschaftlichen Seminar ihren Kaffee trinken, auch zerknirscht zugeben. Die Stimmung hat etwas von: Na ja.

An der Planung im Vorfeld lag es nicht, darin ist man sich einig. Schließlich haben die Studierenden monatelang darauf hingearbeitet, hat Micha Brumlik, Professor (und Guru) am Erziehungswissenschaftlichen Seminar, für Referenten von außerhalb gesorgt und auch selbst immer wieder an Diskussionen und Filmbesprechungen teilgenommen. Andere Dozenten waren nicht so aktiv, zwei von ihnen hielten sogar gegen die Abmachung ihre regulären Seminare ab, zu denen die Studis dann auch erschienen, nur um im Anschluß daran das Institut schnellstmöglich wieder zu verlassen.

Wie kommt es, daß ausgerechnet Studenten einer Sozialwissenschaft so wenig Interesse für sozialgeschichtliche Fragen aufbringen? Liegt es am oft gehörten Thema? Am overkill in den Printmedien? An Guido Knopp? Mitorganisator Hubert Ortwein verteidigt die kritischen Tage: "Man denkt ja oft, 2. Weltkrieg ist so ausgelutscht, hat dann aber trotzdem wenig Hintergrundwissen." Der Mann hat gut reden. Sein Workshop mit dem Titel "Jugendbewegung im Übergang zum NS" konnte ja stattfinden. Mit immerhin 8 Teilnehmern.

Und die anderen Veranstalter? Stefan jedenfalls gibt sich nicht frustriert. Nee, gar nicht. Er habe viel aus dieser Woche ziehen können, sagt er, und die mangelnde Außenwirkung motiviere ihn eher für die Zukunft. "Denn das ist ja genau das, worauf es bei den Erziehungswissenschaftlern ankommt: Wie vermittle ich?" Scheinbar brauchen wir Zeit für eine Re-education. (sm)


Fressbud'

Der Ausbau des "Feldes" geht weiter. Wer in den letzten Wochen offenen Auges durch die Neuenheimer Betonsilos mäanderte, dem ist sie wahrscheinlich nicht entgangen, die kleine "Bude" neben dem Cafe Botanik, dort, wo die Mensa bislang immer aussah, als hätte man das Erdgeschoß vergessen. Die "Bude", zusammengezimmert aus alten Bauwägen und mit einem Holzausbau versehen, entpuppt als der schon länger angekündigte Verkaufsstand der Food-COOP- Gruppe (jetzt "Appel un' Ei", ruprecht berichtete in Ausgabe Nr. 34): Nahrungsmittel aus ökologischem Anbau, die durch die studentischen Initiatoren des Projektes mehrmals wöchentlich von den Bauern der Umgebung abgeholt werden.

Das Vorurteil "Körnerschuppen", das mancher jetzt hegen mag, wird sofort nach Betreten entkräftet: eine Gemüsetheke, Ziegenkäse, seit Neuestem gegen Vorbestellung sogar "echte" Milch vom Ziegelhausener Kloster. "Der Apfelsaft z.B. geht kistenweise weg !", sagt mir der sonnenbebrillte junge Herr mit den Rhombengläsern, der hinter der Theke mit den Gewichten jongliert wie zu besten Tante-Emma-Zeiten, überhaupt sei das Projekt "eingeschlagen wie eine Bombe". Ein Blick hinein lohne sich, und: "Helfer suchen wir immer."

Übrigens: Wer genau hinsieht, wird außer Nahrungsmitteln auch ein paar prozenthaltige Genußmittel auftreiben... (gvg)


Neue ruprecht-Serie: Revolte in Heidelberg

Wer "Studentenbewegung" sagt, meint meistens nur: 1968. Nicht so der ruprecht. In einer vierteiligen Serie, die in dieser Ausgabe beginnt, beschäftigen wir uns im Schwerpunkt mit - gänzlich unterschiedlichen - Formen studentischer "Revolte in Heidelberg" während der 70er Jahre: mit dem "Sozialistischen Patienten-Kollektiv" 1970/71, den Unruhen bei Mathematikern, Juristen und Germanisten in der Mitte des Jahrzehnts sowie dem Ende des "Collegium Academicum" 1978, das auch das Ende der Revolte signalisiert. Ein abschließender Artikel blickt zurück auf die pragmatischeren 80er Jahre, auf den "Unimut"-Winter 1988/89.

"Aus der Krankheit eine Waffe machen!"

