Meinung


point&counterpoint: Autofreie Innenstädte - eine Maßnahme zur Schadstoffreduktion?

Steigende Abgasbelastungen in Form von Benzol und Ozon führen vor allem in Heidelberg zu scharfen Auseinandersetzungen. Das "Bürgerforum Verkehr" versucht seit Herbst 1994, vor Gericht verkehrberuhigende Maßnahmen einzuklagen. Der Einzelhandel wehrt sich gegen die seiner Meinung nach sinnlosen und wirtschaftsschädigenden Verkehrsbeschränkungen.

Ja

Jürgen Frenke

Bürgerforum Verkehr

Bei dieser Frage müßte es erst einmal verwundern, daß sie überhaupt gestellt wird. Denn kein Mensch diskutiert, ob die Innenstädte frei von Kneipen und Geschäften sein sollten.

Über die Abschaffung von Letzteren wird nicht nachgedacht, weil sie in der Innenstadt sehr gern gesehen sind und sogar den Flair einer Stadt bestimmen. Die negative Sicht des Autoverkehrs in der Innenstadt hingegen ist keine Mindermeinung. In einer 1991 vom Bundesumweltministerium durchgeführten Repräsentativ-Umfrage gaben 73% der Befragten an, daß sie eine autofreie Innenstadt befürworten würden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil in den Innenstädten weit über die Hälfte der Schadstoffe von den Autos emittiert werden.

Warum schaffen wir dann nicht ab, was uns alle stört? Einigkeit besteht, daß beispielsweise die Einzelhandelsgeschäfte auch weiterhin beliefert werden müssen.

Das heißt, daß wir versuchen müssen, uns in der Definition von "unnötigem Autoverkehr" zu einigen. Unnötig ist es sicherlich, zum Bummeln mit dem Auto in die Stadt zu fahren, ebenso zum Kauf von Kleingütern. Auch der Kauf einer Waschmaschine muß nicht unbedingt mit dem eigenen Auto erfolgen. Da solche Gegenstände selten von Heute auf Morgen benötigt werden, wäre es verkehrsvermeidend, wenn sich die Geschäftsleute zu einer "Auslieferungsgemeinschaft" zusammenschließen und dann "konzentriert" die Waren an die Käufer ausliefern würden.

Wenn man desweiteren bedenkt, daß 69% aller in Heidelberg mit dem Auto zurückgelegten Wege nicht länger als 5 km (!) sind, kommt man recht schnell zu der Einschätzung, daß ca. 80% des Autoverkehrs in der Innenstadt eigentlich unnötig sind.

Wer die Verkehrsdiskussion in Heidelberg verfolgt weiß, daß vom Einzelhandel ständig eine unbeschwerte Autoerreichbarkeit seiner Läden gefordert wird, da sie sonst vor dem Aus stünden.

Doch es geht auch anders: So haben sich in der Schweizer Stadt Bühlach die Einzelhändler dadurch erfolgreich gegen einen neuen Verbrauchermarkt auf der grünen Wiese behauptet, indem sie als Werbegemeinschaft einen Busunternehmer damit beauftragt haben, kostenlos durch alle Wohngebiete zu fahren, deren Bewohner die potentiellen Kunden des neuen Supermarktes waren. Das Projekt war so erfolgreich, daß es nach einem halben Jahr von der Stadt übernommen wurde.

Daß es nicht notwendig ist, mit dem Auto vors Geschäft fahren zu können, zeigt auch jede Fußgängerzone. In allen Städten werden in diesen Bereichen die höchsten Ladenmieten erzielt. Heute weiß man, daß damit die Innenstadt, und somit auch die eigenen Läden, aufgewertet wurden. Aus verschiedenen Untersuchungen steht fest, daß der Einzelhandel nur dort Schaden genommen hat, wo der öffentliche Nahverkehr abgebaut wurde.

