Hochschule


Meinung: Die Anglisten und Sisyphus

Gundula Zilm: "Kein noch so ausgeklügeltes Einschreibeverfahren kann Plätze herbeizaubern."

Pech gehabt! Keine nächtliche Schlange von frierenden Studis mehr vor dem anglistischen Seminar, keine Sensation und somit kein reißerisches Foto für den ruprecht. Wo ist das Chaos geblieben? Jetzt hatten wir uns gerade daran gewöhnt, gar nicht erst ins Bett zu gehen, gegen Mitternacht mit Thermosflasche ausgerüstet den Platz 423 in der Kettengasse einzunehmen und am frühen Morgen das Klicken von dreißig japanischen Kameras zu ertragen ("Hier sehen Sie die legendäre Anglistenschlange, eine besondere Attraktion von Heidelberg: Das Phänomen zeigt sich zweimal jährlich, Mitte April zur Brunftzeit und Mitte Oktober zur Jagdsaison.")

Diese schöne Zeit ist nun vorbei. Zu verdanken haben wir dies der Fachschaft Anglistik, die das Elend nicht mehr mit ansehen konnte und dem Institut einen Vorschlag zur Verbesserung des Einschreibeverfahrens machte. In den Semestern zuvor war es nämlich allein das Institut, das die Anglistik-Studierenden vor die Tür gesetzt hatte. Nach dem neuen System müssen jetzt nur noch die Erstsemester Schlange stehen, und angesichts des drohenden Leistungsabfalls wegen Schlafentzug hat man die Einschreibezeit vom Morgen auf 14.00 Uhr verlegt. Eine Stunde vorher, also um 13.00 Uhr, sollten eigentlich die legendären Nummern vergeben werden, doch da man sich scheinbar schon so sehr an das System gewöhnt hatte, mußten die ersten Zettel bereits um sieben Uhr morgens herhalten. (Die Fachschafter in der Anglistik wurden schon während der Semesterferien von weit aus dem Norden angereisten Erstsemestern empfangen mit den Worten: "Und zu Semesterbeginn muß ich mich dann nachts hier irgendwo anstellen, nicht?")

Zu einigen Seminaren wiederum mußte man sich - wie vorher - persönlich bei dem Dozent bzw. der Dozentin anmelden. Doch niemand wollte mir verraten, wo ich Herrn oder Frau "N.N." finde! Also den geplanten Urlaub für die Bahamas absagen und sich täglich im anglistischen Seminar auf die Lauer legen und warten, ob das Phantom auftaucht. Das Neue in diesem Semester war nun: zu allen übrigen Veranstaltungen wird der Kandidat gegen schriftliche Voranmeldung und späterem Gegenzeichnen auf die Gewinnerliste gesetzt. Also, endlich mehr Chancen für alle? Leider nicht, denn auch hier regiert wieder der Darwinismus: Die Anmeldung war möglich ab Erscheinen des kommentierten Vorlesungsverzeichnisses der Anglisten, doch wer nicht sofort an diesem Tag sein Zettelchen in den Kasten warf, der blieb draußen. Wer noch Glück hatte, landete auf Platz 40 der Nachrückerliste. Das Gegenzeichnen zu Beginn des Semesters lief allerdings auch nicht wie geplant: Die meisten Anglisten schienen mit dem System überfordert gewesen zu sein und erschienen gar nicht, so daß deren erst hart erkämpfter Platz gleich wieder weg war. So schnell geht das. Doch wie es im Leben so ist: des einen Leid ist des andren Freud'. Die Nachzügler, denen diese Plätze dann zufielen, durften sich freuen. Sicherlich, es gibt noch einiges zu verbessern - z.B. die Anzahl der Nachzüglerplätze zu erhöhen - , räumt auch die Fachschaft ein, doch generell soll das System im nächsten Semester beibehalten werden. "Wir wollen die Leute nicht völlig verwirren und schon wieder ein neues Verfahren ausprobieren. Und außerdem sind wir eigentlich recht zufrieden so. Wer das Prinzip nicht geschnallt hat, der ist halt selber schuld." Die Germanisten z.B. kommen zwar ohne irgendwelche Einschreibeverfahren aus, doch bei ihnen sitzen dann auch mal siebzig Studis im Seminar. Die letzte Möglichkeit, die allerdings niemand will, wäre ein NC.

Schön also, daß die Anglisten nicht mehr des Nachts in eisiger Kälte Schlange stehen müssen. Aber nicht so schön ist es, daß wieder einige, die nicht ganz so schnell waren wie ihren Kommilitonen, draußen bleiben müssen. Irgend jemand scheint also immer auf der Strecke zu bleiben. Natürlich, wir leben in einer Konkurrenzgesellschaft, in der nur der Stärkere überlebt. Aber heißt das, daß schon an der Uni nur derjenige studieren darf, der schneller ist? Gab es da nicht mal so etwas wie Chancengleichheit? Und gleiches Recht auf Bildung für alle? Jedenfalls wird das Problem in der Anglistik nicht durch jedes Semester wechselnde, immer komplizierter werdende Einschreibeverfahren gelöst. Wo nur eine begrenzte Anzahl von Plätzen da ist, können nicht durch noch so ausgeklügelte Systeme mehr Plätze herbeigezaubert werden. Der Schwarze Peter wird bloß von einem zum anderen geschoben, ohne das wirkliche Problem zu lösen: fehlende Lehrkräfte. In der Dringlichkeitsliste der Neuphilologie stehen die Anglisten diesbezüglich jedenfalls auf Platz Eins, doch Konsequenzen scheint die Uni daraus nicht zu ziehen. Einsparung heißt die Devise, und wer zu spät kommt, den bestraft halt das Leben; und außerdem kann man das Geld ja für Nützlicheres ausgeben, nicht wahr, Herr Ulmer? (gz)


