Heidelberg


Im Bauch der Bühne

Die Theaterwerkstätten des Heidelberger Theaters

Das Theater als reine Stätte hehrer Kunst ist eine Fiktion. Die "heiligen Hallen" sind in Wahrheit eine riesige Baustelle, auf der im Schichtdienst gearbeitet wird. Gut vierzig Menschen (im Bild Hans Fischer) sorgen hinter der Bühne dafür, daß die auf der Bühne überhaupt da stehen können, wo sie stehen. Die Arbeiter und Techniker kümmern sich um die Hardware des Kulturbetriebs: Schlosserei, Schreinerei, Schneiderei, Requisite, Bühnentechnik, Licht und Ton. Vom Acht-Stunden-Tag können sie dabei nur träumen;bei Premieren im Takt von 14 Tagen wird oft auch die Nacht durchgearbeitet.

Diesen Raum, was sage ich: diese Hallen, betritt man üblicherweise festlich gekleidet, leise lachend und in fröhlicher Erwartung; mit netter Begleitung und der Aussicht auf einen angenehmen Abend. Theaterbesuch.

Heute nicht: Die Bühne sieht aus, als hätten sich zwei T-Rexe duelliert. Männer in Overalls laufen mit Werkzeugkästen und Trennschleifern über den abgewetzten Holzboden, sägen, hämmern, meißeln, richten für die Vorstellung. Hier, im Bauch des Theaters, geht das vonstatten, was wahre Schöngeister meist unangenehm berührt verdrängen oder hochnäsig belächeln: Knochenarbeit, Feinmechanik, detaillierte Pläne voll von mathematischem Teufelszeug.

Inmitten der verwaisten Stuhlreihen steht ein verlassenes Regiepult mit einem Mikrofon, das aussieht, als stammte es noch aus der Nachkriegszeit. Auch die diffus-trübliche Beleuchtung des Zuschauerrraums durch die unmodernen Kohlefaser-Glühbirnen, sonst Stimulans romantischer Stimmung, wirkt fehl am Platz, besonders neben den volle Pulle strahlenden Scheinwerfern und den grellen Handlampen der Bühnenarbeiter.

"Das ist halt das Familiäre hier am Heidelberger Theater", sagt Hans Fischer, seit 1952 an der Bühne angestellt und mittlerweile im "verdienten Unruhestand" - so umschreibt er kokett seine Unfähigkeit, sich ganz von den Brettern loszureißen, die für ihn mittlerweile tatsächlich die Welt geworden sind. Der Mann mit den vielen Ex-Funktionen - Fundusverwaltung, Hausinspektor, Personalratsvorsitzender, und nebenbei Ehrenmitglied des Hauses - befriedigt seine Theater-Sucht, indem er interessierte Menschen durch das Innenleben der Städtischen Bühne führt; durch die riesige Maschinerie, die dem Zuschauer im Allgemeinen verborgen bleibt. Mit seiner Trachtenjacke, der streng gescheitelten Frisur und dem weißen Einstecktüchlein sieht der Mann, der demnächst seinen 25.000sten Besucher führt, denn auch wirklich nicht aus wie ein typischer Künstler; eher steht er für die vierzig Menschen, die buchstäblich "hinter den Kulissen" dafür sorgen, daß alles so hinhaut, wie es soll.