Wieso mangelt es also an der Umsetzung? Nach meiner Einschätzung fehlt es zum einen am Mut der politischen Entscheidungsträger, sich gegen das "Totschlagargument", den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen, mit auf der Straße liegenden Argumenten zu wehren. Ich verweise dazu nur an die grotesken Stellungnahmen des Einzelhandels zur Fahrrad-spur am Bismarckplatz. Das Ende der Stadt war nahe; und heute? Zum anderen handelt es sich bei den Entscheidungsträgern in der Verwaltung oft um Männer "in den besten Jahren", die nach der Statistik selbst zu den Autovielfahren gehören und deren Fantasie dahingehend, was man alles per Rad oder ÖPNV erledigen kann, sehr beschränkt ist. Autofreie Innenstadt? Ja klar, auch der Schadstoffe wegen!

Nein

Erwin Schmalzhaf

Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes Nordbaden e.V.

Unstrittig ist, daß eine neue, zeitgemäßeVerkehrspolitik betrieben werden muß. Die Benzolbelastung ist nur ein neuer Grund unter anderen. Verkehrspolitik aber, richtig verstanden, bedeutet Verkehrslenkung und nicht Verkehrsbehinderung.

Jeder politische Eingriff hat Folgen. Dies gilt insbesondere für die mobile Gesellschaft, in der wir leben. Die Kunden des Heidelberger Einzelhandels kommen zu 52% aus dem Umland der Neckarstadt; 68% davon mit dem eigenen Fahrzeug. Es liegt daher auf der Hand, daß die Erreichbarkeit Wirtschaftsfaktor Nummer 1 für die Geschäfte ist. Diesem Faktum muß Rechnung getragen werden.

Der Verkehr darf deshalb nicht gegängelt werden, sondern muß fließen können. "Autofreie Innenstadt", rote Wellen, Vorrangschaltungen für den ÖPNV oder Pförtnerampeln (Ampeln, die die Zufahrt zur Stadt bei Überlastung sperren. d. Red.) gehören zum Instrumentarium der Verkehrsbehinderung. Diese führt die Kunden aber nicht weg vom Auto, sondern weg von den Heidelberger Geschäften in die anderer Städte. Schaden wird hierdurch nicht von der Gesundheit abgehalten, dafür aber der Wirtschaft Heidelbergs zugefügt.

Die Gefahren durch die Abgasbelastungen sind nicht zu verharmlosen. Benzol, aber auch Stickoxide und Ruß, gefährden die Gesundheit der Menschen in Stadt und Umland. Ebenso kann eine Stadt an ihrer eigenen Attraktivität zugrunde gehen. Zuviel motorisierter Verkehr in der Stadt mindert die Einkaufsqualität. Doch auch hier hilft ein nüchterner Blick auf die Realität weiter.

Losgelöst von der ideologisierten Sichtverzerrung der Stadt und einiger im Stadtrat vertretener Fraktionen, zeigt sich folgender Sachverhalt: Nach einem jüngst erstellten Gutachten zur Verkehrssituation in Heidelberg verursacht gerade nicht der Einkaufsverkehr mit 20% Anteil am gesamten Verkehrsaufkommen die Probleme. Vielmehr ist es der Berufsverkehr mit 40%, der die Städte verstopft und mit Emissionen belastet. Hier und ebenso bei der Minderung des Benzolgehaltes im Kraftstoff und der Entgiftung der Industrie müssen wirksame Maßnahmen gegen die Benzolbelastungen ansetzen.

Sollten verkehrsbeschränkende Maßnahmen nötig sein, müßten sie im Rahmen integrierter Verkehrskonzepte durchgeführt werden, die die Erreichbarkeit der Geschäfte gewährleisten. Hierbei nimmt der ÖPNV in Zukunft eine zentrale Stellung ein; doch der muß attraktiv sein. Leider ist es in Heidelberg gängige Politik, die Autofahrer in ein System des öffentlichen Nahverkehrs zu zwingen, der den Mobilitätsansprüchen der 70er Jahre entspricht. Das ist Gängelung und zerstört die Wirtschaftskraft der Stadt.