Wo aus Psychiatrie-Patienten Revolutionäre werden sollten - das Sozialistische Patientenkollektiv SPK (1970/71)

Jean-Paul Sartre war "außerordentlich beeindruckt". Der deutsche Staatsschutz war anderer Meinung: Für ihn war das im Februar 1970 gegründete "Sozialistische Patientenkollektiv" ("SPK") keine Selbstorganisation von Psychiatrie-Patienten, sondern eine kriminelle Vereinigung. Fest steht: In den gerade mal 17 Monaten seiner umkämpften Existenz radikalisierte sich das antipsychiatrisch-revolutionäre Kollektiv bis hin zur Bewaffnung, und nach seinem Ende schlossen sich über ein Dutzend seiner Mitglieder dem bewaffneten Kampf der "Rote-Armee-Fraktion" ("RAF") an, der in den folgenden Jahren die Republik erschüttern sollte. Doch mit diesen Feststellungen ist die Geschichte des SPK kaum zur Hälfte erzählt.

Es ist das Jahr, in dem sich die Beatles trennen. Die Amerikaner marschieren in Kambodscha ein, Alexander Dubceks Versuch eines "Sozialismus mit menschlichem Gesicht" scheitert, Willy Brandt fällt im Warschauer Ghetto auf die Knie, Peter Handke veröffentlicht "Die Angst des Torwarts beim Elfmeter", in deutschen Gazetten ist häufig von Oswald Kolle die Rede. Und: Im Frühjahr dieses Jahres 1970, als das SPK seinen Anfang nimmt, treibt die Studentenrevolte gerade ihrem Ende zu. Im Rückblick auf diese Zeit wird das linke "Kursbuch" 1985 schreiben: "Wenn ein gewitzter Staatsschützer (damals) ein Mittel gesucht hätte, um die Protestbewegung zu paralysieren, so hätte ihm nichts Bessereres einfallen können, als was die Bewegung sich selbst verordnete: die 'Proletarische Wende', die Schulungskurse, die Marx-Exegese, die Organisationsdebatten, die Parteigründungen. Es war, trotz aller Märsche, der Stillstand der Bewegung, ihr Zerfall."

Längst ist die Masse der politisierten Studenten, die selbst in der Hoch-Zeit der Bewegung eher eine (starke) Minderheit waren, an ihre Schreibtische zurückgekehrt. Viele ziehen sich in Wohngemeinschaften, Kneipen, Kinderläden, Selbsthilfegruppen, selbstverwaltete Betriebe, die SPD zurück. Die lange gepflegte Gewißheit, daß die ersehnte Revolution vor der Tür stehe, weicht bei nicht wenigen Linken dem schleichenden Gefühl, daß sie, wenngleich letztlich unaufhaltsam, doch noch eine Weile auf sich wird warten lassen.

Auch in der Heidelberger Provinz zeigt die einstmals so mächtig auftretende Studentenrevolte in diesem Jahr 1970 ein Bild der Erschöpfung: "Die Bewegung war in einer Sackgasse", wird sich der Heidelberger Altlinke Dietrich Hildebrandt erinnern. "Wir konnten noch verhindern, daß bestimmte Professoren Vorlesungen hielten, wußten aber nicht, wohin damit." Ende November spaltet sich die Heidelberger Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, der die Bewegung einst vorangetrieben hat; Hildebrandt: "Freundschaften zerbrachen, Wohngemeinschaften gingen in die Brüche." In der Folge lassen sich die Studenten noch gelegentlich zu - teilweise spektakulären - Aktionen mobilisieren, aber, so Hildebrandt, "von den selbstgesteckten Zielen wirklich etwas erreicht hatte die Bewegung nicht".

Die Schwäche der Revoluzzer bleibt ihren Gegnern nicht verborgen: Die Landesregierung, voran Kultusminister Wilhelm Hahn, will jetzt endlich gegen die Radikalen an den Universitäten vorgehen. Ein konservatives rollback beginnt und findet im "Radikalenerlaß" zwei Jahre später, den auch die SPD mitträgt, einen seiner Höhepunkte. In seinem Buch "Der Untergang von Heidelberg" wird der Heidelberger Schriftsteller Michael Buselmeier 1981 formulieren: "Die liberalen Freiräume vor allem an der Universität, die uns 1968 beinahe kampflos zugefallen waren, wurden nun Zug um Zug unter Knüppelschlägen und Drohungen wieder kassiert."

Während die Reste der Studentenbewegung derart mit sich selbst beschäftigt sind und das "System", wie es damals Mode wird zu sagen, sich zum Widerstand aufrappelt, findet die Revolte neue Wege: Am 2. März 1970 beziehen der Arzt Dr. Wolfgang Huber, drei Kollegen (darunter seine Frau Ursula) und 40 ehemalige Patienten der Psychiatrischen Poliklinik eine 4-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß der Rohrbacher Straße 12, richten Therapieangebote und Arbeitskreise ein - das "Sozialistische Patientenkollektiv" ("SPK") ist geboren.

