Heidelberg


Es ist angerichtet!

Studierende gründen Heidelberger Tafel

Jeden Tag laufen wir an ihnen vorbei. Wir ertragen ihr plärrendes Kofferradio, wenn wir zur Vorlesung stürzen, wir setzen in Bogart-Manier das Ignoranten-Gesicht auf, wenn sie uns mit der Frage "Haste vielleicht 'ne Marke für mich?" vor der Mensa abfangen. Klar, das Gewissen meldet sich schon, wenn wir dann nach einem Fünf-Minuten-Marsch völlig durchgefroren in unsere warme Stube zurückkehren und uns heiße Spaghetti Bolognese einverleiben. Doch nicht nur die, die wir mit Schlafsack auf der Straße sehen, wissen heute nicht, wovon sie morgen leben sollen. Denn neben den Obdachlosen gibt es noch viele andere - z.B. Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger - in Heidelberg, die am Rande des Existenzminimums leben, sich aber scheuen, ihre Armut in der Öffentlichkeit preiszugeben. Auf der anderen Seite wird allerdings ein Fünftel aller Lebensmittel weggeworfen.

Die Idee, daß sich dieses Problem mit einer einfachen Rechnung lösen lassen müßte, war zwar nicht in Heidelberg geboren, doch ein paar Heidelberger Studenten nahmen sich das Modell der "Hamburger Tafel" zum Vorbild: Dort werden schon seit einigen Jahren Lebensmittel aus dem Einzelhandel, die nicht mehr gebraucht werden, eingesammelt und an Bedürftige verteilt. Nach dem Motto "Was die Hamburger können, können wir schon lange" gingen im Juli dieses Jahres sieben Studierende ans Werk und initiierten die "Heidelberger Tafel". Nach einigen Monaten Organisationszeit startete das Projekt nun endlich im November.

Nicht Soziologen oder Theologen taten pünktlich zur Weihnachtszeit das gute Werk, sondern Mediziner, Juristen und eine werdende Lehrerin waren die Initiatoren. Inzwischen sind ca. 14 ehrenamtliche Mitarbeiter damit beschäftigt, von Bäckereien, Gemüsemärkten und Lebensmittelhändlern die Reste des Tages, die nicht mehr verkauft werden, abzuholen und an die "Kunden" weiterzuleiten, im Heidelberger Selbsthilfebüro, wo sie z.Z. untergekommen sind, Telefondienst zu leisten oder neue Quellen zu erschließen. Das Projekt lief in den ersten beiden Wochen so gut an, daß die Organisatoren mit Backwaren schon förmlich übersättigt sind, bei Lebensmittelhändlern und vor allem großen Ketten ist die Resonanz bisher allerdings sehr bescheiden. Die bundesweiten Großketten z.B. boten der "Heidelberger Tafel" Waren zum ermäßigten Preis an, doch dies ist nicht der Sinn des Projekts und könnte auch gar nicht finanziert werden. Spenden werden natürlich immer gern angenommen, denn ganz ohne Geld kann auch ein ehrenamtlich geführter Verein nicht leben. Die "Tafel" hat das Glück, daß sie die Büroräume vom paritätischen Wohlfahrtsverein kostenlos zur Verfügung gestellt bekommt, "doch irgendwann müssen wir sicherlich zahlen", befürchtet einer der Mitinitiatoren. Die einzige Anschaffung, die im Moment überlegt wird, ist ein "tafeleigenes" Fahrrad, denn alle Wege und Transporte können noch gut mit dem Rad bewältigt werden. Ansonsten muß der private Drahtesel oder das eigene Auto herhalten. Die beiden weiteren Utensilien, die sie ihr Eigen nennen können, eine Schreibmaschine und ein Anrufbeantworter, bekamen sie vom Germanistischen Seminar geschenkt. Die Universität zeigte sich auch sonst ganz interessiert, und das Internationale Wissenschaftsforum bot an, übriggebliebene Lebensmittel von Sonderveranstaltungen der "Tafel" zu geben. Das Problem dabei ist jedoch, daß dies schon zubereitete Gerichte sind, das Projekt aber gerne die Selbständigkeit ihrer Kunden fördern möchte und deshalb lieber selber kochen läßt.

Ein Großteil der Lebensmittel geht an die Wärmestube in der Römerstraße, in der Obdachlosen eine Küche zur Verfügung steht. Der SKM (Sozialdienst Katholischer Männer) ist einer ihrer Abnehmer, ebenso christliche Jugendgruppen, die auf dem Markplatz stehen und Lebensmittel und Kleidung verteilen. Den Rest liefert die "Heidelberger Tafel" direkt ins Haus der Arbeitslosen oder sonstigen Bedürftigen.