Quasimodo als Lustgewinn: Herzstück des Theaters ist, natürlich, die Bühne. Jetzt, am hellichten Arbeitstag, macht sie mit ihren gut zwanzig Metern Höhe den Eindruck einer kleinen Schiffswerft; riesige Zugsysteme laufen an Wänden und Decken entlang, Kulissenteile stehen im Weg herum, Unmengen von Steckern und Kabeln überall. Für die Aufführung haben die Bühnentechniker ein penibel ausgearbeitetes Skript, in dem drinsteht, wann genau welches Seil über welche Rolle zu laufen hat, und welche Holzwand wohin befördert werden muß, damit nicht plötzlich der jugendliche Held von einem Kulissenteil erschlagen wird. Orientiert wird sich dabei nicht etwa nach "rechts" und "links", sondern, da ist man lokalpatriotisch, nach "Neckarseite" und "Schloßseite". Kontrolliert w erden Aufstieg und Fall der Seilzüge vom Inspizientenpult aus, an dem sich alle Flaschenzüge, Seilwinden und sonstigen mechanischen Ungeheuer ein Stelldichein geben. Richtig Spaß machen natürlich die Extras, wie der Korb, an dem in der "Zauberflöte" drei Kinder von oben auf die Bühne herabgelassen werden. Die Bühnenarbeiter haben jeden Tag volles Programm: morgens Abbau der Bühne vom Abend und Aufbau der Probebühne, dann Probe bis um drei Uhr, danach wieder Abbau der Probebühne und Aufbau der Spielbühne für die Abendaufführung.

In der Maskenabteilung und im Schminkraum zwei Stockwerke höher hängen an der Wand noch die zotteligen Mähnen von der "Macbeth"-Aufführung. An Häken versammelt die gesamte Bandbreite menschlicher Frisierkunst: Mozart-Zöpfe, wallende gepuderte Perücken, Army-Schnitt. Auf dem Frisiertisch vor den großen, durchgängigen Spiegeln Bürsten, Watte, Schminke, Toilettenpapier, ein Wecker, Stecknadeln, leere Flaschen. Die Haare der Perücken werden einzeln in den feinen Tüll eingeknüpft; die Arbeit an einer Perücke dauert zwischen acht und sechzig Stunden und ist diffizil und nervig. Jede Menge lachen dagegen können die Maskenbildner, wenn sie sich mal so richtig austoben dürfen: Ein Quasimodo beispielsweise verspricht da enormen Lustgewinn: Zuerst einmal ein Auge mit weißem Tüll überkleben, dann wenige Zentimeter darunter ein neues Auge malen, sodaß der Blick merkwürdig schräg und verschoben wirkt. Dann noch zwei Zähne weggeschminkt und den Mund mit dem Allzweckmittel Matrix, einer Art Harz, schief geklebt - fertig ist der unsympathische Zeitgenosse. Beliebt bei den Maskenbildnern sind auch die Stücke, in denen Köpfe rollen. Man nehme den Gipsabdruck des zukünftig kopflosen Schauspielers und fertige danach einen neuen Kopf mit identischem Gesicht. Damit kann man leicht ein erschrockenes Stöhnen des Publikums ernten, wenn etwa der grausamen Königin "Salome" der Kopf des Täufer-Johannes auf einem silbernen Tablett präsentiert wird, wo doch vor wenigen Minuten der Schauspieler noch gänzlich unzerteilt auf der Bühne zu sehen war. Für die Spieler wirklich unangenehm wird es aber erst nach der Aufführung: Mit einer Mischung aus Vaseline, Spiritus und Kreppapier wird die Schminke mühsam abgerubbelt - NIVEA-Hersteller bekämen einen Schreikrampf...

Fast gleich nebenan, im Malersaal, herrscht die gleiche aus Kreativität, Zeitdruck und Routine gemischte Stimmung. Eine Frau stapft barfuß auf einer Leinwand herum und bestreicht sie mittels eines überdimensionalen Pinsels mit Farbe - am Ende wird dabei der detailgetreue Übertrag eines 40x60 cm Gemäldes auf eine Leinwand vom Format 4x6 Meter stehen. Alles, was von der Schreinerei an Kulissen hier angeliefert wird, bekommt erstmal einen Anstrich. Dazu wird die Kulisse grundiert und in Raster aufgeteilt, die dann nacheinander ausgemalt werden.