Die Klinik hat den 35jährigen Assistenarzt Huber nach langen Streitereien entlassen; der Vorwurf: er verweigere die Zusammenarbeit und mißbrauche seine Gruppentherapie zur "Aufhetzung von Patienten gegen die Klinikleitung und die übrigen Mitarbeiter der Poliklinik" sowie zu politischer Agitation. Gespräche hat Huber abgelehnt; er erklärt, er müsse sich um seine Patienten kümmern. Viele von ihnen haben sich auf einer Vollversammlung - der ersten in der Geschichte der Bundesrepublik - mit ihm solidarisiert; gut drei Dutzend haben mit ihm die Klinik verlassen und von Rektor Prof. Rolf Rendtorff eine Woche später per Hungerstreik Zusagen erzwungen: Die Universität finanziert der Gruppe das Quartier in der Rohrbacher Straße (und bezahlt Hubers Gehalt); Voraussetzung ist, daß der Arzt die begonnenen Behandlungen bis Ende September dort abschließt. Um einen Vertrag wird lange gestritten; einer der Gründe für den Hader: Statt sich selbst abzuwickeln, öffnet sich das SPK für mehr Patienten; zeitweilig versorgt es angeblich bis zu 500 Menschen, nicht mehr vor allem Studenten, sondern zunehmend auch Arbeiter, Schüler, Angestellte.

Revolution.

Wofür das Kollektiv in den nächsten Monaten mit Flugblättern, teach-ins, einer Petition an den Landtag und allerhand anderen Aktionen streitet, ist ein therapeutisches Experiment, das eine ganze Reihe von Impulsen - Hegelsche Dialektik, Marxismus, Freudsche Psychoanalyse, Wilhelm Reich, Antipsychiatrie, die anti-institutionelle Studentenbewegung - aufnimmt und sogar nach den Maßstäben der damaligen Zeit, die an Umbrüchen wahrlich reich ist, gewagt daherkommt: "Genossen!", heißt es da griffig im SPK-"Patienten-Info Nr. 1" vom Juni 1970. "Es darf keine therapeutische Tat geben, die nicht zuvor klar und eindeutig als revolutionäre Tat ausgewiesen worden ist." Tatsächlich ist Hubers Therapiemodell immens politisch - aber das ist ja auch sein Grund-Credo: "Krankheit", so erklärt das SPK, "ist kein Vorgang im einzelnen Menschen, krank ist unsere Gesellschaft"; was 'Krankheit' genannt werde, sei eigentlich der "individuelle bewußtlose Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche" im Kapitalismus. Dieser produziere Krankheit, um Kapital zu schaffen - ein Vernichtungssystem, in dem auch die Medizin, insbesondere die Psychiatrie, ihre Funktion habe: "Sie stellt den Kranken für den Arbeitsprozeß wieder her, so daß er wieder Mehrwert produzieren kann. (Der Arbeiter) kommt schon als Zerstörter in die Klinik und wird dort vollends verstümmelt."

Aus dieser Analyse gibt es für das SPK nur eine Konsequenz: "Im Sinne der Kranken kann es nur eine zweckmäßige bzw. kausale Bekämpfung ihrer Krankheit geben, nämlich die Abschaffung der krankmachenden privatwirtschaftlich-patriarchalischen Gesellschaft." Während die traditionelle Psychiatrie darauf aus sei, den Kranken an Verhältnisse wiederanzupassen, die ihn doch gerade krank gemacht haben, zielt der SPK-Ansatz auf "Emanzipation": Der Kranke soll seine scheinbare Schwäche Krankheit produktiv machen, sie aus einem "bewußtlosen Unglück" in ein "unglückliches Bewußtsein" verwandeln, das die Ursache seines Elends erkennt. Die gewünschte Folge: "Der Leidensdruck als subjektive Notwendigkeit der Veränderung wird politisch", die Krankheit produziert "ihr eigenes Gegenteil, die Revolution."

Damit ist das SPK in der historischen Situation, in der sich die Linke 1970 befindet, ebenso eine Antwort auf die Lenin'sche Frage nach dem "Was tun?" wie andere Gebilde, die in jener Zeit aus der Konkursmasse der Studentenbewegung entstehen: das Heer von Gruppen und Grüppchen maoistischer, leninistischer, trotzkistischer Ausrichtung etwa oder die terroristische RAF. Die Linke sucht schon lange nach dem, was sie das "revolutionäre Subjekt" nennt: dem potentiellen Träger der Revolution. In der Enttäuschung darüber, daß sich das ursprünglich für diese Rolle ausgeguckte Proletariat mit dem Aufstand noch Zeit läßt, hat ein Teil der Linken gar zur sogenannten Randgruppen-Strategie gegriffen: der Idee, daß soziale marginalisierte Gruppen wie Heimzöglinge oder randständige Jugendliche aus ihrer verschärft unterprivilegierten Situation heraus besonders als Ausgangspunkt der Umwälzung taugen. Das SPK nun lokalisiert das revolutionäre Subjekt in einer Gruppe, die es zunächst als Avantgarde begreift: in den Kranken, die die Widersprüche des Systems am sinnlichsten erfahren. "Revolution machen", so heißt es im "Info" Nr. 38, "können nur die, die begriffen haben, daß sie nichts als ihr krankes, gebrochenes Dasein zu verlieren haben." Schnell aber erweitert das SPK seine Randgruppen- zur Universal-Strategie: "Wir sind alle krank" - potentieller Revolutionär: jedermann.