Die Unterstützung des Sozialamtes und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hilft den Organisatoren sehr, doch auf die Dauer hoffen sie, einen Zivi oder durch eine ABM-Maßnahme einen Helfer zu finden. Ansonsten sind natürlich alle willkommen, die bei der "Heidelberger Tafel" mitarbeiten, besonders organisieren wollen. (gz)

Heidelberger Tafel e.V., c/o Heidelberger Selbsthilfebüro, Alte Eppelheimer Straße 38, Tel.: 16 65 79, Mo. bis Fr. von 10 bis 12 Uhr


Gut aufgelegt.

Unter 184708 bietet die Nightline Gespräche als Lebenshilfe

Das Telephon verkörpert die Ambivalenz des Jahrtausends an sich. Es ermöglicht dem Unverzichtbaren, überall gleichzeitig zu sein und niemanden durch Nichtbeachtung vor den Kopf zu stoßen. Und es ist der Draht, der den einsamen, nirgendwohin eingeladenen und von niemandem besuchten Einzelgänger an einem Wochenendabend per Kontaktaufnahme durch die Muschel mit menschlicher Wärme versorgt. Wirklich allein ist nur, wer niemanden hat, mit dem er telephonieren könnte, weil alle, die in Frage kämen, gerade auf einer Party sind.

Das Telephon ist außerdem der meistbesungene technische Gegenstand der Rockmusik, und wurde dadurch zu einem potentiell hochkitschigen Thema. Lou Reed zog es mit gewohnter Souveränität in den Dreck: "Oh how ba-a-ad... And why do you call? - Oh I'm gla-a-ad to hear from you all..." Pure Selbstironie natürlich, denn zwei Lieder weiter folgt sie dann, die Hymne der traurigen Samstagabende: "Nobody calls me on the telephone, I put another record on my stereo..."

Schlecht gewähltes Beispiel eigentlich, denn Samstagabend ist unter der Nummer 06221/184708 gerade keiner zu erreichen. Aber das Projekt Nightline befindet sich noch in der Anfangsphase. Auch sind sich die Nightliner darüber im Klaren, daß den meisten Problemen der Wochentag eher egal ist, und Einsame nicht erst seit Lou Reed dies bevorzugt samstags sind. Eines der vorrangigsten Ziele der studentischen Initiative, die die Nightline vergangenen Sommer ins Leben gerufen hat, ist denn auch die Ausweitung der Gesprächszeiten, die sich im Moment noch auf die Tage Montag, Mittwoch und Freitag jeweils in der Zeit von 21.00 bis 2.00 Uhr beschränken. Wer gesehen hat, mit welcher Lückenlosigkeit seit Juni alle universitären Einrichtungen mit den blauen Nightline-Plakaten versorgt wurden, wird kaum daran zweifeln, daß es früher oder später gelingen wird, die zeitlichen Limits zu sprengen und die Nightline fest zu etablieren. Hier wurde einige Energie investiert, um auch größere Scheuklappen zu überlisten.

Die Wurzeln der Idee zu einer deutschlandweit in dieser Form einmaligen "telephonischen Anlaufstelle von Studierenden für Studierende", wie sie sich selbst bezeichnet, liegen witzigerweise auf der Insel, in Oxford genauer gesagt. Witzigerweise deswegen, weil damit wieder einmal bewiesen wäre, daß man mit Klischee-Denken doch recht weit kommt: "Großraum London? Kalt, naß und trostlos..."

Kann hier ja nicht passieren. Oder doch? Nach der knapp halbjährigen Warmlaufphase in Heidelberg scheint einiges dafür zu sprechen: "Wir sind eigentlich jede Nacht gut beschäftigt." Auf meine Frage, ob diese Aussage in Zahlen ausdrückbar sei, antworten die Nightliner ausweichend. Man ist vorsichtig geworden, seit man mit einem Redakteur des Uni-Spiegels schlechte Erfahrungen gemacht hat, auch wenn allen klar ist, daß die dauerhafte Etablierung einer Nightline entscheidend von deren Bekanntheitsgrad abhängt. Auch bei einigen anderen neugierigen Detailfragen wird schnell abgeblockt. Im Zweifel geht die Anonymität über alles, niemand soll das Gefühl haben, daß seine ganz persönlichen Angelegenheiten nicht absolut diskret behandelt werden.