Heidelberg braucht einen modernen ÖPNV, der sich durch die beiden Merkmale auszeichnet, die die Attraktivität des PKW ausmachen: Bequemlichkeit und Schnelligkeit.

Diese erreicht man durch ein Park & Ride-System mit hoher Taktfrequenz und Regionalbahnen, die einen schnellen Pendeldienst bieten. Aber auch ein gutes Parkleitsystem entlastet die Innenstädte durch die Abnahme des suchenden Verkehrs erheblich: Verkehrsleitung, nicht -behinderung heißt die Maxime.

Verkehrspolitische Maßnahmen dürfen nicht zur Unzeit durchgeführt werden. Nicht mit Radwegen und roten Ampeln gelangt man zum Ziel einer "sauberen Stadt" und auch nicht, indem man die Kunden in veraltete Straßenbahnen zwängt. Solange die öffentlichen Verkehrsmittel nicht auf dem Stand der heutigen Zeit sind, solange darf der Kunde aus dem Umland auch nicht durch Fahrverbote oder eine "autofreien Innenstadt" aus der Stadt ausgesperrt werden.

(Red."point/counterpoint":hb)


"Ich bin ein friedlicher Virus"

Ein Gespräch mit dem Lyriker Durs Grünbein

"Kommt, wir fahren irgendwohin, wo es grün ist." Wir steigen ins Taxi. "Haben Sie hier in Karlsruhe einen Zoo?" will Durs Grünbein vom Taxifahrer wissen - und freut sich wie ein Kind, daß es einen gibt. "Au ja, da fahren wir hin. Im Zoo fällt einem immer soviel ein."
Vor wenigen Wochen wurde dem 32jährigen Lyriker der Büchner-Preis verliehen. Der wichtigste deutsche Literaturpreis, den schon Autoren wie Handke, Enzensberger und Biermann bekamen, ging damit nach langer Zeit erstmals wieder an einen jungen Autoren. Grünbein wurde in Dresden geboren und lebt heute in Berlin. Spätestens seit der Vereinigung von Ost und West gilt er als "shooting star" der Literaturszene und wird als "erster gesamtdeutscher Dichter" (FAZ) gefeiert.

Seine Veröffentlichungen: Grauzone morgens (1988), Schädelbasislektiotion (1991), Falten und Fallen (1994), Den Teuren Toten (1994).

ruprecht: Du hast vor kurzem den Büchner-Preis, den wichtigsten deutschen Literaturpreis, bekommen. Verändert der Erfolg Dein Schreiben?

Grünbein: Im Prinzip schreibe ich noch unter denselben Bedingungen wie damals, als ich mein erstes Buch veröffentlicht hatte. Hauptsächlich ist es im Moment ein Zeitproblem. Gerade nach Lesungsreisen brauche ich einige Zeit, um mich wieder in eine ruhige Verfassung zu bringen. Ich gehöre nicht zu denen, die unterwegs ständig arbeiten können. Zuhause kommen jetzt auch ständig Anrufe, Angebote, Interviewanfragen. Das ist eine Sache, die man lernen muß. Ich habe mich auch von Leuten beraten lassen, die das schon länger machen als ich, man muß einen Mittelweg finden zwischen dem Minimum an Öffentlichkeit, das man ja braucht, und einem Maximum an individueller Freiheit.

ruprecht: Wie wichtig ist es Dir, öffentlichkeitswirksam zu sein ?