Selters statt Sekt

BAföG demnächst für nur 8,5% Zinsen im Jahr

Es wird wieder gekämpft um die Peanuts der Studierenden. Nachdem Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers der entsetzten Öffentlichkeit im Sommer diesen Jahres seine Vorstellungen zur künftigen Gestaltung des BAföG vorgestellt hatte, ist der Streit um die Ausbildungsförderung wieder in aller Schärfe und Breite entbrannt - zumindest bei denen, die sich für dieses Thema überhaupt interessieren.

"Zukunftsminister" Rüttgers hatte vorgeschlagen (der ruprecht berichtete), das BAföG-Darlehen, das Vater Staat braven, hinreichend armen Studierenden bisher zinslos gewährte, quasi in einen Privat-Kredit zu ordentlichen Marktzinsen umzuwandeln. Das würde beispielsweise für einen Uni-Studenten, der sich 11 Semester mit dem jetzigen BAföG-Höchstbetrag fördern läßt, einen Schuldenberg von 71.850 Mark gegenüber 34.497 Mark heute bedeuten - mehr als doppelt so viel also. Aber so genau wird das keineR der Betroffenen wissen können. Die Zinsen sollen nämlich halbjährlich neu festgelegt werden - ob es dann 7 oder 10 Prozent sind, bestimmt halt "der Markt" - und jedesmal ist ein neuer Vertrag fällig.

Hinzu kommt, daß ja schon heute die Fördersätze mehrmals im Jahr wechseln können - wenn z.B. der Bruder anfängt zu studieren, die Schwester ihren Wehrdienst macht oder Papis Arbeitsplatz endlich wegrationalisiert wird. Dafür gibt's demnächst dann auch immer wieder einen neuen BAföG-Vertrag - und das ist wohl auch gewollt, denn die damit beauftragte staatliche "Deutsche Ausgleichsbank", die zur Wiedervereinigung kräftig Personal eingestellt hatte, muß ihre Unkündbaren irgendwie beschäftigen. Schwierig wird es vielleicht für die, an deren Hochschulstandort es keine Filiale gibt - doch da gibt es bereits Überlegungen, andere, rein private Banken an dem Geschäft zu beteiligen.

Verschiedene Studierendenvertretungen auf Hochschul-, Landes- und Bundesebene haben ob dieser Vorschläge einen "Heißen Herbst" angekündigt und wollen dem Minister mit Streiks, Demos, Besetzungen, Diskussionen einheizen. In Heidelberg überflutet eine Postkartenaktion der Fachschaftskonferenz die örtlichen Bundestagsabgeordneten; einige Fachbereiche haben bereits Vollversammlungen zu dem Thema einberufen. Noch in diesem Monat wird die FSK mit dem Studentenwerk zu einer Informationsveranstaltung einladen, die auch hier die Diskussion in Gang bringen soll. Wer sich dann eingearbeitet hat, wird am 2.Februar 1996 auf einer Podiumsdiskussion der Fachschaftsinitiative Jura einige AkteurInnen direkt befragen können. Die OrganisatorInnen der bevorstehenden Aktionswochen müssen aber befürchten, daß sich nur wenige ihrer KommilitonInnen für das Thema überhaupt erwärmen, geschweige denn darüber aufregen können.

Dabei ist Rüttgers nicht der einzige, der sich zum BAföG Gedanken gemacht hat - und genau da wird es auch für jene drei Viertel der Studierenden interessant, die heute kein BAföG bekommen. Mehrere Gruppen - Parteien, Gewerkschaften, Verbände, studentische Zusammenschlüsse - haben Modelle für eine Neugestaltung der Ausbildungsförderungen gemacht - und alle sind sich einig in der grundsätzlichen Ablehnung des Rüttgers-Vorschlags und Kritik an der bisherigen Regelung.

Die meisten wollen das Geld, das Eltern jetzt für ihre studierenden Kinder erhalten - Kindergeld und Steuerfreibeträge vor allem - den Studierenden direkt zustecken. Darüberhinaus gibt es unterschiedliche Vorschläge, wie das notwendige Geld aufgebracht werden soll.

Das Deutsche Studentenwerk zum Beispiel möchte allen Studierenden elternunabhängig einen Sockelbetrag von 300-400 DM als Zuschuß geben. Dazu soll, je nach familiärer Situation, eine Aufbauförderung von 400-650 DM kommen (50% unverzinsliches Darlehen, 50% Zuschuß). Den Rest müßten sich die Studierenden erarbeiten oder als verzinsliches Darlehen beschaffen. Immerhin stünden AbsolventInnen nach Ihrem Studium somit nur vor einem Schuldenhügelchen. Das Modell wird als kostenneutral für den Staat beschrieben. Der Haken: Die bisherigen BAföG-Kriterien sollen, wenn auch in abgemilderter Version, erhalten bleiben. Das heißt, daß bei Fachwechsel, vermeintlich überlangem Studium und ausgefallenen Stundenplänen der Geldhahn ganz schnell zugedreht würde - und zwar konsequenter als bisher, wo das Kindergeld noch nicht ans Studienverhalten angekoppelt ist.