Um solche Theorien und das weitere Schicksal des SPK entbrennt nicht nur eine öffentliche Debatte, sondern auch ein regelrechter Gutachterkrieg: Auf SPK-Seite sprechen sich drei von Rendtorff kontaktierte Wissenschaftler - unter ihnen der Sozialpsychologe Prof. Peter Brückner aus Hannover - dafür aus, das Kollektiv, gegebenfalls als universitäre Einrichtung, fortzuführen. Auf der anderen Seite verurteilt die etablierte Universitätsmedizin in der Person des Klinikchefs Prof. Walter von Baeyer und zweier auswärtiger Professoren - ausschließlich auf der Grundlage des Aktenstudiums - das Konzept des SPK als "unwissenschaftlich" und für Patienten "ausgesprochen schädlich". Es sei "durchaus denkbar", schreibt etwa der Ulmer Gutachter Prof. Hans Thomae, daß sich die Mitgliedschaft im SPK "therapeutisch" auswirken werde - "ebenso wie es für manche Menschen hilfreich sein kann, Angehörige einer Sekte zu werden"; wie seine Kollegen rät auch er heftigst davon ab, die "Utopie von wahnähnlichem Charakter" an der Hochschule zu institutionalisieren.

Kollektiv.

Derweil läuft in der Rohrbacher Straße die ganz andere Therapie des SPK sieben Tage in der Woche, von 9 Uhr morgens bis 10 Uhr abends oder noch länger - in Einzelsitzungen, die jetzt "Einzelagitationen" heißen, und in 10 bis 12 Gruppen, den "Gruppenagitationen", mit jeweils einem Dutzend Teilnehmer. Drei wissenschaftliche Arbeitskreise - "Dialektik"; "Marxismus"; "Sexualität, Erziehung, Religion" - sollen die theoretischen Grundlagen für die Agitationen liefern; als Texte werden u.a. Hegel, Marx sowie Lukács benutzt. "Ärzte" gibt es im SPK nicht mehr, sondern nur noch "Träger ärztlicher Funktionen", will man das Arzt-Patient-Verhältnis als Ausdruck der "Objektrolle" des Patienten doch aufheben; stattdessen soll "jeder Patient Therapeut seiner selbst und anderer Patienten" werden.

Obwohl das SPK monatelang unter dem Schatten der drohenden Schließung existiert, ist es für viele Mitglieder - Revolution hin oder her - offenbar eine bereichernde Erfahrung. Ein Ehemaliger wird 1992 in der Zeitschrift "brennpunkte" zurückdenken: "Man sah an anderen und hat es auch in sich selbst gespürt, daß es möglich war, angstfrei Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen. Man konnte im SPK erleben, daß (Kollektivität) etwas sehr Befreiendes, Befriedigendes und Vielversprechendes ist und keineswegs einen Gegensatz bildet zu individueller Entwicklung." Auch die drei Pro-SPK-Gutachter, die das Kollektiv besichtigen, bestätigen zumeist diese Darstellung. Dr. Dieter Spazier etwa, Heidelberger Facharzt für Psychiatrie, hält fest, es sei "erstaunlich, wie besonnen, gegenseitig verständnisvoll und soziabil, dabei vor allem auch leistungsfähig" das Kollektiv trotz seines unsicheren Status arbeite.

Freilich: Einem der SPK-Befürworter, dem Gießener Psychosomatiker Prof. Horst Eberhard Richter, fällt im Verhalten des Kollektivs auch Beunruhigendes auf: "Es hat sich anscheinend unter dem Einfluß eines gruppendynamischen Prozesses ein regelrechtes kollektives Ich gebildet. Der Glaube an die überragende therapeutische Qualität und an den politischen Stellenwert des Unternehmens ist für die Anhänger kaum noch diskussionsfähig." Richter schließt mit den Worten: "Ein direkter revolutionärer politischer Kampf auf der Basis gruppentherapeutischer Krankenbehandlung wäre nichts als eine Absurdität" - doch genau in diese Richtung treibt die Entwicklung.

