"Feuilleton"


ruprecht on the record

Review

Wohlige Wunschkonzertweihnacht: Willkommen! Für alle die, die zum Frohen Fest nicht die siebenunddreißigste Kuschelrock oder ähnlichen Musikmüll verschenken wollen, sei an dieser Stelle nochmal auf einige, zutiefst subjektiv herausragende musikalische Schöpfungen der vergangenen 12 Monate zurückgeschaut. Beginnen wir mit dem Top-Act der deutschen Hip-Hop-Szene, den Fantastischen Vier. Deren LP "Lauschgift" legte - noch weit über "Sie ist weg" hinaus - die Meßlatte für deutschsprachigen Sprechgesang mit abwechslungsreicher musikalischer Untermalung weiter nach oben. Etwas schräger, aber mindestens genausogut (und auch, trotz "Fick mein Gehirn", ziemlich ernsthaft) präsentierten sich die Hamburger Fischmob mit "Männer können seine Gefühle nicht zeigen" (Extratip!). Im Rap/Jazz-Bereich sei auch nochmals auf "One step ahead of the Spider" von MC 900 Ft. Jesus hingewiesen: Niemand erzählt so relaxed und atmosphärisch dicht Geschichten, zu denen man am liebsten im Oldtimer durch eine verregnete Nacht fahren möchte. Im DancePop/Jazz-Grenzbereich (oder wie auch immer) erblühten dieses Jahr vor allem Portishead mit ihrem grandiosen, anheimelnd-kühlen Werk "Dummy": Wunderschön und eisig zugleich und man weiß gar nicht, ob man jetzt lieber allein oder zu zwein wäre; "Glory Box" ist denn ja auch ein richtiger Hit geworden.

Eine der meisterwarteten Platten war '95 auch "One hot minute" von den Red Hot Chili Peppers. Enthält zwar keinen Mega-Hit, ist aber dennoch verspielt, groovy und garantiert gut für - wie in nahezu jeder Kritik stand - mehr als eine heiße Minute. Ebenso aufgelebt sind auch die Frickel-Funk-Kollegen von Primus, die sich nach der etwas faden "Pork Soda" mit "Tales from the Punchbowl"wieder auf alte Tugenden besannen und ein (inzwischen) zwar etwas gewollt witzig wirkendes, aber dennoch wirklich ge(k)lungenes viertes Album vorlegten. An alte Zeiten knüpften glücklicherweise auch die p.c.-Hardcore-Recken von Fugazi mit "Red Medicine" an und besonders Sonic Youth bewiesen uns mit "Washing Machine" einmal mehr, wie nach Fein-und Hauptwaschgang inklusive Schleudern auch bei 95 Grad (kochend, mindestens!) eine Reinheit und Klarheit herauskommt, die Dutzend andere Produkte so einfach nicht bieten.

Zum Abschluß den Dreierpack:

1. Die beste Platte des Jahres war und ist "12" von den Weilheimern The Notwist. Melodisch, getragen, hart, krachig stößt diese Über-LP in Bereiche jenseits des Grunge vor, die zu erreichen wir niemals zu träumen gewagt hätten. Wer nicht ein kleines Tönchen dieses Albums gehört hat, hat das Musikjahr '95 wohl wirklich verpennt.

2. Das beste Weihnachtsgeschenk des Jahres stammt dennoch aus dem Popbereich und kommt somit auch den erwähnten Kuschelrock-Abhängigen entgegen: Die holländische Band The Nits veröffentlichte kürzlich eine Best-of-Compilation mit dem Titel "Nest". In selbig-weihnachtliches kann man sich diese Werkschau aus 17 Jahren Bandgeschichte auch unbedenklich legen, finden wir hier doch wunderschöne, balladeske, teils avantgardistisch angehauchte Popsongs, die in ihrer zeitlosen Schönheit ein wenig reale Besinnlichkeit schenken. Schlichtweg wunderbar.

