Reportagen


Zu cool für Dutschke

Über Heidelbergs Jugendparteiverbände und das politische Verhalten gestern und heute

Die Studenten der 68er sahen sich als Aufklärer, Freiheitskämpfer, Idealisten; sie glaubten an Moral, an Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie wollten verändern und gestalten, sie waren rebellisch und bezogen zum politischen Leben Deutschlands Stellung. Gibt es auch heute noch Rebellen? ruprecht schaute sich die Jugendorganisationen der politischen Parteien in Heidelberg an.

"Studenten auf den Barrikaden" verkündete das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im April 1968, nachdem sich an den Osterfeiertagen die Protestbewegung der deutschen Studenten kraftvoll über der Republik entladen hatte.
Dutschke, Langhans, Teufel und Co. verstanden das Privileg des Studierens, ihre noch nicht abgeschlossene Integration in die Gesellschaft, zugleich als Pflicht und Aufgabe, eine oppositionsbereite Jugend zu politisieren. Sie wollten dem Muff des deutschen Kleinbürgertums, dem Establishment des gebrochenen Rückgrats, der konformistischen Gesellschaft, den Autoritäten und den Mächtigen eine außerparlamentarische Opposition entgegensetzen, um nicht zum bloßen Objekt anderer Mächte der Gesellschaft zu verkommen.
In Heidelberg revoltierten die Studenten heftiger und beharrlicher als in vielen anderen Universitätsstädten. Sie breiteten bei der 581. Jahresfeier der Universität Spruchbänder ("Rektor, Du ekelst uns an") aus, bei der Totenehrung ertönten "Ohnesorg"-Rufe, die Mozart Idomeneo-Ouvertüre ging im Lärm unter.

Heute in den 90ern werden die Jugendlichen und Studenten als Generation, die keine sein will, beschrieben, als Generation X. Am öffentlichen Leben nimmt diese Generation kaum noch teil, nur 1% engagieren sich in Parteien, 1,3% in Bürgerinitiativen. Die Wahlbeteiligung der jungen Wähler ist seit den letzten zehn Jahren unterdurchschnittlich, ihre Anzahl in den beiden großen Volksparteien um mehr als ein Drittel gesunken.

Dennoch sind die Jugendlichen nicht unpolitisch, sie informieren sich rege über die aktuellen politischen Geschehnisse. In den Vorlesungssälen sticht einem immer wieder der ein oder andere "Spiegel" lesende Student ins Auge. Galt es aber in den 68ern als erstrebenswert, die Geschichte des Gemeinwesens mitzugestalten, so scheint es heute der Generation X zu genügen, alles zu durchschauen. Vielleicht ist es "cool", durchzublicken, aber nichts zu tun, vielleicht ist es "in", nichts verändern zu wollen, an nichts zu glauben, nicht rebellisch zu sein.

Gründe für Verweigerung des "Ja und Amen" und die Wehr gegen Bevormundung gäbe es gerade im universitären Bereich genug. Ob es die geplanten Studiengebühren sind, überfüllte Hörsäle, Chaos in der Univerwaltung (ruprecht 34/95) oder die Metamorphose der Uni zur Leistungsfabrik.

"Politisches Engagement ist ja selbst dann nicht vorhanden, wenn es an den eigenen Geldbeutel geht", bedauert Andreas Badior, "der Protest der Studenten gegen Ulmers Gebührenkonzept ist kein Widerstand der Masse, vielmehr ein ohnmächtiger Partisanenkrieg gegen eine längst vom Gros der Hochschüler akzeptierte Sache."

Andreas Badior ist einer der Studenten, die sich in Heidelbergs politischen Jugendverbänden engagieren. Er ist Vorstandsmitglied der Jungsozialisten (JUSOS). Zu den weiteren politischen Jugendorganisationen zählen die Jungen Liberalen (JuLis), die Junge Union (JU) und die Grün-Alternative Jugend (GAJ), sowie die AG Junge GenossInnen (AG JG).