Der grüne Rektor der Universität Oldenburg, Michael Daxner, und einige Parteifreunde wollen eine Akademikerkasse einrichten und damit gleichsam eine "Akademiker-steuer" einführen. Im Prinzip sollen alle, die ein Studium beginnen, sechzehn Semester lang ein Darlehen aufnehmen können, das nach dem Studium abhängig vom Einkommen hochgerechnet auf die Lebensarbeitszeit zurückgezahlt wird. Das Problem: zur Aufnahme des Stipendiums kann niemand gezwungen werden - und dann sind es doch wieder die sozial schlechter Gestellten, die ihr Leben lang zahlen und die anderen eben nicht. Hinzu kommt: wenn von denen, die das Geld in Anspruch genommen haben, nicht alle erwerbstätig sind, müssen die anderen umso mehr zurück zahlen.

Geschickt an den Beginn der Semesterferien plaziert, schien Rüttgers´ Vorschlag von Anfang an nur wenige Engagierte in Studierendenvertretungen und Studentenwerken zu interessieren. Viele hoffen, daß derart radikale Pläne immer wieder aufgeschoben werden und im Bundesrat letztendlich scheitern.

Hat Rüttgers' Vorschlag überhaupt Chancen auf Verwirklichung, muß man sich überhaupt aufregen? Ja, denn er lockt damit, einen Teil der eingesparten Ausgaben in den Hochschulbau zu stecken - die Kosten für die dringend notwendige Erweiterung der überfüllten Hochschulen sollen also die Studierenden aufbringen - und zwar die ärmsten unter ihnen. Je öfter derartige Vorschläge gemacht werden, desto mehr gewöhnt man sich daran und desto eher lassen sie sich dann irgendwann doch durchsetzen.

Wichtig ist jetzt, den Rüttgers-Vorschlag schon im Bundestag abzulehnen und Positionen für eine mehrheitsfähige soziale Reform zu finden - auch gegen Rektoren wie Peter Ulmer, der eine Diskussion mit Studierenden über dieses Thema ablehnt, da es "idealistisch" sei.

khp/hn


Skål, Herr Ministerpräsident!

Rektor Peter lud zum Jahresempfang

Vorspiel.

Extra die gute Hose angezogen. Viele Stühle, man ist presse-nt. Gutem Brauch folgend, pocht der Hausherr auf seine Privilegien. Toi oi oi. Der Notausgang blinkt verzweifelt. Er hat eine Störung. Keiner folgt.
Dann kommt der nächste. Alte Verbindungen. Rauhreif auf Frühlingsnächten. In Mannheim ist abends ohnehin mehr los. Es gilt das gesprochene Wort. Kein gutes Motto. Kein schlechter Titel.
Der Rektor, eine Metonymie in freier Wildbahn. Also sprach die FSK.
Teufel/innen. Jetzt gilt es. Eine finnische Stimme säuselt auf Kalifornisch: He´s an interpreters nightmare. Oh, really. Er ist sein persönlicher Referent. Die Ohren sind spitz. Wie ein Stürmer, den niemand anspielt. Jetzt aber: Flanke von rechts. BWL für alle! Brandgefährlich!Tor! Die Hohnovationen bleiben sitzen. Der Schütze läßt sich feiern. Dialogbereitschaftsdienst. Applaus. Ab.

Plausch mit Laugen von der Stange. (Alles in Butter).
Bell Etat.