3. Der beste Ausblick auf's kommende Jahr ist das neue, zweite Album von Mr. Bungle, dem musikalischen Alter Ego von Faith No More-Sänger Mike Patton. Was auf "Disco Volante" als Melange aus Jazz, DiscoDancing und Metal ebenso ungestüm und brachial wie durchdacht über uns hereinbricht, ist schlichtweg umwerfend. Und Titel wie "Everyone I went to Highschool with is dead", "Chemical Marriage" oder "Desert Search for Techno Allah" geben doch wirklich Hoffnung auf ein kurzweilig-unterhaltsames Musikjahr 1996, oder!? (jk)

Beastie

Money Mark: Mark's Keyboard Repair (Mo'Wax)
Eine Mo'Wax-Scheibe kann eigentlich nicht schlecht sein, und wer die Beastie Boys mag, wird auch die Soloplatte ihres Keyboarders Money Mark mögen, erinnern einige Instrumentaltracks teilweise doch stark an die letzten Veröffentlichungen der Band. Aber auch gewisse musikalischeTendenzen zum Portishead- oder Trickysound sind hier nicht zu überhören, wobei Money Mark allerdings darauf verzichtet, düster bis kommerziell zu klingen. Er verpackt hier Trip Hop, Jazz-, Funk- und Hip Hop-Elemente in ein Gewand aus Hammond und anderen analogen Späßchen, und so groovt diese Platte locker vor sich hin, ohne jedoch wirklich mitzureißen. Fast schon Easy Listening. (ml)

Techno

Astral Pilot: Electro Acupuncture (Harthouse/ Eye Q)
Und wieder einmal beglückt uns die Klangschmiede Eye Q mit einer Doppel-LP ihres inzwischen zum Popstar avancierten Mitbegründers Sven Väth. Dessen Experimentierfreudigkeit gepaart mit der klangtechnischen Perfektion eines B-Zet sind wohl die besten Voraussetzungen für das Projekt Astral Pilot. Väth läßt sich bei dieser Platte auf keine Kompromisse ein, er geht den alten, gewohnt monotonen, aber durchschlagenden Weg der Energie und hat hier in Zusammenarbeit mit B-Zet eine LP vorgelegt, die durch Klangfülle und Intelligenz besticht. Sei es der Titeltrack, der eher im Trancebereich anzusiedeln ist, oder das für den Sound der Frankfurter Schule typisch harte und dennoch klug durchdachte "Needle Drama", Väth und B-Zet ist es gelungen, durch die Verbindung eher konventionellerer Sounds und deren konstantem Aufbau innerhalb der Tracks eine musikalische Spannung zu erzeugen, die den Hörer bannt. (ml)

Stones

Die Live-CD, zu der sich die Rolling Stones in Hinblick aufs Weihnachtsgeschäft auch nach der aktuellen Tournee wieder entschlossen haben, konnte keine weitere Zusammenstellung von plattem, dümmlich arrangiertem und lieblos heruntergespieltem Stadion-Rock sein wie die des "Flashpoint"-Albums. So hat sich die Gruppe auf "Stripped" an den "Unplugged"-Boom angehängt und ihre Stücke durchgängig akustisch oder halbakustisch arrangiert. Bei den langsamen Songs geht dies Konzept voll auf; den anderen Liedern allerdings, so auch der als Single ausgekoppelten Fremdkomposition, fehlt es ein wenig an Biß. Erfreulich ist, daß wir eine erstaunliche Anzahl der Songs nicht schon von mindestens fünf anderen Alben und Hitkopplungen kennen. Immerhin gelingt es der Gruppe mit diesem Album, den seit 1972 andauernden Trend zur Selbstdemontage vorläufig zu stoppen, und die Erstversionen der Kompositionen werden in keinem Fall wesentlich beschädigt. Man stelle sich die Stones auf diesem Niveau voll elektrifiziert vor! (jpb)


Cyberbrains und Androiden

Masamune Shirows "Ghost in the Shell"

Seit kurzem gibt es nach "Appleseed" und "Dominion" von Ehapa eine dritte Comicserie vom japanischen Starzeichner und -texter Masamune Shirow. "Ghost in the Shell", so der Name des Comics oder besser Mangas, wie man japanische Comics auch nennt, erzählt die Geschichte Motoko Kusanagis, einer Majorin einer Anti-Terroreinheit in einer High-Tech-Welt nach dem vierten Weltkrieg.