Grünbein: Das ganze Literaturverteilungssystem, der Büchermarkt, die Literaturkritik, und letztlich auch viele Formen des Deutschunterrichts, lenken eher ab vom Leseerlebnis. Ich denke, die Literaturkritik ist mittlerweile ein selbstreferentielles System geworden - das ließe sich gut mit der Luhmannschen Systemtheorie beschreiben. Ich kann mir keinen Leser vorstellen, der modelliert ist nach den Idealen des Deutschunterrichts oder der öffentlichen Kritik. Aber weil es all das gibt, glaube ich immer noch an den unvorhersehbaren Fall, daß plötzlich irgendein Text irgendjemanden erreicht, der durch das ganze soziologische Geflecht hindurch eine direkte Erfahrung macht. Ich meine, jeder, der wirklich aufmerksam Gedichte liest, weiß ja, wie das funktioniert: Er weiß, daß er mit dem Buch oder dem Text, der ihn gerade beschäftigt, ganz allein ist und daß darüber auch sehr schwer zu kommunizieren ist.

ruprecht: Gerade in Deinen beiden aktuellen Büchern greifst Du zunehmend zu sarkastischen Tönen. Ist das der Versuch einer leichteren Kommunikation?

Grünbein: In bezug auf ein paar Probleme finde ich heute nur zu sarkastischen Ausflüchten, zu sarkastischen Witzen. Aber immerhin ist es ein Versuch, mit prinzipiell antihumanen Situationen umzugehen. Sarkasmus kommt ja daher, daß man versucht, in einem uralten Medium mit den paar idiotischen Erfahrungen, die man hat, auf Situationen zu reagieren, die längst absolute Zerreißproben darstellen. Ich neige dazu, den Sarkasmus als eine mögliche und auch angemessene Antwort auf Probleme einer bestimmten Größenordnung zu sehen. Zum Beispiel Naturkatastrophen: Sind sie komisch? Die Menschen stehen solchen Sachen ja völlig hilflos gegenüber. Man denke daran, daß ein großer Aufklärer wie Voltaire versucht hat, zum Beispiel das Erdbeben von Lissabon zu erklären. Für das positive Denken war das eine ungeheure Herausforderung. Das ist eigentlich urkomisch. Die Frage, die sich für die Menschen damals stellte, war wieder eine Art Theodizee: Warum mußten so viele Leute sterben, die doch gar nichts getan hatten?

ruprecht: Sarkastisch schreibst Du eigentlich erst seit Deinen Gedichten zur Wende. Hat der Zusammenbruch der DDR Dich den Sarkasmus gelehrt?

Grünbein: Tatsächlich ist meine jetzige Art von Sarkasmus wohl in dieser Zeit entstanden. Ratlosigkeit gegenüber Zusammenbrüchen, Tod und Vergänglichkeit, dazu ein gewisser Trotz: Das führt zum Sarkasmus.

ruprecht: Und wie weit fühlst Du Dich heute noch als "Ostler"?

Grünbein: Da ich eine andere Gesellschaft erlebt habe, ist das Wahrnehmen sehr häufig eine Kontrastwahrnehmung. Im besten Fall sehe ich stereo. Und die Erfahrung eines vollkommenen Hierachiezerfalls hat etwas sehr Befreiendes. Im Osten gab es eine ganz andere Zeiterfahrung. Ich erinnere mich noch an meine erste Reaktion, als ich eines morgens am Bahnhof stand, in Frankfurt am Main. Ich ging in die Bahnhofshalle, schaute mir die ganzen Stände an. Und dann habe ich ungefähr eine halbe Stunde lang nur gelacht, wobei ich bis heute nicht weiß, was der Kern dieses Gelächters war. Sicher war es kein Hohngelächter, aber auch kein befreiendes Gelächter. Es war einfach unglaublich komisch: ein Bahnsteig, so blitzblank und neonbeleuchtet wie in Ostdeutschland nur die Interhotels - die ganze Farbenvielfalt, der exotische kapitalistische Alltag.

ruprecht: In Deinem Gedicht "12/11/89" aus dem Gedichtband "Schädelbasislektion" bezeichnest Du die DDR als ein "Schmalland", wo "stählernes Schweigen" und "Langeweile" herrschte. Das klingt bitterböse. Fühlst Du Dich um einen Teil Deines Lebens betrogen?