Es begann damit, daß ich in einer schwachen Minute während einer Redaktionssitzung auf Haralds Frage "Möchte einer zur Pressekonferenz der Landesrektoren nach Stuttgart fahren?" versehentlich mit "Ja, ich mach's" antwortete. Schon am Stuttgarter Bahnhof konnte ich Rektor Ulmer qua Vorsitzenden der LRK (Landesrektorenkonferenz) ausmachen und in Richtung Landtag verfolgen. Von FSK-Matriarch Kirsten H. Pistel thematisch bestens vorbereitet und geeicht, fühlte ich mich der kommenden Dinge gewachsen.
In einem kleinen Saal des Landtags fand das Ganze dann statt: Die Rektoren der Unis Heidelberg (le chef!), Mannheim, Hohenheim und Stuttgart (la Gastgeberin); ihnen gegenüber ca. 30 Pressevertreter unterschiedlichster Couleur, primär aber - wie sich herausstellen sollte - denkbar uninteressiert ob der darzubringenden Materie. Thema war - wie in einem umfangreichen Paper den Beteiligten übermittelt - dreierlei: 1. Studienzeitverkürzung 2. Strukturreform 3. Technologietransfer. Beginnend erläuterte Ulmer die neuesten Errungenschaften (wie z.B. Freischuß und Langzeitstudentenabschuß etc. unter 1. oder leistungsbezogene HiWi-Mittel unter 2. [ruprecht berichtete] ) in allgemeiner Form, um schließlich auf spezielle, im Paper detailliert ausgeführte Ausprägungen dieser Entwicklungen an den einzelnen Universitäten zu verweisen. Zwischendrin kabbelte er sich - wie gewohnt rhetorisch gewandt - mit dem Diskussionsleiter des Landtages (der sich der Veranstaltung gegenüber auch recht unwillig zeigte). Waren zu Beginn (Punkt 1) die Diskussion/Fragen noch relativ kontrovers, wobei die mir zur Verfügung stehenden, Heidelberg betreffenden Daten/Fragen bei der sehr globalen hochschulpolitischen Darstellung nur wenig Angriffsmöglichkeit boten, versandete das Interesse der Zuhörer doch rasch. Insgesamt dauerte die Pressekonferenz gerade mal knapp eine Stunde.
Angereist war ich motiviert, in Erwartung einer aufschlußreichen Diskussion oder bohrender Fragen. Stattdessen müdes Zuhören, mühsam verdeckte Langeweile und am Ende, ja am Ende konnte einem Ulmer fast leid tun. Plötzlich fühlte man sich nicht mehr innerhalb eines (hochschulpolitisch motivierten) Student-Rektor-Konfliktes, sondern eher mit ihm zusammen als Mitglied der Universität (corporate identity, ick hör' Dir trapsen) und hilflos der Tatsache ausgesetzt, daß Hochschulpolitik spätestens dann keinen mehr interessiert, wenn von den (ehemals?) medienwirksamen Themen wie Freischuß und Studiengebühren zu Strukturreformen u.ä. übergeschwenkt wird. Ob die Hochschulen nun ihre Probleme oder ihre Reformen publik zu machen versuchen, die Öffentlichkeit scheint es so-wie-so wenig zu interessieren. (jk)


Ulmer in Schtuegert

Der Vorsitzende der BaWü-Unis sprach - die Presse hörte weg

Man fragt sich, ob die beiden Herren nicht einfach ihre Berufe tauschen sollten: Peter Ulmer macht ab sofort richtig Politik, und der Landesvater wird unser neuer Rektor. Dann können beide die Vorschläge, die sie dem jeweils anderen mit ausgesuchter Höflichkeit unter die Nase reiben, am besten gleich selbst mal ausprobieren.
NATÜRLICH wollte man auf der Jahresfeier der Uni (Ehrengast mit Blaulicht und drei gepanzerten Mercedessen: Erwin Teufel) "nicht das Schwarze-Peter-Spiel fortsetzen", wie unser Noch-Rektor floskelhaft betonte. Aber die Gelegenheit war einfach zu verführerisch! Unter dem Deckmantel glatter Reden und nach Wahrhaftigkeit trachtenden Komplimenten konnte der Landesvater dem Rektor und umgekehrt einmal zeigen, wie toll man doch selbst, und wie reformbedürftig - tja, leider - der andere noch ist. Und das vor lauter wichtigen Leuten.
So erging sich denn Peter Ulmer in Rechtfertigungstiraden gegen Vorwürfe, die ihm selbst wohl schon aus den Ohren rauskommen, und Klagen über eine starre und geizige Landespolitik - natürlich in wohlgesetzten Watteworten, um das "konstruktive und hilfreiche Interesse" des MPs an den Unis nicht zu vergrätzen. Und der Ober-BaWüler servierte in einer schier endlosen Rede seine Version des Humboldtschen Bildungsideals. Leider blieb dafür nicht mehr sehr viel Platz: Ein Drittel der Rede ging nämlich mit dem Herunterbeten der enormen finanziellen Landesleistungen für die Unis, sowie dem schulterklopfenden Beschwören der Immer-noch-Spitzenstellung der BaWü-Unis in Bund und Welt drauf. Außerdem für einen Exkurs in die Welt der Steuereinnahmen, die scheinbar zu einer bedrohten Art geworden sind, denn Erwin Teufel beklagte immense Verluste. Dann aber ging es los: Staunend erfuhren wir, daß das Studium praxisorientierter und kürzer werden muß; revolutionärer noch: ohne EDV und Fremdsprachenkenntnisse kommt man heutzutage nicht weiter. Auch keine neue Idee, aber immer wieder gern genommen: der nivellierte Allround-Student mit breiten BWL-Kenntnissen (die nämlich sollen in JEDEM Studiengang vermittelt werden). Tacheles: Keine Geisteswissenschaftler, keine naturwissenschaftlichen Grundlagen mehr - was soll DIE WIRTSCHAFT denn mit denen?! Sogar die heilige Juristen-Kuh wurde geschlachtet: Keine "rechtlichen Spezialgebiete" mehr, dafür aber (Deja vu!) "Sprachen und BWL". Einigen wenigen, die "wirklich für ein Wissenschaftlerleben geeignet" sind, bleibt aber die Möglichkeit, an das "Normalstudium" eine wissenschaftliche Ausbildung zu hängen - da ist man ja gnädig. Einziges zu eliminierendes Problem: Der "Spezialwissenschaftler, der sein Terrain eifersüchtig hütet." Aber mit dem wird man wohl auch noch fertigwerden. Ach ja, Studiengebühren und Selbstauswahlrecht der Unis hätte es auch beinah gegeben, aber die böse SPD hat's versaut, obwohl sogar Peter Ulmer dafür ist.