Wer sich nicht für hochschulpolitische Fragen interessiert, findet hier ein Forum des politischen Meinungsaustausches zu Themen aus Bund, Land und Kommune.

Die Mitglieder dieser Organisationen nutzen dies als Möglichkeit, in gewisser Distanz zu den Parteien Politik zu machen. Durch die Formulierung eigener Vorschläge zu verschiedenen Politikfeldern sehen sie hier eine Chance, die eigene Zukunft selbst zu gestalten.

In einem allmonatlichen Stammtisch findet der politische Neuling seinen Einstieg. Bei den JuLis wurde in der "Offenen Runde" zuletzt das Thema "Ökologische Marktwirtschaft" besprochen. Der Vorsitzende Karsten Markwardt erläuterte die Konzeption dieses Modells, das von den Jungen Liberalen selbst propagiert und in die Gremien der F.D.P. eingebracht wurde. Dennoch wurde über die Umsetzung und Effektivität dieses Modells durchaus kontrovers diskutiert.Daß Konsens nicht Vorschrift ist, zeigte sich im Abstimmungsversuch, bei dem die Mehrheit nicht votieren wollte: "in dubio pro libertate". Liberalismus wird großgeschrieben, zumindest größer als in der Mutterpartei, die sich nach Markwardts Geschmack zu häufig unterwirft. Gerade die Jungen Liberalen dagegen gäben der F.D.P. wirklich liberale Inhalte.

Zu den liberalen Prinzipien gehöre vor allem die Bürgergesellschaft, die auf drei großen Freiheiten gründet: der Freiheit der Person, der Freiheit im Gefüge des Staates und der Freiheit der Wirtschaft. Eine Einschränkung der Freiheit ist nach den JuLis nur dort hinzunehmen, wo es eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit bedarf: "Soviel Gleichheit wie nötig, soviel Freiheit wie möglich."

Auch im vierteljährlich erscheinenden "LIVE" (Liberal vor Egal) wird die politische Grundidee der Freiheit deutlich. "Liberale können mit viel, mit sehr viel Ungleichheit leben, solange die Grundchancen der Teilnahme nicht in Frage stehen."

Ganz anders sehen das die JUSOS: "Wir wollen Politik zugunsten der Schwächeren machen", erläutert Andreas Badior, "eine formale Gleichheit ist da zu wenig, wir fordern eine reale Chancengleichheit. In unserer heutigen Gesellschaft entscheidet immer noch das Kapital über Chancen und Bildung. Nur wenn durch Umverteilung und soziale Hilfestellung jedem die Chance eingeräumt wird, beispielsweise ein Gymnasium oder die Universität zu besuchen, herrscht reale Chancengleichheit."

Die JUSOS setzen sich für die Grundwerte des demokratischen Sozialismus, das heißt für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ein. "Wir engagieren uns für ein Einwanderungsgesetz, den Ausbau des Sozialstaats, für die Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft, für Erhalt und Ausbau der Demokratie, für Frieden und Abrüstung...." erläutert uns ihr Grundsatzprogramm. Die Aktiven widmen sich zur Zeit dem Leben der Obdachlosen in Heidelberg, diese dürfen bald umsonst mit der HSB fahren.

Die JUSOS betrachten sich als linkes Korrektiv der SPD. "Die große Partei hat eher eine konservative Haltung, was sich unter anderem im Asylkompromiß zeigte", unterstreicht Badior seine linke Position. Auf kommunaler Ebene ist der Kreisverband Heidelberg seit der Kommunalwahl '94 mit einem JUSO-Stadtrat vertreten. Dort ist eine wichtige Forderung der JUSOS die schnelle Realisierung des Kulturbahnhofs sowie der Ausbau des Radwegnetzes.

Das steht im krassen Gegensatz zur Haltung der JU in diesen Fragen. Michael Parusel, Vorstandsmitglied der JU erläutert:"Wir wollen, daß der Fahrradweg am Bismarkplatz (der, der Richtung Rohrbacherstraße am Woolworth vorbeiführt) verschmälert wird, am besten ganz von der Straße getilgt wird."