Grünbein: Um die Kindheit bestimmt nicht, das wäre absurd. Ich denke, daß jede Kindheit gleich grandios ist, wahrscheinlich auch in einer Diktatur. Das läßt sich leicht feststellen, wenn man Erinnerungsbücher liest. Es hängt mit der kindlichen Psyche zusammen: die Welt ist einfach so riesig groß zunächst, da ist jede Kindheit abenteuerlich. Aber die spätere Zeit habe ich dann sehr oft als Stagnation empfunden, vor allem im Künstlerischen. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem mich gewisse Weltgegenden interessiert haben, in die ich nie gekommen wäre. Auch der semantische Raum für Schriftsteller war viel zu arm. Da ich von Anfang an das Gefühl hatte , daß ich ein sehr stark urbaner Künstler bin - mich ziehen Großstädte an, deren Leben, deren Krisen, deren Widersprüche - bin ich dann nach Ostberlin gegangen, nachdem ich meinen später abgelehnten Ausreiseantrag gestellt hatte, in eine Art Wartestand.

ruprecht: Und diese Zeit des Wartens hast Du dann mit Lesen zugebracht?

Grünbein: Ja, ich habe Bücher gehortet, hatte viel Zeit, wie ein Mönch hinter Klostermauern im Mittelalter. Ich habe zum Beispiel Ezra Pound gelesen. Ich habe ihn wieder und wieder gelesen, und auch beim zehnten Mal noch nicht die Hälfte verstanden. Immer wieder habe ich ihn gelesen, wie ein Klosterschüler die Psalmen, Texte, von denen sich zunächst gar nicht sagen ließ, worum es ging. Ich glaube, daß ist auch heute noch eine gute Wurzel für ein intensives Beschäftigen mit Texten: Unverständnis als Quelle von Produktivität.

ruprecht: Ist der heutige Leser zu sehr auf das Verstehen von Texten fixiert ?

Grünbein: Ja, das glaube ich unbedingt. Das ist auch ein sehr ungutes Resultat der Literaturkritik, die immer versucht, Neues auf bekannte Muster zurückzuführen. Sie sagen dann: "Ah ja, das ist das, das kennen wir schon". Das ist ein fatales Identitätsprinzip. In dem Moment, wo sie A auf A` oder auf B zurückführen können, schnappt das Verständnis ein - und damit ist es erledigt. Das macht die Sehnsucht nach einer unverständlichen Literatur immer größer. Deswegen war Dada auch neurologisch, und nicht nur politisch, an jener Stelle der Weltgeschichte plötzlich notwendig gewesen. In dem Moment, wo eine Gesellschaft glaubt, sie hätte ihre gesamte Literatur intus und könne sie abstapeln und abhaken, müssen welche kommen, die sagen: "Also dann, auf ein Neues!"

ruprecht: Kannst Du gegen diesen ganzen Verstehens-Mechanismus angehen?

Grünbein: Nein, nicht wirklich. Da spüre ich das eigene Defizit. Ich weiß, daß eine Idealliteratur der Zukunft sehr viel provokativer mit dem Mißverständnis, mit dem Nicht-Verstehen, mit der Durchkreuzung von Verstehen arbeiten müßte. Das weiß ich sicher. Aber dazu gehört eine große künstlerische Kraft.

Vielleicht müßten neue Viren her in der Literatur, bösartige Viren, Leute wie Baudelaire. Ich selber bin ein viel zu friedlicher Virus. Es gibt Autoren, die können dich befallen und infizieren, und lassen dich dann nie wieder los - Kafka wäre so ein Beispiel. Bei den meisten anderen ist das eher so wie mit einem Schnupfen: der huscht über dich hinweg, nicht ohne dich für kurze Zeit fürchterlich zu ärgern.

ruprecht: Du wärest aber lieber ein bösartiger Virus?

Grünbein: Ja, ich müßte viel, sehr viel aggressiver sein. Ich bewundere Künstler, die aggressiver sind als ich, mit aggressiven Strategien diesem ganzen Existenzunsinn sehr viel mehr Rechnung tragen. Es gibt natürlich eine Grundform der Aggression, die sehr leicht töricht sein kann. Aber dort, wo Erkenntnisschärfe ins Spiel tritt, bleibt kein Stein auf dem anderen. Die gegenwärtige Literatur verbrennt alles Zivilisatorische zu sentimentaler Asche.

ruprecht: Apropos Asche: Was für ein Verhältnis hast Du denn zu Religionen?