Seit Herbst 1970 nämlich spitzt sich die Auseinandersetzung zu. Im September schlägt sich Minister Hahn auf die Seite der SPK-Gegner und untersagt der Universität Heidelberg "aus medizinischen und rechtlichen Gründen", das "Provisorium" SPK weiterhin zu unterstützen. Von der Gegenseite verlautet prompt in einem "Info": "Das SPK wird sich allen 'Beendigungsversuchen' - von welcher Seite auch immer - nicht kampflos unterwerfen."

Kampf.

Bald besitzt das Kollektiv auch an der Universität keinen Verbündeten mehr: Dem Rektor, der bemüht ist, Polizeieinsätze in der Hochschule zu vermeiden, sind durch die Weisung des Ministers die Hände gebunden; die private Finanzierung für das SPK, um die er sich bemüht, lehnt das Kollektiv ab - und läßt es sich nicht nehmen, Rendtorff öffentlich als "Judas" und Schlimmeres zu beschimpfen. Doch auch unter den linken Studenten hat das SPK wenig Unterstützung. Dietrich Hildebrandt, zu jener Zeit Vorsitzender des AStA, meint heute: "Das SPK hat uns so erfahren, wie sie das Rektorat auch erfuhren - als eine verhaßte Autorität." Michael Buselmeier, damals auch politisch aktiv, räumt ein: "In vielen Fragen waren wir vom SPK gar nicht so weit entfernt, wir dachten nur, die sind ein bissl verrückt, die machen alles falsch." Ein anderer Aktivist denkt an Begegnungen mit Dr. Huber zurück: "Ich könnte mich nicht erinnern, daß es zwischen uns jemals zu einer Kommunikation gekommen wäre."

Derart "isoliert" (Buselmeier), zieht sich das SPK wohl immer stärker in sich selbst zurück. Was genau in diesen Monaten seit Herbst 1970 im Kollektiv geschieht, ist schon damals für Außenstehende schwer durchschaubar, läßt sich aus heutiger Perspektive nur erahnen. Wenn die weiterhin erscheinenden "Patienten-Infos", die immer wütender, verzweifelter, entschlossener werden, einen Anhaltspunkt bieten, kommt es zu dem, was der spätere RAF-Terrorist Klaus Jünschke, damals SPK-Mitglied, in einem Interview 1985 "Radikalisierung und Brutalisierung" nennen wird. Rektor Rendtorff wird 1995 ruprecht berichten: "Mitten in der Nacht rief Huber mich an. Er sagte: 'Wir sitzen hier (im SPK) und haben Handgranaten. Wenn die Polizei kommt, sprengen wir das Ding in die Luft.'"

Die Spirale der Konfrontation ist nicht mehr aufzuhalten. Ob sie sich vornehmlich aus der Abwehrhaltung von Politik und Universität ergibt oder in dem revolutionären Grundansatz des SPK bereits vorgezeichnet ist, ist schon lange nebensächlich (und im übrigen kaum eindeutig zu entscheiden). Das SPK, das sich mit den Juden im Dritten Reich vergleicht, ist spätestens seit dem Selbstmord eines Mädchens aus der Gruppe im April 1971 überzeugt, daß der Staat nicht nur das Kollektiv als Institution, sondern auch die darin versammelten Kranken - im SPK-Jargon - "liquidieren" will; die Polizei schließt nicht aus, daß der Suizid von der Gruppe forciert wurde, um deren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Daß sich im SPK nicht (wie bei den K-Gruppen) Aktivisten sammeln, die unter Berufung auf Marx, Mao und/oder einen anderen Denker die Gesellschaft verändern wollen, sondern Patienten, die sicher sind,nur eine Chance auf Überleben zu haben, wenn sie Revolution machen, verschärft den Konflikt existentiell.

Ein rätselhafter Vorfall in den frühen Morgenstunden des 24. Juni 1971 ist der Auftakt zum letzten Akt des Dramas um das SPK: Gegen drei Uhr morgens schießen Unbekannte in Wiesenbach in der Nähe Heidelbergs auf einen Polizeiposten, der eine Verkehrskontrolle dürchführt, und flüchten. Da ein Zusammenhang mit der (noch "Baader-Meinhof-Gruppe" genannten) RAF vermutet wird, schaltet sich das Bundeskriminalamt ein; obwohl 350 Beamte ihn suchen, ist der Schütze nicht zu finden. Dafür erscheint am nächsten Tag - es gibt Hinweise, Huber habe den Gesuchten zur Flucht verholfen - die Polizei beim SPK, durchsucht die Räume in der Rohrbacher Straße und Privatwohnungen und nimmt acht Mitglieder fest; zwei davon bleiben unter dem Verdacht der Unterstützung der RAF inhaftiert, die anderen, auch Huber, werden nach Verhören freigelassen.