Das Ende künstlerischer Freiheit: Drei Personen sind in der Malerei angestellt, und auch wenn Kunstakademie so gut wie Voraussetzung ist, sind doch andere Dinge gefordert als genial-abgehobenes Pinselschwingen. Dafür sorgen allein schon die Dimensionen der Arbeiten, aber auch die Spezialwünsche von Autor und Regisseur. Soll beispielsweise eine Mauer alt sein, dann wird sie nicht einfach nur grau gemalt anstatt rot. Nein, da muß dann einer der Tricks ran, die für die praktische Arbeit wichtiger sind als jeder Abschluß. Die Styropormauer wird mit Nitro ausgeätzt und dann erst übermalt; den Rest besorgt dann ein erfahrener Beleuchter.

Durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen erreichen wir schließlich noch Schreinerei und Schlosserei. Jeweils zwei Arbeiter sind hier mit hobeln, leimen, schweißen und hämmern beschäftigt. Sie produzieren die richtig großen Klötze; die Rohformen der Kulissen, welche der künstlichen Welt des jeweiligen Theaterstücks die Form geben.

Wie diese Welt auszusehen hat, bestimmt der Regisseur, unumschränkter Herrscher einer Inszenierung. Er hat bestimmte Vorstellungen, die er mit Bühnen- und Maskenbildner bespricht. Nach Entwürfen wird daraufhin ein Bühnenmodell im Maßstab 1:20 gebaut, an dem schon einmal Praktibilität und Realisierung der Ideen geprobt werden. Hier endet dann die künstlerische Freiheit, in Dutzenden von Plänen wird jedes Detail festgehalten; "da muß alles akkurat stimmen wie beim Architekten", meint Hans Fischer. Und am Ende kann's trotzdem passieren, daß dem Regisseur eine fertige Kulisse nicht so recht zusagt und alles noch mal neu gemacht werden muß.

Die Kostüme fertigt die Schneiderei des Heidelberger Theaters zu 90 Prozent selbst. Die inzwischen gut 50.000 Verkleidungen werden, nach Zeitabschnitten (Antike, Klassik, Rokoko, etc.) sortiert, im Magazin aufbewahrt. Auch hier wird mit Tricks geschafft: Das Hemd des Rokoko-Kostüms ist nur ein vergrößertes Lätzchen; der Teil, der eh von der mit Ornamenten reich verzierten Jacke verdeckt wird, wurde einfach weggelassen. Dafür wurden an die Ärmel der Jacke Manschetten genäht, so daß es aussieht, als wären es Hemdsärmel. Die Knöpfe sehen schwer aus und solid, sind aber Druckknöpfe; wenn's mal schnell gehen muß beim Kostümwechsel, genügt ein kräftiger Ruck von unten nach oben, und das lästige Knöpfen hat sich erledigt. "Richtige Kostbarkeiten gibt's hier", erzählt Hans Fischer, und zeigt stolz ein 120 Jahre altes Mozart-Kostüm. Bei derart angejahrten Kleidungsstücken werden oft die sogenannten Posamente, die Verzierungen, abgetrennt und auf einen neueren, widerstandsfähigeren Stoff aufgenäht.

Fußballspiel am Lichtregler: Mit den Kostümen ist die gespielte Welt dann fast perfekt - doch ein Riesenposten steht noch aus, der das Gesicht der Bühne verändern kann wie kein zweiter: Hinter der Tür mit der unscheinbaren Aufschrift "Balkon 43-96", ein ehemals lauschiges Plätzchen für das verliebte Publikum, sitzen die Herren über Licht und Ton in einem engen Kabuff, starren den 40-Grad-Winkel hinab auf die Bühne und spielen mit den Knöpfen. Jetzt, am Vormittag, ist alles ruhig bis auf das vertrauenerweckende Summen des Grundstroms in der schalldichten Kammer. Zahlreiche Schalttafeln, Regler, Mischpulte und Monitore an den Wänden - "einer davon fürs Fußballänderspiel", verrät Hans Fischer augenzwinkernd, "die Jungs sind so ausgebufft, die können da mit einem Auge hinschauen." Auf Regalen Konserven mit Donnergeräuschen, Fahradgeklingel oder schrillem Frauengekreisch. Auch hier läuft nichts mehr ohne moderne Technik: Auf das Stichwort genau kommt die entsprechende Beleuchtung - computergestützt. Die 150 Scheinwerfer müssen für jede Inszenierung neu "eingeleuchtet" werden, Licht und Ton untereinander und mit dem Bühnengeschehen perfekt harmonieren.