Grünbein: Mich interessiert zum Beispiel eine Figur wie der römische Kaiser Julian Apostata (2. römischer Kaiser nach Konstantin). Der hat um das Jahr 360 unserer Zeitrechnung gelebt. Er war der letzte römische Kaiser, schon christlich erzogen, der gesagt hat: "Wir müssen den Einfluß dieser Christen zurückdrängen." Eine hochtragische Figur, denn das neue Kapitel Weltgeschichte war längst angebrochen. Dabei war er vergleichsweise tolerant, hat nur so eine Art Lehrverbot erlassen. Er verbot den Christen die Kritik an den griechischen Göttern. Das sind Dinge, die mich interessieren: Was sind alte Götter, was sind neue Götter. Der Polytheismus war sicher die bessere Erfindung. Ich fand es immer anregend, daß es in Europa Völker gab, die sich für jedes einzelne Motiv einen Gott ausgedacht haben, die dann untereinander im Dialog existierten. Vielleicht die beste Zeit war der Hellinismus, wo es nicht nur diesen einen Polytheismus gab, sondern dazu auch noch die größte Religionsfreiheit. Ich habe ein ästhetisches Verhältnis zur Religion: je mehr Götter, desto besser, desto mehr Zirkulation von Motiven und Trieben. Christentum ist dem wissenschaftlichen Zeitalter überhaupt nicht angemessen. Im Zeitalter der Quantenrealitäten und der neuronalen Netze sind Christentum und Islam gefährliche Fiktionen.

ruprecht: Und was ist mit religiösen Bedürfnissen? Die hat auch der moderne Mensch.

Grünbein: Beim Grad der Aufklärung, und der Anti-Aufklärung, den wir heute erreicht haben, helfen, wie in der Antike, nur noch polytheistische Religionen weiter.

ruprecht: Wenn jeder seine eigenen Götter hat, besteht dann nicht eher die Gefahr, daß jeder macht, was er will?

Grünbein: Wenn jeder glaubt, was er will, umso besser. Die Gefahr, daß alle glauben und machen, was einer will, ist doch viel größer. Ich denke, die Zeit, in der jeder seinen eigenen Gott unter der Haustür oder im Schrein hatte, war eine der tolerantesten Zeiten, die es je gab.

ruprecht: Ein Forscher etwa, der macht, was er will, kann aber viel Unheil anrichten...

Grünbein: Das ist doch erst ein Ergebnis des Christentums. Die Atombombe ist eine christliche Erfindung, das muß man mit Sicherheit sagen. In einem Zeitalter, wo es mehrere Götter gegeben hat, wäre sie so nicht denkbar gewesen. Letztlich steht dahinter ja die Idee der Erlösung, die nächste fatale Vorstellung. Und Moral ist ja keine Erfindung des Christentums. Ich glaube innerhalb des Christentums ist aber der Katholizismus die bessere Religion . Triebtechnisch ist die viel besser eingerichtet. Ein Mensch, der sozusagen in der Dunkelkammer zuletzt nur noch verbal mit seinem Gott allein ist, der richtet großen Schaden an.

ruprecht: In Deinen Gedichten und Essays findet man einerseits ätzende, depressive Betrachtungen über den sich in Schablonen bewegenden modernen Menschen, auf der anderen Seite starke Faszination für Technik und naturwissenschaftliche Innovationen. Wie löst Du diesen Widerspruch auf?