Das Projekt um den Karlstorbahnhof hält die JU für Geldverschwendung, da sie glaubt, daß dieser Bahnhof in zehn Jahren wieder in seiner Bahnhofseigenschaft gebraucht würde, wenn Heidelberg in das ICE-Netz eingebunden wird. Eine Investition in ein Kulturzentrum für eine "krakeelende Minderheit" sei unbedacht und unwirtschaftlich.

Die JU ist im Gegensatz zu ihrer Mutterpartei für die doppelte Staatsbürgerschaft und fühlt sich auch den Interessen der nachfolgenden Generationen an einer intakten Umwelt stärker verpflichtet. Deshalb habe sie schon seit Mitte der 80er Jahre gefordert, den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.

Weiterhin sind die JU-Leute der Überzeugung, daß Politik auf der Grundlage christlich-traditioneller Werte nicht altmodisch, sondern bürgerlich ist. Befragt, was denn unter bürgerlich zu verstehen sei, antwortet Parusel: "Rechts, schwarz, konservativ bis liberal" (an dieser Begriffsbestimmung sollte Parusel noch ein wenig arbeiten).

Während für Michael Parusel "Politik das gemeinsame abendländische Gefühl ist, politische Fragen zu lösen und nicht aufzuwerfen", will Charlotte Lutz, Gründerin der GAJ Heidelbergs, durch ihr politisches Engagement provozieren, um überhaupt erstmal einen Meinungsbildungsprozeß anzuregen."Es ist nicht wichtig, daß die Leute unsere Meinung vertreten, ich möchte sie nur motivieren, sich überhaupt am politischen Leben zu beteiligen." Insbesondere der Jugend solle die Möglichkeit gegeben werden, ihre eigenen Probleme zu formulieren und neue Lösungsansätze zu finden.

Zur Zielsetzung der GAJ gehört die Verwirklichung einer alternativen Gesellschaft. Sich als alternativ zu kategorisieren heißt für die GAJ Heidelberg, sich der Meinungsvielfalt zu öffnen, die Perspektive zu wechseln und neue Wege zu beschreiten. Wichtig sind für sie auch mehr Mitspracherechte der Jugend: "Wir wollen uns nicht nur von Alten regieren lassen, denn schließlich geht es ja um unsere Zukunft", ist in der Info-Broschüre der GAJ zu lesen.

In Heidelbergs GAJ sind zur Zeit überwiegend Schüler tätig. Charlotte Lutz erklärt dazu, daß die GAJ für Studenten deshalb nicht so attraktiv sei, da diese ihre alternativen Interessen bereits durch die STUDI-Liste, die seit den letzten Kommunalwahlen im Heidelberger Gemeinderat vertreten ist, abgedeckt sehen.Kommunalpolitisch setzen sie sich in Heidelberg für eine Verlängerung der Sperrstunde ein, nehmen Anstoß an den schlechten Busverbindungen, wollen mehr als eine Fahrradstraße. Zur Durchsetzung dieser Ziele sind sie bereit, zu demonstrieren und Handzettel zu verteilen, gegebenenfalls auch Straßen zu sperren.

Auch für die AG JG ist Widerstand das wichtigste Mittel der politischen Handhabe. "Widerstand, friedlich oder militant, wichtig bleibt der Widerstand" zitiert Markus Jakovac, Ansprechpartner der AG JG, das Motto der Organisation. Die "AG Junge GenossInnen Rhein-Neckar" nimmt die Funktion eines Jugendverbands der PDS wahr. Sie nennen sich "Arbeitsgemeinschaft in und bei der PDS", einen Jugendparteiverband als solchen gibt es nicht.