Dieser übrigens bemerkte erstmal charmant, daß "für eine Rektoratsübergabe derzeit kein Anlaß besteht", um sich dann als kompetenter und kämpferischer Sachwalter der Uni-Interessen zu erweisen. Versteckt unter Höflichkeitsadressen, trafen seine Vorwürfe gegenüber der Politik oft in's Schwarze. In seinen Reden hob er die Leistungen der Uni Heidelberg hervor (Genom-Projekt, Kooperation mit Mannheim, Informatik, Zentrum für Biochemie, etc.) und wehrte sich vehement gegen den Vorwurf der Immobilität und Ineffizienz. Ulmer plädierte für mehr "Förderung des Leistungsaspektes", also für Beschränkung der Studienzeiten undStudentenzahlen, etwa mit Hilfe von Pflicht-Beratungen. Bei allem, was man gegen Rektor Ulmer sagen kann, tritt er doch offen und engagiert für das Wohl der Universitäten ein; zumindest für seine Definition diese Wohls. Vor allem sein Lieblingsbaby, die Pflichtberatung unentschlossener und fauler Studenten zwecks Säubern der Uni von ebendiesen, geisterte durch seine Reden wie ein Zombie mit Schlafstörungen. So ganz zufrieden mit dem status quo ist er nämlich noch nicht. Denn ohne Rechtsfolgen bei "negativem Beratungsergebnis" (was, bitteschön, soll das sein?!) macht die Beraterfunktion ja gar keinen Spaß!

Auch die süffisante Art, die treffsichere und originelle Kritik der Fachschaft mit einem Harmonieschwall zu ersticken, sprach wieder Bände: "Das Verhältnis zu den Studierenden war durch sachbezogene und spannungsfreie Diskussionen gekennzeichnet." Nur die verdutzten Gesichter bei der Fachschaft verhinderten Erstickungstode infolge heftiger Lachkrämpfe...

Aber vielleicht braucht es im Gerangel Politik versus Unis auch Sturköpfe wie den Professor Ulmer. Denn eines hat der Festakt gezeigt: Der Kampf um die Futtertöpfe ist nicht brutal und hart, wie alle immer schreien, sondern zäh, hintergründig und voller List. Gutmenschen verlieren.

Nachspiel.

Und so begab es sich, daß der Teufel - wir wissen, ein vielbemühter Vergleich - nach Heidelberg hinaufstieg und in die Aula benzte, um den potentiellen GenossInnen des Fegefeuers eine Rede darzubieten.
Wir zitieren: "Magnifizienz, Spekulatius - Verzeihung - Spektabilitäten. Verehrte niedere Geschöpfe. Das Land Baden-Württemberg, manche mögen sagen: die Hölle, hat im letzten Jahr mehr als 500 Millionen (Applaus brandet auf) Ihrer Universität zukommen lassen. Und daß Sie's wissen: Nur wer an einer Berufsakademie studiert, kommt in den Himmel. Und BWLer, meine Damen und Herren, werden Erz-engel (Applaus).Die Universitäten müssen noch viel tun. Wir, das Land, zahlen Millionen. (Applaus) Jede Mark heute ist keine Mark morgen (Applaus). Auch im nächsten Jahrtausend wird es noch arme Sünder geben, die Geisteswissenschaften für sinnvoll halten."

Als Grundsatzrede zur Hochschulpolitik angekündigt, ließ selbige höchstens noch den Bodensatz übrig. Wer was werden, haben oder überhaupt nur will,braucht dafür eben Ahnung von Wirtschaft und - guck, guck, Uli Wickert - ein Buch voller Tugenden.
Fehlte nur der Verweis auf die Freischußgeburt: Nach dem 7. Monat wird schonmal an den Mutterleib geklopft, ob's Kind nicht schon rauswill. Und wenn nicht (Wehe!) darf's es halt im 8. oder 9. nochmal probieren. Reifeprozeß und Lebensfähigkeit: negativ.
Wes Geistes des Landesvaters zukünft'ge Kinder sein werden? Prä-aufklärerisch, und prä-historisch. Ave, Teufel und auch Amen.

(Vorspiel ohne eile, Klimax mit kw, Nachspiel mit jk)

[Post Scriptum: Der schon seit Jahren von der Heidelberger Universität ersehnte und von Teufel in seiner Rede großspurig als beschlossene Sache - sprich Verdienst der Landesregierung - angekündigte Neubau des Verfügungsgebäudes wurde einige Tage später dann doch abgesagt. Professor Ulmer soll sehr erfreut gewesen sein...]


Mietspiegel für HD gefordert

Wie schon in vielen anderen Städten soll nun auch in Heidelberg ein Mietspiegel, also eine statistische Erhebung der durchschnittlichen Mieten in Abhängigkeit von Lage, Größe, Ausstattung etc., erstellt werden. Ein Mietspiegel dient einerseits als Beweismittel in Prozessen um Mietüberhöhungen (ab 20%) und Mietwucher (ab 50%), andererseits auch als Orientierungshilfe bei der Zimmersuche. Außerdem erhofft man sich einen drastischen Rückgang entsprechender Rechstreitigkeiten, weil Konflikte im Vorfeld anhand des Mietspiegels gelöst werden können. Für diese Erhebung liegen beim Studentenwerk bereits 10.000 DM bereit, die ein Gastronom, der Wuchermieten von Studenten verlangt hatte, als Bußgeld zahlen mußte.