Zum Schluß geht es noch einmal ganz tief runter: in die Unterbühne, wo die zwei Senkbühnen notfalls noch per Handbetrieb hochgefahren werden können und sich der Proberaum für das Orchester befindet. "Ist natürlich alles nicht so modern und toll wie am Staatstheater, aber dafür gemütlich", kommentiert Hans Fischer mit trotzigem Stolz die Heidelberger Technik. "Aber dafür ist das hier fast ein Familienbetrieb, jeder kennt jeden", fährt er mit Begeisterung fort.

Wirklich modern ist dagegen das gläserne Foyer, in dem der Rundgang durch die Innereien endet. Hier kennt sich der Besucher endlich wieder aus, auch wenn gerade keine geschmückten Premierengäste über die mattgrauen Fliesen flanieren, sondern Putzfrauen ihre Schrubber hin- und herschieben. Was man alles braucht, um ein Stück auch wirklich auf die Bühne zu bringen, haben wir jetzt gesehen, und irgendwie nötigt es Respekt ab. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß man auch als Zuschauer mit einem etwas anderen Gefühl ins Theater geht. Wie schon Hans Fischer sagt: "Ins Kino gehst Du einfach so. Zum Theater gehört eine gewisse Vorbereitung." (kw)


Heidelberger Profile:

"Krüppel sind auch schön"

Die Choreographin Liz King schockiert und begeistert

Ich bin eine Vertreterin des Nomadendaseins", stellt die Engländerin fest, "Abwechslung ist wichtig für meinen Geist." So ist sie immer weiter gezogen: Von England nach Deutschland, dann nach Belgien, nach Wien - und nun ist sie seit sechs Jahren in Heidelberg als Choreographin des Stadttheaters. Liz King ist erstaunt, wie eingefahren, langweilig und konservativ diese Universitätsstadt ist, wie wenig Bewegung die 30.000 Studierenden hier reinbringen. "Es ist keine Freude da." Die vitale Frau ist aber keine Schwarzmalerin: Primär sei sie dankbar, hier tätig sein zu können und gute Mitarbeiter gefunden zu haben.

Nicht alle sind darüber dankbar. Der Stadtrat von der Malsburg etwa erklärte letztes Jahr bei einer Podiumskiskussion, er könne die Subventionierung dieses Balletts nicht gutheißen: Bei der neuesten Premiere habe er rein nichts verstanden. Liz King versteht ihn: "Er hat Angst vor dem Nicht-Verstehen. Das ist wie die Angst vor dem Fremden, etwas, das nicht in seinen Lebenskreis paßt." Denn das steht für die Choreographin im Zentrum ihrer Arbeit: das Fremde. Ob in "Knacks", "WestWest", "Wien - du bist allein" oder in ihrem neuesten Werk "Der Leser, das Tier und die Bucklige", überall herrscht die Fremde - die Kälte, die sie mit sich bringt, und das Faszinierende. Da sieht man plötzlich Kafkas Visionen auf der Bühne. In "Der Leser, das Tier und die Bucklige" hat sie das ganz bewußt arrangiert. Zwischen den endlosen Bücherregalen verkriecht sich "Der Leser" hinter seinem Geschriebenen: "Wie Kafka, der in einer Papierwelt lebte."