Die AG JG hat sich zusammengeschlossen, um die PDS auf ihrem Weg zu einer linken und radikaldemokratischen Partei, zu einer linken Gegenkraft gegen neokonservative Reformen, kritisch zu begleiten. Kritikpunkt an der PDS sei, daß sich manche Genossen zu sehr vom Machtkalkül leiten ließen. So würden sie sich an der Regierungsbildung beteiligen wollen, obwohl sie im Wahlkampf vehement den Anspruch erhoben, eine "konsequente Oppositionspartei", d.h. eine Opposition außerhalb des bestehenden Regierungssystems, zu sein. Markus Jakovac sieht für seine AG große Chancen der Einflußnahme auf die PDS, da diese noch kein "festgefahrenes Denken", kein "Schema F", zur Lösung von politischen Problemen besitze, und daher für jede Anregung zu haben sei. Die AG JG ist eher auf Bundespolitik als auf Kommunalpolitik ausgerichtet, ein kommunalpolitisches Konzept besteht nicht. Großes Ziel bleibt für die AG JG der Sozialismus als Weg zum Kommunismus, ihr jüngstes Ziel ist, den 8. Mai zum Feiertag zu erheben.

Eines haben die Verbände gemeinsam: Sie hoffen auf mehr Beteiligung in ihren Verbänden.Werden sie im neuen Semester vergebens auf neue Mitstreiter warten müssen? Oder gilt für sie Nietzsches Diktum: "Sie sind von vorgestern und von übermorgen - sie haben noch kein Heute." (lm)

Politische Meetings
GAJ: Do. 14-tägl. (18.5.), 19.00, Schwarzer Peter. Kontakt: Charlotte, 161815.
JU: 1. Mi. im Monat (8.6.), 20.00, Gastronomie HBF. Kontakt: Michael, 06224-55298.
JUSOS: jeden Do., Am Fischmarkt 3, 19.30. Kontakt: Andreas, 20996.
JULIS: 3. Mi. im Monat (17.5.), 20.00, Im Essighaus. Kontakt: Karsten, 471747.
AG JG: Do. 14-tägl. (25.5.), 20.00, Griechische Taverne. Kontakt: Markus, 782820.


Heidelberger Profile

"Ihr Mann in Bonn"

Seit einem halben Jahr in Bonn: Der CDU-Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers

Der Bundestagsabgeordnete Dr. Lamers im Bonner Büro: Zwar stapeln sich die Akten auf dem Schreibtisch. Zum eingehenden Studium, geschweige denn Nachdenken, bleibt aber kaum Zeit. Informationen und Ideen zur Politik fehlen als Grundlage für eine konstruktive Diskussion. Inhalte stören die Funktionalität.

Plenarsaal, Bonn. Unmotiviert hängt er zwischen den Stuhllehnen. Am Rednerpult steht die Umweltministerin Merkel und langweilt mit ihrer Rede zum Klimagipfel die Runde. Sein Gesichtsausdruck bleibt unbeteiligt, müde folgen seine Beifallskundgebungen der Applausordnung, und ab und zu wendet sich sein Blick in Richtung Regierungsbank. Dr. Karl A. Lamers - Parlamentarier für Heidelberg in Bonn.
Leben kommt in die Szene. Verteidigungsminister Rühe betritt den Plenarsaal und legt sich in den Stuhl neben Kohl. Lamers registriert Rühes Anwesenheit und wird in eigener Sache tätig. Er verläßt die Plenardebatte, um einen Fototermin mit dem Verteidigungsminister für die Presse aus dem Wahlkreis zu arrangieren. Dr. Karl A. Lamers - Selbstdarsteller aus Heidelberg in Bonn.