Shirow, 1985 für "Appleseed" mit dem Shei-sho Preis für den besten Science-Fiction-Comic ausgezeichnet, bleibt seiner Linie mit diesem Comic treu und behandelt die Probleme der technisierten Welt, der die Verbindung zwischen Computerchip und Nervenzelle gelungen ist. Und so beschränkt sich Gewalt und Verbrechen nicht mehr auf die reale Welt, sondern findet auch in den Köpfen vernetzter Menschen und Androiden statt.

Shirow, graduiert in Ölmalerei an der Universität Osaka, besticht wie gehabt mit seinen genialen Zeichnungen, die zum Teil sogar coloriert sind, natürlich von ihm selbst. Ungewöhnlich oft ändert jedoch Shirow seinen Stil und wechselt von seinen abgefahrenen Technologievisionen zu einfachen Kinderzeichnungen. Allzu ernst scheint er "Ghost in the Shell" nicht zu nehmen. (jr)


ruprecht goes to the movies

(in Klammern die Anzahl der ruprechte)

ruprechts Notenskala:
- nicht empfehlenswert
* mäßig
** ordentlich
*** empfehlenswert
**** begeisternd

Biester (4)

Wirklich, Du fragst Dich eine knappe Stunde lang, warum dieses verschlossene, schüchterne Wesen namens Sophie, das noch nicht einmal lesen kann, eines der beiden im Titel protzig angekündigten Biester sein soll. Fast bist Du geneigt, Claude Chabrol einen Langweiler zu schelten, der sich in ermüdenden Schilderungen sozialer Milieus und schwerfälligen Dialogen verliert.

Doch dann, unmerklich und subtil, rutscht der Film in die Schieflage, bekommt Dynamik und Dichte. Und als es soweit ist, merkst Du, daß Chabrols Claude Dich wieder mal an der Nase herumgeführt hat, denn es war alles schon lange da. Inklusive der dunklen Geheimnisse von Haushälterin Sophie und ihrer Freundin Jeanne, die sie sich unter wildem Lachen gestehen: ein Vatermord, ein Kindermord.

Wie eine Lawine rast der Film weiter: Sophie wird gefeuert, will noch schnell ihre Sachen holen und platzt zusammen mit Jeanne in einen trauten Fernsehabend der Familie. Es folgen vier Leichen, von dicken Jagdgewehrprojektilen zerfetzt. Genial: Chabrol hält sich nicht lange mit psychlogischem Gequatsche auf, der Zuschauer wird brutal vor den Kopf gestoßen. Vergebens sucht er nach einem greifbaren Motiv, bleibt aber irgendwo in der diffusen Atmosphäre stecken. Aufatmen:Keine perfekt einrastenden Bausteine aus der Küchenpsychologie à la Hollywood, keine nervigen Rückblenden nach dem Motto "schwere Kindheit". Manches passiert eben einfach, wenn Biester mitspielen. So einfach kann ein Meisterwerk sein.