Das Fremde thematisiert Liz King nicht nur deshalb immer wieder, weil sie es selbst so oft erlebt hat. Ihre Stücke haben auch gesellschaftskritische Momente: Die Fremden in ihren Choreographien werden oft abgelehnt, kämpfen, sind machtlos. Zwar ist sie nicht der Ansicht, ein Künstler müsse um jeden Preis politisch sein. Doch für sie selbst ist es wichtig, sich mit unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, wobei sie sich jedoch klar vom politischen Theater distanziert. Nicht mit der Holzhammermethode will sie ihr Publikum überzeugen, erklärt Liz King, sondern "bewußt das Publikum im Unbewußten ergreifen".

Dafür hat die Choreographin ein unerschöpfliches Repertoire an Mitteln, wobei ihr wohl der weite Nomaden-Horizont behilflich ist. Etwa in dem Stück "Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar..." verarbeitet sie eine New Yorker Plastik des französischen Künstlers Duchamp. Ihr Tanz reduziert sich nicht auf einen Stil, sie verwendet moderne, modernste und klassische Elemente. Ebenso hält sie es mit der Musik. Einmal gar läßt sie einen leibhaftigen Hund über die Bühne laufen. Und so wirken ihre Stücke skurril, schillernd, eigenwillig und - fremd. Das irritiert manchmal die Heidelberger Zuschauer. Sie kommen hier mit ihren Interpretationsmustern nicht weiter. Liz King hat das schon oft beobachtet. Bei den Deutschen müsse immer alles logisch sein, bemerkt sie, und sobald die Interpretation nicht mehr eins zu eins aufgehe, bezeichneten sie eine Kunst als weltfremd, die in andern Kulturen als bodenständig gelte. So sei eines ihrer Stücke in Ungarn für Soldaten aufgeführt worden. Die ausverkaufte Vorstellung sei ein großartiger Erfolg gewesen, das mannhafte Publikum habe vor Begeisterung getobt und sei danach hinter die Bühne gekommen... Dennoch liegen ihre Probleme weniger beim Publikum. Eine Gratis-Vorstellung im Stadttheater, in der eines ihrer Stücke aufgeführt wurde, ist bis zum letzten Platz mit einer sehr heterogenen Zuschauerschaft besetzt gewesen: An Zuschauern, davon ist sie überzeugt, fehle es also nicht. Der Fehler liege vielmehr bei der Führung des Theaters. "Das Theater hier ist verbarrikadiert", beschwert sie sich. Die Glastüren im Eingang des Theaters seien meist verschlossen, es gebe kein Café, und so sei die Bühne völlig isoliert: "Das Theater impliziert hier nicht die Straße."

Das widerspricht der Konzeption ihrer Arbeit: nicht abgeschottet, abgehoben, verkopft will sie sein, sondern lebensnah, freudig, schön und vor allem sinnlich. Auch in sehr schweren, kritischen und unheilsschwangeren Stücken wie "WestWest" ist die Sinnlichkeit oft zu sehen, noch öfters zu fühlen. Die häßlichen Gestalten, die immer wieder auftreten, sieht sie nicht als Gegensatz. Für sie sind sie genauso ein Teil der Welt und haben ihre eigene Ästhetik. Liz King ist trotz ihres gesellschaftskritischen Anspruches keine Ideologin und Weltverbesserin. Sie will nur ihren Beitrag zum Tanz geben. "Tanz ist für mich die schönste Form der Verständigung." Und so traut sie dem Tanz zu, was sie für sich selbst nicht in Anspruch nimmt: die Weltverbesserung. Überall in der Welt werde getanzt und so sei der Tanz ein "Netzwerk von Verständnis". Liz King bleibt deshalb optimistisch, trotz der Gefahren, die sie in unserer Gesellschaftsordnung sieht.