Fraglich ist nun, ob der Gemeinderat ausreichend Geld zuschießen wird, um eine umfangreiche Erhebung, die ungefähr 350.000 DM (und jährlich ca. 150.000 zur Aktualisierung) kosten würde, zu ermöglichen. Die Entscheidung darüber soll am 4.12.1995 fallen. Über den Mieterverein läuft bereits eine Unterschriftensammlungen zur Unterstützung des Vorhabens. Vorgedruckte Postkarten und nähere Informationen gibt's auch in den FSK-Büros in der Lauerstr.1. (fw,lk)


Claus Bernhard vom Dach

Zusammengewachsen: Ein Mann und ein Bücherparadies weit oben in der Altstadt

Um passende Zitate ist Claus Bernhard Schmidt nie verlegen. Als ich den engen, mit Bücherregalen bis unter die Decke asphaltierten und durch einen nachträglich eingezogenen Zwischenboden auch noch zum Zweigeschoß erweiterten Raum der Studentenbücherei das erste Mal besuche, unterhalten wir uns beim Ausfüllen der Lesekarte über Nachnamen. Und als er erfährt, daß der komische Name seines neuen Kunden eng mit Göttingen verknüpft ist, taucht er auch schon in den Regalen unter, um Augenblicke später mit Heinrich Heines "Harzreise" wieder zu erscheinen. Aus der trägt er dann mit sichtlichem Genuß eine längere Laudatio auf das offensichtlich damals schon trostlose Göttingen vor. "Ein richtiger Verriß", freut er sich, augenzwinkernd.

Claus Bernhard Schmidt und die Studentenbücherei im Dachgeschoß des Philosophischen Seminars gehören zusammen, das merke ich schnell. Als er vor knapp zwanzig Jahren die damals schon seit 21 Jahren bestehende Bücherei unter seine Fittiche nahm, war er noch Hiwi, studierte Germanistik und Romanistik mit historischen und philosophischen Seitensprüngen und hätte sich 1976 wohl selbst nicht träumen lassen, daß er zwei Dekaden lang ihr Einkäufer und Buchverleiher, Advokat und Inventarisator sein würde. "Eigentlich ein Full-time-job", wie er sagt. Zu den vier Stunden, die er täglich hinterm Tresen verbringt, kommt eine weitere außerhalb der Öffnungszeiten, um Ordnung und Zuverlässigkeit gewährleisten zu können. "Und den Rest mache ich praktisch in meiner Freizeit", denn ausgeschrieben ist sein Job nur als Halbtagsstelle. Der "Rest", das bedeutet vor allem Bücher kaufen, möglichst günstig, denn der Etat beträgt 1,- DM pro Student und Semester, finanziert aus der Kasse des Studentenwerks, d.h. letztlich von den Studenten selbst: etwa 60000 Mark, in denen allerdings auch die Lohnkosten enthalten sind. Übrig bleibt Kohle für etwa 600 Bücher im Jahr: "Nur weil ich so günstig einkaufe". "Rest" bedeutet auch, auf dem Laufenden zu bleiben, denn eine der Besonderheiten dieses Kleinods der Bibliophilie in Heidelberg ist seine Aktualität.

Neue Leser werden auf einem kleinen Rundgang von Claus Bernhard Schmidt persönlich in die Geheimnisse seines Schatzkästchens eingeführt. "Die Weltliteratur ist bei uns komplett vertreten", erläutert er den Sammelschwerpunkt Belletristik. Die zweite große Fundgrube befindet sich oberhalb des Zwischenbodens, wo zwei komplette Regale der Geschichte des 20. Jhd. reserviert wurden: So wird allein sechsmal fündig, wer nach einer Stalinbiographie Ausschau hält. Aber es gibt auch leichter verdauliches, ein Bildband über Frederico Fellini in der Kinoabteilung, Photographen und Maler in Wort und Bild und: Reiseliteratur. "Der Geschmack hat sich deutlich gewandelt.", meint Schmidt im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre. "Marx und Engels liest kein Mensch mehr, auch Habermas wird nur noch selten verlangt." Die Studenten von heute lesen aktuelle Romane, und, parallel zum sich wandelnden Freizeitverhalten, gewinnt die Reiseliteratur zunehmend an Popularität. Eine andere größere Kundengruppe sind die Verzweifelten, deren Seminararbeit über Kreuzzüge vor der Tür steht und die in der UB nur noch gähnende Leere vorfanden. Aber der Hauptgrund, aus dem wahrscheinlich viele der momentan 1500 Leser immer wieder den Weg hinauf in den dritten Stock des Philosophischen Seminars finden, ist das Ambiente des kleinen Raums, das, gewollt oder ungewollt, die Sehnsucht nach der Altvorderen Zeit weckt. Jaja ... als Studium und Bildung noch dasselbe waren. Es gibt hier keinen Computer, der jeden eingegebenen Titel mit einem obskuren ZIP-Code beantwortet, der einem dann den Weg in ein buchgefülltes Kühlhaus weist, keine Infrarot-Lesegeräte, mit denen Charles Baudelaire abgefertigt wird wie ein Stück Butter bei Nanz. In die grüne Lesekarte wird jeder ausgeliehene Titel per Hand eingetragen, gerademal für das Datum gibt es einen Stempel. Wer keine Buchstaben mehr sehen kann, braucht nur aus dem Fenster blicken, um Alt-Heidelberger Schloßromantik zu tanken, oder, etwas mondäner, durch die gläserne Trennwand auf der anderen Seite einem Dutzend Slawistik-Studenten beim Tschechisch-Pauken zusehen. Ein beneidenswerter Arbeitsplatz, keine Frage. Überhaupt, die Optik ist wichtig, oben unterm Giebel: Schutzumschläge werden beim Ausleihen, in Invertierung aller Bücherei-Riten, ausnahmslos entfernt, "wegen der Rucksäcke", die dem willkommenen Blickfang häufig arg zusetzen.