Der Postmann (3)

Irgendwo im Süden, auf einer kleinen italienischen Insel zu Beginn der 50er Jahre. Die Ruhe der Fischer wird gestört durch die Ankunft des chilenischen Dichters Pablo Neruda (Philippe Noiret), der hierher ins Exil geflohen ist. Da er Berge an Post bekommt, wird extra für ihn ein Briefträger gesucht. Der junge Mario (Massimo Troisi) sieht eine Chance, der Eintönigkeit des Fischeralltags zu entkommen und bewirbt sich um den Job. Da er einer der wenigen im Dorf ist, die überhaupt lesen können, kann er gleich seinen neuen Posten antreten. Langsam freunden sich die beiden ungleichen Männer an, und Mario lernt durch Pablo die Welt der Poesie kennen. "Die Zunge ist nicht nur dazu da, Briefmarken anzulecken", erkennt er. Seine neuen Fähigkeiten kann der eher schüchterne Mario gleich ausprobieren, als er sich in die hübsche Beatrice verliebt. Mit Hilfe seines Freundes - und einiger gestohlener Gedichte - schafft er es, die Angebetete für sich zu gewinnen. Bei der Hochzeitsfeier erhält Pablo die Nachricht, daß er in sein Heimatland zurückkehren darf.

Als die Politik in das Dorf Einzug hält, spitzen sich die Ereignisse schnell zu, und bei der Rückkehr Pablos nach fünf Jahren kann sich dieser nur noch die Tonbandaufnahmen Marios anhören.

Das Ambiente des Fischerdorfes und die Poetik Nerudas sind die Faktoren, die den Film tragen und ihn liebenswert machen. Die Tragik des Streifens liegt eher außerhalb, denn einen Tag nach Beendigung der Dreharbeiten ist der Schauspieler und Regisseur Troisi gestorben.

Der Totmacher (3)

Nach seinem kontrovers diskutierten Debüt Warheads sorgt Jungregisseur Romuald Karmakar auch mit seinem zweiten Werk für Aufsehen. Die Vernehmungsprotokolle des 1924 hingerichteten Massenmörders Fritz Hamann dienten als Drehbuchgrundlage eines Filmes, der in parabolischer Verdichtung den Ursachen einer Katastrophe nachgeht. Karmakar verläßt sich ganz auf die Macht der Sprache. Nie verläßt seine Kamera die düstere Amtsstube, die Gesichter seiner Schauspieler (beeindruckend Götz George als Hamann) sind lebendige Kulisse einer Suche nach Motiven und Ursachen grausamer Morde und dem Mensch im Schächter, der sie beging. "Taten die Opfer ihnen nicht leid?" fragt der Psychiater. "Waren doch nur Puppenjungs, hab´s doch nicht gewollt," lacht Hamann." So und so und so, ganz schnell ging das. Ist nicht viel, so ein Mensch." Zwei Stunden hört man dem Wahn beim Denken zu.

Die Zeiten des Großen Totmachers sollten noch kommen.

Sieben (2)

Steffi sagt: "Also ich fand den attraktiv" und meint den Mystik-Mörder John Doe (Kevin Spacey) aus dem Thriller Sieben. Darin jagen Morgan Freeman und Brad Pitt als Detectives Mills und Somerset einen mutmaßlich Geisteskranken, der seine Opfer rituell analog der sieben Todsünden ermordet. Zu Anfang noch atmosphärisch dicht (Taschenlampen in dunklen Räumen), in der Mitte leicht übertrieben (die Dekorateure müssen einen Mordsspaß gehabt haben, die Wohnung des Mörders einzurichten), am Ende leider absehbar (zumindest für alle die, die auch bei Miss Marple schon gerne mitgerätselt haben).

Von einigen logischen Fahrbahnunebenheiten (100.000 Bücher zuhause und trotzdem einen Bibliotheks-ausweis?) abgesehen, beugt sich allerdings auch der hier Häme ausgießende Rezensent der überwältigenden Mehrheit der Redaktion und gesteht dem Film zu, "für einen amerikanischen Film wirklich intelligent und spannend gemacht zu sein." Vielleicht geht die intellektuelle Diskussion an dieser Stelle nicht tief genug, vielleicht war der echte John Doe wirklich ein Mystiker des Mittelalters. Natürlich aber benutzt der Film das religiöse Motiv nur zur Mystifizierung, die er stellenweise auch bitter nötig hat. Seltsam, wie sich die mitunter recht gelungenen existentialistischen Dialoge mit nervigen Plattheiten abwechseln. Aber vielleicht ist ja das Leben tatsächlich so. Trotz aller differierenden Meinungen: Pluspunkte gibt's auf jeden Fall für den famosen Vorspann. Und das iss doch schon was.