Wie ein roter Faden zieht sich ein Prinzip durch seine erstaunliche politische Karriere: Sehen und gesehen werden. Lamers plazierte sich auffällig oft auf solchen Posten, die vor allem dafür gut waren, seinen Bekanntheitsgrad zu steigern.
So war es ein wichtiger Coup für den aufstrebenden Politiker, das Persönliche Büro des Landtagspräsidenten von Baden-Württemberg zu leiten; nach Ansicht von Insidern der Parteipolitik ist dieser Job das ideale Sprungbrett nach oben. Von diesem Zentrum der Repräsentanz aus konnte Lamers seine solide Hausmacht aufbauen - und die ist für eine starke Stellung in Bonn unerläßlich.
Seit einem guten halben Jahr nun ist Lamers per Direktmandat in Bonn. Von seinem Büro im "Langen Eugen" fällt der Blick hinunter auf Bonn. "Raumschiff Bonn", kommt da in den Sinn. "Nein. Ich bin unter den Bürgern", hält der Bundestagsabgeordnete dagegen, "von Politikverdrossenheit spüre ich nichts." Er sitzt am Schreibtisch. Sein Bauch wölbt sich unter dem weißen Hemd mit blaugrünem Schlips über den Gürtel. Er fährt sich durch die schwarzen, gescheitelten Haare; seine goldene Brille hüpft nervös auf der Nase herum. "Ich gehe um 2.00 Uhr ins Bett und stehe um 6.00 Uhr wieder auf. Ich will etwas bewirken. Das ist mein persönlicher Einsatz, kein Zwang!", prahlt der Junggeselle, und: "Es ist ein tolles Gefühl, den Menschen zu helfen."

Um "zu helfen", ist der Junggeselle in seinem Wahlkreis allgegenwärtig. Kaum lassen ihn die Bonner Verpflichtungen los, tourt er im Wahlkreis Heidelberg-Schwetzingen von einem Termin zum anderen: Frühschoppen des Gesangvereins, Grußwort beim Sportverein, Jahresfeier der Polizei. Lamers zeigt sich überall, bleibt aber nirgends.
Die Gespräche können in der Kürze seiner Anwesenheit gar nicht bis zu dem Punkt gelangen, an dem er die wirklichen Bedürfnisse der Bürger erkennen könnte, geschweige denn sie hinterfragen. So endet seine Hilfe für die Bürger in populistischem Aktionismus. "Die Stadt Heidelberg braucht ein Stadtschild, auf dem `Universitätsstadt Heidelberg´ steht."

Dennoch, die Menschen haben ihn gewählt und mögen ihn, zumindest die Seinen. Seine ehrlich gemeinte offenherzige und herzliche Art machen den Kontakt einfach. Aus dem Bundestagsabgeordneten Dr. Lamers wird schnell der "Karl", der einen in den Arm nimmt und ein nettes Wort übrig hat. Im Umgang mit Menschen ist Lamers ein Naturtalent, auch wenn er für politisch Andersdenkende oft "überhaupt kein Verständis" hat.
Seine Omnipräsenz weiß er zu nutzen. Journalisten wissen ein Lied davon zu singen, daß Lamers nicht vom Bild runterzukriegen ist. Auf jedem Foto plaziert er sich geschickt in der Bildmitte, so daß er nicht aus dem Zeitungsbild herausgeschnitten werden kann. Punktsiege erzielt er auch durch sein taktisches Gespür für politisch profitable Situationen. Diese vermag er aus dem Stehgreif für sich zu nutzen.

Als Scharping in einer verteidigungspolitschen Besprechung sich in eine sensible Position hineinargumentierte, kontert der promovierte Jurist mit einem scharfen und überspitzten Argument: "Wenn Sie, Herr Scharping, dieses rüstungspolitische Projekt nicht unterstützen, gehen zahlreiche Arbeitsplätze verloren." Bei den anwesenden Gewerkschaftern der DASA machte das Eindruck. Daß Rüstungspolitik nichts mit Arbeitsplätzen zu tun haben darf, kommt dem Taktiker Lamers dabei nicht in den Sinn.
Die Erinnerung an die Begebenheit läßt ihn in Fahrt kommen. "Da habe ich", freut er sich, "dem Scharping voll eine reingegeben!" Zwar war sein Statement zur Rüstungspolitik so knapp wie kurzsichtig. Aber es erfüllt seinen Zweck: Der Bonner Neuling hat sich profiliert. Das unsinnige Stammtisch-Statement wird bald vergessen sein - sein Name aber bleibt hängen.