Eine Hauptgefahr ist für sie der träge, unersättliche Wohlstand, den sie oft in ihrem Ballett anklagt. Ihm gibt sie auch die Schuld an der erschreckenden Passivität der jungen Generation. Nicht den jungen Menschen habe man diese Trägheit zu verdanken. Die Ursache liege in der vorigen Generation: Die hätten diesen Wohlstand erarbeitet, der nun für die Jugend zur Norm geworden sei. Und das ihrer Ansicht nach verheerende Bildungssystem gebe der neuen Generation keine Chance.

Liz King hat für die Jugend wohl auch deshalb so viel Verständnis, weil sie selbst Mutter ist. Daß diese Tatsache in ihrem Leben eine dominierende Rolle spielt, spürt man sofort, wenn sie darauf zu sprechen kommt. "Mutter zu sein bedeutet mir außerordentlich viel", meint sie bewegt. Für sie ist das kein Gegensatz zu ihrem Beruf. Zwar ist Liz King alles andere als der klassische Karriere-Typ, aber ihr Beruf darf nicht zu kurz kommen. Um ihren künstlerischen Anforderungen gerecht zu werden, bringt sie einen hohen Einsatz. Nicht zuletzt der Intendant des Stadttheaters, Peter Stolzenberg, bekam es immer wieder zu spüren, daß sie trotz ihrer freundlichen und offenen Art eine sehr kämpferische Frau ist. Oft leidet sie darunter, von Subventionen abhängig zu sein, die zu Kompromissen zwingen. "Zuletzt habe ich aber doch immer das gemacht, was ich will", erklärt sie mit einem Lächeln. Zum Glück. Nicht nur für sie, sondern auch für das Heidelberger Ballett. (hee)


Zu weit zum Freibad

Ein Bad im Neckar - Erfrischung oder Ausschlag?

In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich

Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.

- Friedrich Hölderlin, 1. Strophe aus "Der Neckar"

Goethe hat's getan, Mark Twain auch, und beide wären wohl nverständig geblieben, hätte man ihnen gesagt, daß es eines Tages verboten werden sollte. Charles Bukowski wollte es tun, hing dann aber stattdessen betrunken auf dem Schloß rum; hypnotisiert vom großen Weinfaß, in dem er am liebsten ersoffen wäre. Friedeman Ries steht also in einer großen Tradition, wenn er an warmen Tagen die wenigen Meter von seiner Wohnung hinunter an den Neckar schreitet. In kurzer Hose steht er dann gespannt am Ufer, ein letzter Blick nach rechts, nach links. Kein Flußschiffer naht. Na denn los!

Friedeman durchschwimmt den Neckar, einmal die knapp 200 Meter zum anderen Ufer und wieder zurück, danach geht's unter die Dusche. Baden im Neckar, einem großen, deutschen Fluß im Jahre 1995. Geht das? "Ich schwimme halt gern in offenen Gewässern; zum Freibad ist es mir zu weit", sagt der Anglistik-Student sorglos. Stirnrunzelnd erkundigen sich Skeptiker nach Ausschlägen, Pessimisten sichten seltsamen Haarbewuchs, und die Zyniker fragen, warum der Typ eigentlich so strahle. "Ach was", meint Friedeman, "das Gefährlichste sind die Ruderer in ihren flachen Booten, die man nicht sieht. Ansonsten riecht der Fluß nach Fluß und stinkt nicht."

Tatsächlich hat sich die Gewässergüte des Neckars in den letzten fünfzehn Jahren durch die verstärkte Klärung von Abwässern verbessert. Während in den sechziger Jahren 70 Prozent des Flusses als "übermäßig verschmutzt" eingestuft wurden - d.h. der Fluß faulte wegen Sauerstoffmangels und Fische fehlten gänzlich -, so gilt er heute als "mäßig bis kritisch", im Raum Heidelberg gar als "kritisch belastet": eine bedenkliche Belastung mit sauerstoffzehrenden Stoffen, Fischsterben ist möglich und Algen wachsen im Übermaß.