Pocahontas (3)

Walt Disney-Filme sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Nach dem Shakespeare-Drama König der Löwen schockt die Company zur Weihnachtszeit mit einer Sophokles-Tragödie namens Pocahontas. Die Story dazu ist schnell erzählt und birgt sogar einen Funken Realitätsbezug: Die imperialistischen Engländer überfallen das wunderschöne Virginia. Pocahontas, die Tochter des Häuptlings des dort angesiedelten Indianerstammes, verliebt sich in den blonden und blauäugigen John Smith, einen Söldner. Dank ihrer Liebe zueinander verhindern beide einen Krieg zwischen den Siedlern und den Indianern. Sie bekommt jedoch ihn nicht am Ende. Und so verläßt man weinend das Kino mit der Gewißheit, daß die Liebe einzelner leider unter den Bedürfnissen vieler gegraben wird.

Wenn jetzt aber der Gedanke gekommen ist, der Film sei schlecht, so liegt man falsch. Die Bilder - vor allem die Landschaften - sehen wunderschön aus, die Lieder reizen einen nicht gleich zum Kotzen, und die Hauptdarstellerin ist weder blond noch hat sie eine geliftete Nase! Es ist der beste Film, den Disney jemals produziert hat, gerade weil er nicht in das übliche "ach, wie nett"-Schema paßt und ein trauriges Kapitel der amerikanischen Geschichte aufgreift. Pocahontas Volk existiert heute nämlich nicht mehr! Aber daß sich überhaupt ein Walt Disney-Film mit einer politischen Aussage befaßt, ist schon eine nennenswerte Neuigkeit, vor allem wenn der "pc"-Zeigefinger nicht allzu groß ist, und die letzten fünf Minuten noch ansehbar sind.


Eine Frage der Zeit

Günter Grass über die Andersartigkeit des "Weiten Feldes"

Günter Grass war da. Am vorvergangenen Wochenende konnte

Heidelberg den Dichter leibhaftig erleben: Zunächst in der Galerie Melnikow, wo er eine Ausstellung seiner Druckgraphik eröffnete, dann in der Neuen Aula der Universität bei einer Lesung aus dem 14. und 15. Kapitel seines neuen Romans. Professor Kiesel, der mit der Literarischen Gesellschaft Palais Boisserée und dem Rektorat den Aufenthalt des Künstlers in der Stadt arrangiert hatte, lobte in seiner Begrüßung ebenso ausführlich wie ausschließlich die "Blechtrommel".

Einem ausgewählten Kreis von Honoratioren und Wissenschaftlichen Hilfskräften stand der Künstler anschließend auf einem Empfang im Haus Buhl zur Verfügung, und ein noch ausgewählterer Kreis, eine streng begrenzte Anzahl angemeldeter Germanistik-Studierender , hatte am nächsten Tag im Rahmen eines außerordentlichen Seminars die Möglichkeit zu einer Fragestunde. Diesem schönen Beispiel lebensnaher Literaturwissenschaft verdanken wir einigen Aufschluß über den neuen Roman, denn der Autor antwortete nicht nur erstaunlich geduldig und genau auf die gestellten Fragen, sondern gab auch interessante spontane Selbstkommentare ab. Verbannen wir also die Aufgeregtheiten der journalistischen Primärrezeption aus dem Gedächtnis und versuchen, das "Weite Feld" noch einmal unvoreingenommen zu betrachten.

Grass selber sagt, es sei ihm um dreierlei gegangen: Er habe einerseits eine verdeckte Fontane-Biographie und andererseits einen Berlin-Roman schreiben und außerdem den Prozeß der deutschen Einheit erzählerisch gestalten wollen.