Doch, man glaubt es kaum, auch über die Dächer der ehrwürdigen Altstadtuniversität bläst der Hauch des neuen Jahrtausends von Jahr zu Jahr stärker alten Traditionen ins Gesicht, und so erhält im kommenden Semester auch die Studentenbibliothek ihren Computer. Im Bibliothekssystem HEIDI wird sie unter dem Signum SU schon seit 1985 geführt, und auch was den erneuten Anschlag auf ihre Ursprünglichkeit angeht, gibt sich Claus Bernhard Schmidt anpassungsfähig: Sein Traum ist ein detaillierter Sachkatalog, der dann den Zettelkasten hinterm Tresen ablösen würde.

Während wir uns so unterhalten, kommen und gehen nicht nur die Minuten, sondern auch die Leser, denen bei der Büchersuche geholfen wird, wann immer es geht. In einem Fall ging es nicht. Richard Beer-Hofmann wurde verlangt, ein Autor aus dem Wien der Zwanziger. Schmidt, stolz auf die belletristische Lückenlosigkeit seiner Sammlung, wird zum Kämpfer mit Pathos: "Der wird heute zum erstenmal in zwanzig Jahren an mein Ohr getragen." Als der Leser schmunzelnd hinzufügt, daß es dann aber Zeit würde, wird das Gespräch ironisch: "Wir sind nicht dazu da, den österreichischen Schöngeist der Zwanziger wiederzubeleben. Bei unserem begrenzten Budget ist uns im Zweifel Handke wichtiger." Und grinsend empfiehlt er als Alternative Karl Kraus (der genau dieses Milieu mit Vorliebe verrissen hat).

Das Gespräch und dieser Artikel enden mit einem Versprechen. Er werde sich die zweibändige Gesamtausgabe im Buchhandel kaufen, verabschiedet sich der Leser, "und wenn ich sie durchhabe, mache ich sie zu einer Spende und stelle sie hier ins Museum, äääääh Bücherei." (gvg)


Jurist wider Willen

Einer der bedeutensten Rechtsphilosophen lehrte in Heidelberg - kaum einer kennt ihn noch

Jurisprudenz: Das ist doch die Klugheit, den Mitmenschen die Dinge so repräsentieren zu können, wie es der Karriere am dienlichsten ist. Jura. Das Fach für Töchter und Söhne unsere Volkes, die zwar durchaus an die Uni wollen, aber weder für Naturwissenschaften noch für die geistigen Dinge des Lebens je zu begeistern waren. Das Fach auch für die Harten und die eiskalt kalkulierenden Typen.
Vorbehalte und Vorurteile gegen die Rechtswissenschaft gibt es genug. Juristen sind daran gewöhnt. Merkwürdig nur, wenn die Kritik aus den eigenen Reihen kommt, von einem, der Größtes in dem Fach geleistet hat: Gustav Radbruch.

Eigentlich wollte Radbruch, 1878 in Lübeck geboren, gar nicht Jura studieren. Doch sein Papa, ein gut bürgerlicher Kaufmann, verlangte es von seinem Sohn. Andere Zeiten, andere Sitten. Später wird Radbruch diesen Gehorsam wohl nicht mehr bereut haben, doch interessanterweise blieb er stets "Jurist mit schlechtem Gewissen", wie er sich selbst bezeichnete. Jura war für ihn nicht eine Leiter zu den Sternen, sondern eine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe. "Es ist eine Notwendigkeit des juristischen Berufes, sich zugleich seiner Hoheit und seiner tiefen Fragwürdigkeit in jedem Augenblick bewußt zu sein." Und: "Was für den Richter überhaupt gilt, gilt ganz besonders für den Strafrichter: daß auf ein Lot Jurisprudenz ein Zentner Menschen- und Lebenskenntnis kommen müsse." Daß dieser Wunsch der Realität nicht entsprach, bedauerte Radbruch zutiefst. Er sah die Wurzeln des Übels im gängigen Ausbildungssystem, das Juristen hervorbringe, "die nicht als die Erwünschtesten erscheinen, nämlich die kalten, scharfsinnigen Intellektsmenschen ohne lebendiges Rechtsgefühl, ohne warme Menschlichkeit."

Nachdem Radbruch 1903 sein Studium in München, Leipzig und Berlin und die Dissertation abgeschlossen hatte, habilitierte Radbruch 25jährig in Heidelberg. Er wurde zu einem der beeindruckendsten Professoren. Seine Schüler berichteten noch Jahre später voller Begeisterung von seinen Vorlesungen und seiner freundlichen Art. So begleitete Radbruch einmal einen verzweifelten, durchgefallenen Examenskandidaten durch die ganze Stadt nach Hause, um ihn zu trösten. Andererseits ließ er es auch an Kritik - wie zum Beispiel gegenüber den Verbindungen, die er als dem Geist der Demokratie zuwider aburteilte - nicht fehlten.