Aufgrund dieser "Entlastung" ist das Baden im Neckar offiziell wieder erlaubt, jedoch nicht empfohlen. "Machen Se bloß den Mund zu!", sagt der Herr vom Gesundheitsamt und beschwört das Rest-Risiko für Neckarschwimmer, "sonst schlucke Se am End' noch ne Portion Sedimente", jene Schlammpartikel auf dem Grunde des Flusses, in denen sich Schadstoffe ablagern. Diese werden durch die Binnenschiffe aufgewirbelt - der Neckar ist nur zwei bis drei Meter tief - und geben dem Fluß seine grünlich-braune Färbung; sie wandern dann langsam in den Rhein und in die Nordsee, was man als "Selbstreinigung" des Flusses bezeichnet. Vor allem Schwermetalle wie Cadmium, Zink und Blei bleiben in den Sedimenten zurück und können bei übermäßiger "Einnahme" zu Vergiftungen führen.

Im Gegensatz zum nördlichen Rhein-Zufluß Main aber, wo Schwimmer bestenfalls Selbstmörder sind, die in Frankfurt unter der Rubrik Selbst-Enthäuter geführt werden, "stellt das Wasser des Neckars für die Haut eigentlich keine Gefahr dar", so das Amt für Umweltschutz; was unangenehm bleibe, seien die Abwässer der Binnenschiffer, die noch ungeklärt von Bord gelassen werden dürften. Also Abstand halten von den Kähnen, Friedeman.

Wird man nun, wenn es warm es ist, die Massen bei den Neckarwiesen planschen sehen, wo es einen DLRG-Hochsitz mit Dusche gibt? Wohl kaum, trotz des sauberer gewordenen Wassers; denn nicht gerade vertrauenserweckend bleibt für die meisten der gar undurchsichtige Fluß. Friedeman aber will sich noch diesen Sommer wagemutig von der Karlsbrücke in den Neckar stürzen, woran dann auch Mark Twain seine Freude hätte. Und wir freuen uns mit, weil es noch Typen zu geben scheint, die tun, wozu es sie drängt. (phil)


Serie: Heidelberger Ecken

Nächster Halt Bergfriedhof". Diesen Satz werden wohl die meisten treuen Kunden der Linie 3 und 4 noch in den Ohren haben. Genauso viele werden ihn aber wohl auch nur als unangenehme Unterbrechung ihres allmorgendlichen Nickerchens von und zur Uni wahrnehmen. Sie sollten einmal die Straßenbahn Morpheus Armen überlassen und sich das heute 18ha messende Areal näher ansehen, widerspricht es doch dem typischen Bild des Standard-Friedhofes. 1844 wurde er weit vor den Toren Heidelbergs angelegt, nachdem die alten Kirch- und Friedhöfe an der Friedrich-Ebert-Anlage der Eisenbahn weichen mußten. Anders als diese konfessionell geprägten, fanden auf ihm von Anfang an alle Religionen ihren Platz. Mehrfach vergrößert, auch durch das 1891 erbaute Krematorium, nach Gotha das zweitälteste Deutschlands, reicht er heute aus seiner ursprünglichen Hanglage bis in die Ebene an die Rohrbacher Straße heran. Nicht nur die wohl größte Professoren-Dichte des Landes, auch die Namen einiger hier begrabener Heidelberger verdient einen Besuch. So finden sich unter anderem der erste Reichspräsident Friedrich Ebert, der Germanist Friedrich Gundolf, der Chemiker Robert Wilhelm Bunsen, der Dirigent Wilhelm Furtwängler oder der Jurist und Philosoph Gustav Radbruch. Wer aber einfach nur den Ort und seine Ruhe genießen will, dem sei noch der jüdische Teil des Friedhofes nahegelegt. Alte Baumbestände und viel wilder Efeu nehmen dem Ort die sonst typisch depressive Atmosphäre. (bw)


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