Seine Thesen zur Wiederverei-nigung sind aus verschiedenen Essaysammlungen sattsam bekannt. Aggressive Kritiker werfen ihm, nicht völlig zu unrecht, vor, in geschichtlichen und politischen Fragen mehr Meinung als Kenntnis zu besitzen; allerdings sollte man sich hüten, im gleichen Atemzug auch deren Ursprung zu verdammen, nämlich die Weigerung, die Konzentrationslager des Dritten Reiches hinter irgendeiner Art von Schlußstrich zurückzulassen. Unbestreitbar ist auch, daß das "Weite Feld" ein wesentlich differenzierteres Meinungsspektrum bietet, als man der öffentlichen Debatte nach annehmen sollte - was den Autor aber nicht hindert, das nur sehr bedingt antifaschistische Diktum von der DDR als einer "kommoden Diktatur" ausdrücklich aufrechtzuerhalten, das bei allem fontanesken Relativismus doch ein Tritt ins Gesicht jedes Stasi-Opfers ist.

Zugleich verwahrt sich Grass in Hinblick auf die Erzählstruktur des "Weiten Feldes" gegen die Annahme, er habe die Ereignisse dieses und des vergangenen Jahrhunderts "parallelisieren" wollen; es sei ihm in seinem Bemühen um eine geschichtliche "Tiefendimension" vielmehr nur darum gegangen, "zwei Folien übereinander[zu]legen, die sich stellenweise decken". Diese Äußerung ist bemerkenswert, denn sie gesteht unumwunden die Selektivität des Verfahrens ein und macht deutlich, daß das Romankonzept in der Tat nicht auf einen geschichtlichen Erkenntnisgewinn hin angelegt ist, sondern im Bereich der Beliebigkeit operiert.

Dieselbe Verschwommenheit und Diskontinuität herrscht in puncto Fontane. Das "Weite Feld" dokumentiert in eindrucksvoller Breite die Grass'sche Rezeption des Autors, ist aber in Bezug auf dessen Leben und Werk weitgehend wertlos: Abgesehen von einer Unzahl bloß zitierter Namen und Ereignisse bietet der Roman bestenfalls noch einige motivsystematische Betrachtungen; jedes Literaturlexikon bringt größeren Erkenntnisgewinn. So unglaubwürdig die selektive Parallelisierung als geschichtliches Begründungsmodell ist, so wenig nutzt Grass die Möglichkeit des Anschauungsgewinns, der allein die nun vollständige Projektion der fontaneschen Biographie in den Romanhelden der Wendejahre hätte motivieren können.

Und aus ähnlichem Grund ist auch das Unternehmen des Berlin-Romans gescheitert: In den seltensten Fällen wird eine spezifische, unverwechselbare Atmosphäre hergestellt, meistens bleibt es bei der Nennung von Namen und der Wiedergabe historischer Ausschnitte. Grass schildert, beschreibt, erzählt nicht, sondern er zählt auf, kompiliert, referiert und kommentiert; und seinen wenigen wirklich gelungenen Metaphern traut er so wenig, daß er sie sofort erklärt.

All dies gewinnt allerdings seine innere Rechtfertigung, wenn man den Text unter dem Aspekt des Erzählerkollektivs, der Angestellten des Potsdamer Fontane-Archivs, betrachtet: In der Tat stellt der gesamte Roman eine Archivierung dar oder zumindest die Beschreibung einer Archivierung. Aber wieviel eleganter und effektvoller ist hierin Walter Kempowski, dem schon mit seinen Chronik-Romanen Meisterwerke unprätentiöser Geschichtsliteratur gelungen sind und der im "Echolot"-Projekt völlig hinter seinen Stoff zurücktritt und nur noch als Herausgeber erzählerisch tätig wird!