Doch die Allgegenwart des Abgeordneten fordert ihren Tribut. Kenner der Bonner Szene warnen vor dem Verlust an inhaltlich-politischem Niveau. "Hier hat keiner mehr Zeit zum Nachdenken", so ein langjähriger Mitarbeiter im Bundestagsbetrieb.
Es gehört zum Regelfall, daß sich an einem Tag 7 Termine ansam-meln. Da bleibt keine Zeit für gründliche Vorbereitung und politische Reflexion. So kommt es, daß Lamers sich bei einem bildungspolitischen Essen, an dem er, wegen anderer Termine, ohnehin nur zur Hälfte teilnehmen kann, bei den Vertretern aus dem Bildungssektor erkundigt, "Wieviel Geld brauchen Sie?" Die Frage entlarvte das fehlende Aktenstudium.
Aber der Politiker Lamers hatte sich zu Wort gemeldet, sein Name war gefallen. Anschließend konnte er getrost die Besprechung verlassen. Den Menschen im Wahlkreis kann er die nichtssagende Zusammenkunft später als "anregendes Gespräch" verkaufen.

Die Selbstdarstellung gelingt, die Inhalte aber verlieren sich. Der im Wahlkampf gegen Lamers unterlegene Lothar Binding von der SPD fügt hinzu, daß "mit Lamers eine Diskussion gar nicht möglich war. Ihm fehlten die Hintergrundinformationen und Visionen." Und das, obwohl Raban von der Malsburg, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der CDU im Heidelberger Stadtrat, dem Außenpolitiker Lamers "Interesse an den großen Linien" attestiert, also an dem, was viel Reflexion verlangt.
Politisches Profil sucht der am Max-Planck-Insitut für ausländisches öffentliches Recht in Heidelberg promovierte Jurist vornehmlich in der Bildungs- und Außenpolitik. Seit drei Jahren ist er Landesvorsitzender des Landesfachausschusses Außen-, Europa- und Entwicklungspolitik der CDU Baden-Württemberg. Seine außenpolitischen Studien führen ihn zu Aussagen, wie: "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns gegen die Scud-Raketen schützen. Die größte Herausforderung, die sich uns derzeit stellt ist der unsere Kultur bedrohende islamische Fundamentalismus", oder: "Es ist peinlich, wenn wir uns von den Russen Flugzeuge mieten müssen." Der Marktwert dieser Aussagen ist unzweifelhaft hoch, doch zur Problemlösung sind sie schlicht ungeeignet.
In dieser Rolle als "außenpolitischer Experte" gelang dem 44-Jährigen sein bislang herausragendster Karrieresprung. Er ist auf Anhieb Vollmitglied im "Zukunftsausschuß" und im Verteidigungsausschuß geworden und zudem Vorsitzender der Berichterstattergruppe für die zukünftige Luftverteidigung. Andere Abgeordnete warten Jahre vergeblich auf diese Posten. "Lamers war Rühe und anderen in Bonn bekannt", geben Mitarbeiter aus dem Bonner Büro als Grund für die steile Karriere an.
Die Rechnung geht auf. Bekannt sein ist wichtiger, als durchdachte Inhalte zu liefern. "Als Stadtrat hat Lamers in den 6 Jahren, die ich ihm gegenüber sitze, ganze 5 Wortbeiträge abgegeben", so Binding - aber den Heidelbergern kann Lamers sich als bürgernaher Stadtrat verkaufen.

Sitzungssaal, Bonn. Er sitzt am Kopfende des Tisches und leitet eine Sitzung in seiner Funktion als Ausschußmitglied. Unbeteiligter Gesichtsausdruck, und doch herrscht Unruhe in seinen Gesichtszügen. Die Augenlider zucken, seine Lippen bewegen sich. Innerlich ist er ständig am agieren.
Die Sitzung bietet ihm Profilierungsmöglichkeiten. Er ergreift das Wort. Sein standardisiertes Statement bewegt sich auf dem Schlagzeilen-Niveau einer bescheidenen Wahlkampfbroschüre.
Seine Art zu denken und zu reden, paßt genau in ein System, das nirgends weitergehende Gedanken fordert. Je banaler ein Gedanke, umso "erfolgreicher" wird er. Dr. Karl A. Lamers: eine Politikkarriere, die vor allem eines zeigt - die Banalität der Politik. (h.b.)


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