Für das SPK ist klar: Die "endgültige Vernichtung" des Kollektivs soll vorbereitet werden; klar ist auch: "Antwort" kann "nur der totale Widerstand = Angriff" sein. Das SPK - oder doch eine maßgebliche Gruppe darin - zeigt sich nun offen zur Militanz entschlossen; Waffen hat man auch schon besorgt. Als Strategie wird "ein Volkskrieg von sehr langer Dauer" propagiert, der nach dem Vorbild des Vietcong als Guerillakrieg zu führen sei: "erst unbewaffnet, dann bewaffnet". Am 13. Juli erscheint das letzte Flugblatt, auf dem die Buchstaben "SPK" durchgestrichen und durch "RAF" ersetzt sind; darunter eine Art Gedicht: "Wenn wir umzingelt sind, entweichen wir." Das SPK taucht ab.

Ende.

Jetzt geht alles ganz schnell: Ein Ex-Mitglied sagt bei der Polizei aus; am 21. Juli rückt die Polizei mit 300 Beamten und elf Haftbefehlen erneut in den SPK-Räumen und verschiedenen Privatwohnungen an. Bei den Durchsuchungen werden eine Ausrüstung zur Fälschung von Führer- und Kfz-Scheinen, mehrere Waffen, Munition und Sprengstoff gefunden. Für die Polizei, die das Kollektiv auch schon einige Zeit observiert hat, ist klar: "Eine Anzahl von Mitgliedern des SPK Heidelberg steht in dringendem Verdacht, sich zu einer kriminellen Vereinigung zusammengeschlossen zu haben, die zum Teil schon strafbare Handlungen begangen beziehungsweise geplant hat." Der "Spiegel" kommentiert lapidar: "(Die) Kripo-Funde deuten sicher nicht auf einen normalen Praxis-Betrieb Hubers und seiner Genossen hin." Der Arzt und seine Frau werden zusammen mit fünf anderen verhaftet; andere SPK-Genossen tauchen unter. Viele der ehemaligen Patienten wenden sich traditionellen Therapieeinrichtungen wie der gerade eingerichteten Beratungsstelle des Studentenwerks zu oder gehen in keine Behandlung mehr. Und auch wenn ein "Informationszentrum Rote Volksuniversität" weiterhin Propaganda für das Kollektiv macht (und, wie ruprecht erfuhr, versucht, Kämpfer für den Untergrund zu rekrutieren): Das SPK ist faktisch am Ende.

Die weiteren Ermittlungen der Polizei ergeben, daß im SPK ein "innerer Kreis" um Dr. Huber existiert hat, der vor dem Rest der Mitglieder geheimgehalten wurde und aus ca. 12 Leuten bestand, die als "Stadtguerillatruppe" arbeiteten; dieser Kreis, der sich regelmäßig in Hubers Haus in Wiesenbach getroffen habe, habe sich bewaffnet, vier eigene "Arbeitskreise" - "Funktechnik", "Sprengtechnik", "Fototechnik", "Karate" - gebildet, Revolutionspläne geschmiedet und zur Übung einige kleinere Anschläge verübt. Ab November 1972 folgen mehrere Prozesse gegen Mitglieder der Gruppe, in derem ersten Huber und seine Frau wegen "Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Sprengstoffherstellung und Urkundenfälschung" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Auch die Approbation als Arzt verliert Huber - für den "outlaw der Psychiatrie" ("Stuttgarter Zeitung") wohl eher Ehrung als Strafe.

Für nicht wenige aus der Gruppe indessen geht der Kampf in anderer Form weiter. Klaus Jünschke wird sich im Interview entsinnen: "Nach der Zerschlagung des SPK herrschte Verzweiflung, man mußte etwas tun." Seine Konsequenz: "Ein paar Monate später war ich bei der RAF." Ehemalige SPK-Mitglieder, die schon länger im Untergrund sind, nehmen Kontakt mit ihm auf, er erklärt sich bereit, "Einkäufe" zu machen: Autonummernschilder, Wohnungen. Gudrun Ensslin gibt ihm den Codenamen "Spätlese"; er ist bei der "kämpfenden Truppe" (Jünschke) angekommen. Für ihn, so wird er bemerken, ist es "keine Frage, als die RAF kam und sagte, machst du mit. Die Rote Armee aufbauen, Sieg im Volkskrieg" - Ähnliches hat er schon beim SPK gehört, wenngleich man bei seiner neuen Truppe von den Theorien des Kollektivs wenig wissen will, Ensslin verächtlich von den "SPK-Flippern" spricht.