In diesen Zusammenhang gehört auch der Vorwurf, daß die Haupt-figuren des neuen Romans, der Fontanewiedergänger und sein Spitzel-Begleiter, nichts als theoretische Konstrukte seien. Dazu sagt Grass, viele, wenn nicht überhaupt alle Figuren der Literatur seien "Kunstfiguren"; allerdings wirken die wenigsten so leblos wie die Grass'schen Protagonisten. Auch den Helden seiner großen Romane haftete stets etwas Artifizielles an; ihnen aber stand stets ein dichtes Inventar von Dingsymbolen zur Seite, in denen sich Gefühle und Gedanken sinnfällig manifestieren ließen, und außerdem ein extrem sensualistischer Schilderungsstil.

Im "Weiten Feld" werden stattdessen Gespräche geführt, Gespräche, die in den besseren Passagen den fontaneschen Plauderton imitieren, denn, wie der Autor mit Verweis auf sein Vorbild sagt, der Stil komme "immer aus der Sache". Grass übersieht dabei allerdings, daß Fontanes Romane ihre Wirkung keineswegs ausschließlich aus den Gesprächen beziehen.

Außerdem, so Grass weiter, entwickle sich "mit der Zeit eine eigene Diktion". Und genau so wirkt alle Sprache im "Weiten Feld", die sich nicht in der einen oder anderen Hinsicht von Fontane ableiten läßt: Wie ein Relikt aus besseren Tagen des Autors, als der Stil noch eine bestimmte Sicht des Beschriebenen bedeutete und den Text zu einer unlösbaren Einheit von Form und Inhalt verband, wie ein Überbleibsel, das nur mehr die Funktion hat, dem Text die Grass'sche Autorschaft einzuprägen.

Unzweifelhaft gibt es gelungene Passagen im "Weiten Feld", und Grass selbst sagt sogar, er könne "eine ganze Menge davon nennen". Allerdings zeichnen sich die in diesem Zusammenhang gewöhnlich zitierten Stellen weniger durch Lebendigkeit als durch einen sentimentalen Grundton aus. Das "Weite Feld" krankt daran, daß Grass einerseits im Detail zu nah an der Oberfläche der Gegebenheiten schreibt und damit den künstlerischen Wert ihrer Behandlung in Frage stellt und andererseits die Zusammenhänge 'gesprächsweise' derart verwischt, daß die Themen nur noch bedingt als solche ernstzunehmen sind. Und über alldem lastet ein bleischwerer Determinismus; denn sämtliche Ereignisse der erzählten Zeit sind dem Leser potentiell von vorneherein bekannt.

Es kann nicht Sinn einer Rezen-sion sein, in der Frage der Wer-tung auf die kommenden Generationen zu verweisen, wie ja im Zusammenhang mit dem "Weiten Feld" ernsthaft gefordert wurde. Dennoch scheint es angebracht, nicht einen ersten (und womöglich fremdgesteuerten) Impuls des Unwillens zum Urteil zu erheben, sondern, wie der Autor selbst fordert, zu versuchen, den Roman "in seiner Andersartigkeit" zu begreifen.

Am Ende sieht sich der Leser auf einen sehr grundlegenden Aspekt des Romans, ja der Literatur und gar seiner Existenz an sich verwiesen: auf den der reinen Zeitlichkeit. Die Länge des Romans, dessen Erschaffung lesend nachzuvollziehen als ein kathartisches Erlebnis begriffen werden kann, wird von Grass als ein "Reiz" des Werkes bezeichnet, und ebenso das Verschwimmen der Jahrhunderte, das manchen Leser irritiert: "Die Zeit ist aufgehoben. Das ist eine Stärke der Literatur."

Liegt in der Radikalität, mit der Grass zugunsten dieser Erfahrung letzlich von allen konventionellen literarischen Kriterien abstrahiert, die wahre Bedeutung des "Weiten Feldes"? Der Titel schließt, wörtlich genommen, diese Möglichkeit immerhin ein. (jpb)


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