Respekt war Radbruchs Grundhaltung auch gegenüber den Menschen, um die es in seinem Fach eigentlich ging: den Angeklagten und Verurteilten. In seinen Vorlesungen kam er oft auf scheinbar sachfremde Dinge zu sprechen: "Ich kann Sie versichern, in jedem Menschen gibt es einen Punkt, in dem man einsetzen kann, um ihn ganz umzuwandeln; aber auf Menschen einwirken kann man nur mit der Liebe, und diese Liebe zu den Ärmsten und Elendesten in Ihnen geweckt zu haben, das ist mein Wunsch." Wahrhaft merkwürdige Worte für einen Juraprofessor.

Diesem Geist gemäß versuchte Radbruch auch als Reichsjustizminister zu wirken. 1920 war er als Abgeordneter der Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt worden. Als man ihm 1921 das Reichsjustizministerium antrug, ließ er sich zur Annahme dieser Aufgabe erst durch dringendes Bitten Friedrich Eberts überreden. In den fünfzehn Monaten seiner Dienstzeit hatte er eine erstaunlich große Wirkung. Während seiner Amtszeit wurde beispielsweise das Jugendgerichtsgesetz erlassen, das endlich das Jugendstrafrecht vom allgemeinen Strafrecht trennte. Besonders lag ihm an einer Reform des Strafrechts, das sich in seiner Form von 1871 als veraltet erwies.

Als ihm später angeboten wurde, zum zweiten Mal Justizminister zu werden, lehnte Radbruch ab; er war davon überzeugt, daß er am besten für die Lehre geeignet sei. Um so härter traf es ihn, als er 1933 kurz nach der Machtergreifung als einer der ersten Professoren entlassen wurde, "da er nach seiner ganzen Persönlichkeit und seiner bisherigen politischen Betätigung (...) nicht die Gewähr dafür" biete, "daß er jetzt rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt". Zwar kommentierte er dieses Ereignis zunächst lakonisch mit dem Bibelwort: "Sie gedachten es böse mit mir zu machen, aber Gott hat es gut mit mir gemacht" und nutzte die gewonnene Zeit, um schrifstellerischen Tätigkeiten nachzukommen. Wie sehr ihm aber die Lehre fehlte, zeigten nicht zuletzt seine intensiven Bemühungen, an der Zürcher Universität 1934 eine Dozentur zu erhalten, und die große Enttäuschung, als sich das zerschlug. Doch im Ausland gewann Radbruch an Einfluß und seine Schriften wurden in viele Sprachen übersetzt.

Am 7. September 1945 wurde Radbruch - inzwischen ein alter und kranker Mann - wieder ins Lehramt eingesetzt. Über die neue Studentengeneration schreibt er: "Ungeheuer fachwissenschaftlicher Fleiß bei nicht wiedergutzumachenden Mängeln der Allgemeinbildung, viel Kritik- und Propagandafestigkeit, absolutes Mißtrauen gegen die Partei, instinktive Abwehr gegen Aufrollung der Vergangenheit." 1946 berichtet er über seine Lehrtätigkeit: "Ich habe trotz meiner geschwächten Gesundheit in den beiden Semestern, die seit Januar vergangen sind, das Glück des Wirkens so stark erlebt wie nie zuvor."

In dieser Zeit entstand die sogenannte Gustav-Radbruch-Formel, in der er versuchte, das Unrecht zu definieren, das die Richter des Nazireiches begangen hatten: "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Satzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur 'unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren dann als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen."

Radbruch wußte um die Unzulänglichkeit dieser Definition. Dennoch ist sie bis heute maßgeblich. Für Jutta Limbach etwa, die Präsidentin des Bundesverfassungsgericht, hat die Formel in bezug auf das Recht der Ex- DDR wieder neue Aktualität.

Auch in bezug auf das Christentum hatte Radbruch nach 1945 eine völlig neue positive Auffassung, was ihn nach 1945 zunächst von der SPD fern hielt. Er fühlte sich der CDU näher und erhoffte sich von ihr ein Bekenntnis zum christlichen Sozialismus. Er nahm sogar an der Gründungsversammlung der Heidelberger Christlich-Sozialen-Union teil, doch trat er der CSU nie bei. Seine Hoffnung, daß die neue Partei "im wesentlichen zu einer erweiterten und konsequent sozialistisch eingestellten" Partei werde, erfüllte sich nicht. Im Juli 1948 trat er dann doch wieder in die Sozialdemokratische Partei ein. Im selben Monat hielt er seine Abschiedsvorlesung, in der er sich zur Sozialdemokratie bekannte.

Am 23.11.1948 starb Gustav Radbruch an einem Herzinfarkt. Es ist merkwürdig, daß er so in Vergessenheit geraten ist. Der Mann, der an unserer Universität seine für die junge Demokratie so wichtigen Thesen lehrte; ein Mann, der uns gezeigt hat, was für einen Juristen die Alternative zum "kalten, scharfsinnigen Intellektsmenschen ohne lebendiges Rechtsgefühl" sein kann. (hee)


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