Gleichwohl tut wie Jünschke mehr als ein gutes Dutzend Leute aus dem Kollektiv und seinem Umfeld den Schritt zur RAF - ein Großteil der sog. "zweiten Generation" der Terror-Gruppe. Ex-SPK-Mitglied Margrit Schiller etwa ist jene Frau, die verhaftet wird, kurz nachdem am 22. Oktober 1971 der Zivilfahnder Norbert Schmidt von einem Terroristen-Pärchen erschossen wird - der erste Polizeibeamte, der durch die RAF den Tod findet. Unter den sechs Terroristen, die 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen, ein Dutzend Geiseln nehmen und zwei davon mit Kopfschuß töten, bevor sie das Gebäude in die Luft sprengen, sind vier Ex-SPKler: Lutz Taufer, Bernhard Rössner, Hanna Krabbe und Siegfried Hausner. Auf ihrer Liste freizupressender Genossen steht auch Eberhard Becker, ehemals Anwalt des SPK. Elisabeth von Dyck, Ralf Baptist Friedrich, Sieglinde Hofmann, Friederike Krabbe schließlich, ehemalige SPK-Mitglieder auch sie, sind Teil der Truppe, die die RAF-"Offensive" des Jahres 1977 - die Tragödie des "deutschen Herbstes" - vorbereitet. Sie machen ihren eigenen "Volkskrieg" - auch wenn sich das Volk damit begnügt, sachdienliche Hinweise zu ihrer Festnahme zu geben.

Epilog.

Wo Wolfgang Huber sich heute aufhält, wissen nur Eingeweihte. 1973 ruft er, noch aus seiner Stammheimer Zelle heraus, die "Patientenfront" ("PF") aus, die er als "Rückkehr zu den Wurzeln" des SPK versteht. Im Januar 1976 werden er und seine Frau aus der Haft entlassen; 1985 gründet sich in Mannheim die Gruppe "Krankheit im Recht", die die SPK-Schriften verlegt, die SPK-Arbeit fortführt und gegen die "Ärzteklasse" kämpft. Sie hat auch Kontakt zu Huber, lehnt aber Gesuche um ein Interview ab. Huber sei "viel unterwegs", heißt es, in Sachen Kampf gegen die "Iatrokratie" (i.e. "Herrschaft der Ärzte"); ein Kenner aus der linken Szene kommentiert: "Den Huber halten sie wie den Großen Alten Mann im Hintergrund."

"Krankheit im Recht" hütet auch die SPK-Geschichte - und tut es mit Verve: "Hände weg vom SPK", verlautbart man; Presseanfragen, nicht nur die des ruprecht, werden zuerst zuvorkommend, dann aber zunehmend restriktiv (und schon mal mit einer Drohung) beantwortet. Dafür gibt die selbstgebastelte Historie dann den gewünschten Grund zur Freude: Das Ende des SPK im Juli 1971 sei nur ein "strategischer Rückzug" gewesen, seit Hubers Entlassung sei die SPK/PF-Arbeit erfolgreich "auf alle Kontinente ausgeweitet" worden, Huber stehe in einer direkten Ahnenreihe mit Hegel, Marx und Sartre.

Anfang dieses Jahres feiert man bei SPK/PF ein dreifaches Jubeldatum: 25 Jahre SPK, den 60. Geburtstag Hubers, 10 Jahre "Krankheit im Recht". Zum Anlaß verfaßt die Front einen Text, der, von der Gruppe zur Hammondorgel selbst dargeboten, vom SPK-Verlag auf Tonbandkassette angefordert werden kann. Im Schlußrefrain singen die Patienten: "Fragst Du nach dem alten Huber, Huber, Huber / Fragst Du nach dem alten Huber / Ja, es ist der alte noch." (bpe)

Kurze Chronik des SPK

12. Februar '70:

Patientenvollversammlung in der Psychiatrischen Poliklinik Heidelberg gegen die drohende Entlassung des Assistenzartes Dr. Wolfgang Huber; kurz darauf wird der Arzt gekündigt.

2. März '70:

Nach Hungerstreik im Dienstzimmer des Verwaltungsdirektors der Universitätskliniken beziehen die Patienten von der Universität befristet finanzierte Räume in der Rohrbacher Str. 12 - die Geburt des SPK.

Juni '70:

"Patienten-Info" Nr. 1: "Genossen! Das System hat uns 'krank' gemacht; geben wir dem kran-ken System den Todesstoß!"

6. Juli '70:

Mitglieder des SPK besetzen das Rektorat; ihre Forderung: "unbefristete Überlassung" von zwei Häusern mit je 10 Zimmern.

9. Juli '70:

Der Verwaltungsrat beschließt: SPK soll eine Einrichtung der Universität werden; es folgt ein Gutachterkrieg.

18. September '70:

Kultusminister Wilhelm Hahn erläßt eine Weisung gegen die Institutionalisierung des SPK.

24. November '70:

Der Senat beschließt: "Das SPK kann keine Einrichtung an der Universität werden."

24. Juni '71:

Nach den "Schüssen von Wiesenbach" führt die Polizei eine Razzia gegen das SPK durch; acht Mitglieder, darunter Dr. Huber und seine Frau, werden festgenommen.