Grünbein: Jeder Autor ist vermutlich das Bündel seiner Widersprüche. Mir fällt das immer erst auf, wenn Leute mich danach fragen. Das Ideal wäre, weder kulturpessimistisch noch besonders zukunftsfroh zu sein. Durch mich hindurch - und so erscheint es dann auch in meinen Texten - gehen immer wieder diese völlig gegensätzlichen Ströme und Ansätze. Ich versuche, die Welt zunächst einmal mit der größtmöglichen Offenheit zu betrachten, ohne fertige Ansichten, so wie ein Tier, das geboren wird und zufälligerweise denken kann.

.Das Walroß, an dessen Becken wir sitzen, beginnt laut zu röhren.

Grünbein: Das ist wohl das beste Schlußwort! (mp/gvg)


Kommentar

Jochen Kluve: Senatsschlaf ist gesund!

Träume verändern unser Leben. Oder sie reflektieren es. Auch Dekane träumen. Mit Vorliebe in den Sitzungen des Großen Senats. Um hier nicht der tot diskutierten Politikverdrossenheit erneut das Wort zu reden, wollen wir im folgenden von der "Senatsverdrossenheit" sprechen.

Zuerst und offensichtlichst befällt sie Dekane, wie zuletzt in der "Sitzung des Großen Senats". Den Rechenschaftsberichts des Rektors nutzte einer der hohen Herren zu einem Nickerchen, wurde vom abschließenden Beifall aber unsanft geweckt. Grund genug, zehn Minuten später zu gehen. Vielleicht lag es auch am Bericht, der - wie die FSK ironisch kritisierte - ein nach dem "Datei wiederherstellen - nochmal ausdrucken"-Verfahren entstandener Aufguß des letztjährigen Rechenschaftsberichtes sei. Doch halt: Spätestens bei dieser Kritik wird dem Verfasser klar, daß nicht allein Professoren an Senats- und Hochschulpolitikverdrossenheit (sic!) leiden. Denn: Wie interessant hätte diese (öffentliche!) Sitzung werden können, wenn sich auch ein paar Studierende dorthin verirrt hätten und den studentischen Vertretern bei ihrer Kritik lautstark unter die Arme gegriffen hätten! Vielleicht hätte sich denn auch der eine oder andere Dekan, der ohnehin insgeheim Ulmers Meinung nicht teilt, den Anmerkungen der FSK angeschlossen. So tat dies nur ein einziger. Vielleicht haben die anderen auch nicht zugehört.

Aber wer soll sich anmaßen, dies den Dekanen vorzuwerfen? Auch Studenten schlafen in Vorlesungen, auch Studenten hören nicht zu und...auch Studenten interessieren sich nicht für Hochschulpolitik. Klar, Studiengebühren findet jeder Scheiße. Verzeihung, diese Kundgebung als Maßstab hochschulpolitischen Denkens und studentischer Meinungsbildung? Willkommen auf dem mentalen Abstellgleis. Es scheint allgemeiner Konsens zu sein, politisches Interesse beginne irgendwann "Mitte dreißig".

So ist letztlich diese Senatssitzung die Perversion eines klassischen griechischen Dramas. Wir erleben die Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Das Geschehen kämpft sich wacker zum Höhe-und Wendepunkt im dritten Akt (Kaffepause), nach dem die Spannungskurve zu fallen beginnt und schnell versumpft. Wir erleben die Katharsis des Vergessens, die Selbstreinigung des Anteilnehmenden dadurch, daß er sich in kürzester Zeit an nichts mehr erinnern wird, was hier und heute geschehen ist.

Nur Rektor Ulmer scheint die Sache ernst zu nehmen. Doch auch ihm müßte es bange werden: Wie vermessen, von einer Universität als "corporate identity" zu träumen, wenn sich diese "corporate identity" nicht im kleinsten Kreise unter den Dekanen einstellt. "Ich, das Mitglied der Universität" stolziere umher und grüße Kommilitonen, Mittelbauler wie Professoren einhellig als Gleichgesinnte und Gleichgestellte. Ulmers Traum? Die Dekane dösen im Senat. Wir Studis könnten sie wecken, schlafen aber selbst und träumen vom eigenen zukünftigen Ausruhen. Gute Nacht! (jk)


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