2. Juli '71:

"Patienten-Info" Nr. 49: "MAHLER, MEINHOF, BAADER - das sind unsere Kader!"

21. Juli '71:

Entscheidender Schlag der Polizei: Häuser werden durchsucht, insgesamt sieben SPK-Mitglieder verhaftet; Waffen und Munition werden gefunden.

19. Dezember '72:

Das Urteil im 1. SPK-Prozeß wird verkündet: Dr. Wolfgang Huber und Dr. Ursel Huber werden zu je 4 1/2 Jahren Gefängnis, Siegfried Hausner zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt (1974 entlassen, taucht er ab und geht - wie viele andere Ex-SPKler - zur RAF).

Stellungsnahmen:

"Das SPK war ein offener und vielfältiger Prozeß, der am Ende über der panischen Abwehrreaktion der Machthabenden in Universität und Politik zur Sekte verkam, in der das Vorläufige, unfertig Erarbeitete zum Dogma wurde."

- Lutz Taufer, ehem. SPK, RAF

"Da, wo eine Gemeinschaft nach dem Paradies im Hier und Jetzt sucht, endet es in Jonestown. Ich bin in meiner Radikalisierung sehr intolerant geworden, damals. Es ist natürlich auch irre, gemessen am eigenen Anspruch, die Welt zu verändern, wenn man sich so brutalisiert."

- Klaus Jünschke, ehem. SPK, RAF

"Es wäre zu fragen, welchen Grad von Besonnenheit und Zielgerichtetheit ein politischer Kampf gewinnt, der von der Dynamik des Ausagierens unbewältigter psychischer Konflikte bestimmt wird."

- Jörg Bopp, Psychotherapeut

"Das SPK hatte eine totalitäre Struktur. Entweder man bekannte sich mit Haut und Haaren dazu, oder man wurde angefeindet - Zustände, wie man sie von Politsekten kennt."

- Studentischer SPK-Zeitzeuge

"Man müßte sich fragen, was aus dem SPK geworden wäre, wenn es an der Uni institutionalisiert worden wäre. Es hätte durchaus sein können, daß die Mitglieder zufrieden gewesen wären mit einem radikalen, auf die Psychiatrie und deren Revolutionierung bezogenen Konzept; es ist nicht unbedingt logisch, daß manche den Schritt zur RAF machten."

- Michael Buselmeier

"Die Geschichte des SPK ist eine

Verfolgungsgeschichte, die gleichermaßen die Spuren eines vergeblichen inneren Bemühens um therapeutische Problembearbeitung und die Spuren der vergeblichen Mühe spiegelt, die Angriffe von außen abzuwehren."

- Dieter Spazier/Jörg Bopp,

Psychotherapeuten

"Und was ist aus den Verfolgern des (SPK) geworden? Keiner ohne daraufhin gebrochene Karriere und viele inzwischen verstorben. Merkwürdig? Nein, zwangsläufig und

wiederholbar."

- Aus einer SPK-Chronik, 1995

"Nichts, was meinen Widerwillen begründet, hat etwas zu tun mit Ärztemoral, Ärztegeschichten, ärztlichen Kunstfehlern oder mit ihrer Bereicherungssucht. Nichts mit Charakterstärke oder Überlegenheit in eigener Sache, die ich mir selbst oder sonstwem noch zu beweisen hätte, sondern: Entweder ist die Ärzteklasse die herrschende, die alles durchherrschende, die folglich weg muß, weil es schlecht läuft in der Welt, oder ich habe mich geirrt. Dann habe ich wenigstens für viele den Platz geräumt. Und es herrscht ja Ärzteschwemme."

- Wolfgang Huber, November 1992

Literatur u.a.:

Butz Peters, "RAF"; Margot Overath, "Drachenzähne" (Dank); Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex"; Gerd Langguth, "Protestbewegung"; Wanda von Baeyer-Katte et al., "Gruppenprozesse"; Jörg Bopp, "Antipsychiatrie" Quellen u.a.: "Dokumentationen zum SPK an der Universität Heidelberg", Bd. 1-3; "Kleinkrieg gegen Patienten. Dokumentation zur Verfolgung des SPK Heidelberg"; SPK/PF/Huber, "Über das Anfangen. Zur Vorgeschichte des SPK und der PF"; Klaus Jünschke, "Spätlese"; "brennpunkte", Heft 7, Febr./März 1990; "Rhein-Neckar-Zeitung" (Dank ans Archiv); "Heidelberger Tageblatt"; "Unispiegel"; Zeitzeugen (Dank) Fotos: Welker

Das Ende des Experiments: Am 21. Juli 1971 durchsucht die Polizei, die Haftbefehle gegen 11 SPK-Mitglieder hat, auch Wohnungen in Heidelbergs Sandgasse, wo einige aus der Gruppe in Wohngemeinschaften zusammenleben.


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