Die Gründe, aus denen Studenten bei der Nightline anrufen, sind so heterogen wie die Uni selbst. Private Themen stehen im Vordergrund, und die zu Beginn des Artikels plakativ plazierte Einsamkeit ist tatsächlich eines der Hauptanliegen, die den Griff zum Hörer evozieren. Auch sexuelle Probleme würden öfters angesprochen, und gerade darum sei es besonders wichtig, möglichst jede Schicht mit einem männlichen und einem weiblichen Gesprächspartner zu besetzen. Vor allem dieser Zwang zur Doppelbesetzung steht im Moment einer Ausweitung des Angebots im Weg. Mit 25 bis 30 aktiven Studenten, Altstädter, "Feldler" und Pädagogen, sind mehr als drei Termine pro Woche kaum zu machen, zumal ein Abend an der Strippe erhebliche Konzentrationsreserven mobilisieren muß. Wie wird man Nightliner? Spezielle Wochenendkurse, die unter Leitung von Psychologen regelmäßig abgehalten werden, bereiten auf den Einsatz vor. Hierbei sollen Techniken der Gesprächsführung und -lenkung erlernt und geübt werden, mit besonderem Augenmerk auf den Beginn einer potentiellen Unterhaltung. Konkret hat man sich das so vorzustellen: Zwei Kursteilnehmer simulieren einen Anruf via Kabel, das wie in Agentenfilmen von einem kleinen Lautsprecher angezapft wird. Um den gruppieren sich Schüler nebst Psychologe zur Analyse. Es bedarf keiner großen Phantasie sich vorzustellen, daß unter Umständen einiges an Einfühlungsvermögen nötig ist, um ein Gespräch erstmal in Gang zu bringen. Ziel ist es dann auch, diese Kommunikationsbarrieren Schritt für Schritt niederzureißen, und gerade hierin sieht die Nightline ihre Stärke. Die Gesprächspartner an beiden Enden der Leitung studieren in derselben Stadt und haben vergleichbares Alter, dies ermöglicht eine Unterhaltung auf gleichem Niveau, wie sie ein Psychologe oder auch eine Telephonseelsorge nur schwer oder gar nicht anbieten kann. "Niedrigschwellig, offen und entgegenkommend" möchte man sein, und die Erfahrung zeige, daß genau dies von den Anrufern auch erwartet und geschätzt wird. "Das Problem an unserem Projekt ist, daß für das, was wir machen, kein vernünftiges Wort existiert." Die Häufigkeit, mit der mich die Nightliner in unserem eineinhalbstündigen Gespräch gerade darauf hinweisen, sieht zwar auf Anhieb etwas nach Identitätsneurose aus, zeigt aber deutlich, wie wichtig ihnen dieser Punkt ist, und wie sehr man sich über den Uni-Spiegel geärgert hat. Ein Anruf bei der Nightline kann und soll kein psychotherapeutisches Beratungsgespräch sein, und auch eine Telephonseelsorge, wie sie von christlichen Gemeinden häufig angeboten wird, hat eine andere Zielgruppe und einen anderen Ansatz.

Gegen Ende des Gesprächs fällt ein schöner Vergleich: Zwei Menschen sitzen in einem Bahnabteil, im Intercity von Blieskastel nach Kleinhinterlaibach, vorbei an Bahnhöfen niegehörter Käffer, und kommen ins Gespräch: erst über die Welt, dann über Gott und schließlich über sich selbst. Die beiden werden sich nie wieder sehen und haben sich vielleicht nicht einmal vorgestellt, als der eine in Neupommelshausen plötzlich aussteigen muß.

Am Abend vor der Entstehung dieses Textes sitze ich auf dem Fußboden in einem Zwischenabteil des überfüllten Sonntagabend-Interregios Stuttgart-Dortmund. Einer jungen Frau aus Heppenheim geht es genauso, sie hat Zigaretten dabei und wir leeren die Schachtel. Vielleicht ist es der seltene Glücksfall dieser Zigaretten im Zwischendrin, den man mit der Nightline versucht zu institutionalisieren. Viel Erfolg! (gvg)

Die Nightline ist montags, mittwochs und freitags von 2100 bis 200 Uhr unter der Nummer 18 47 08 zu erreichen.


Glasfigurenkabinett?

Europa wächst. Zusammen auch manchmal. Die Chipkarte, seit zwei Jahren in den Köpfen von Software-Entwicklern und Verwaltungspersonal, soll die Hochschulbürokratie über die Grenzen hinweg vereinfachen.

Langsam aber unaufhaltsam sickert die Plastikkartenschwemme an den Universitäten und Fachhochschulen in die Verwaltungen ein. Um diese Art der elektronischen Datenerfassung hochschulgerecht einzuführen, versucht man sich bundesländerübergreifend an einem gemeinsamen Projekt: UniversCard, die Initiative deutscher Hochschulen auf Forschungs- und Verwaltungsebene - allen voran die TU Chemnitz -, will in den nächsten vier bis fünf Jahren in Verbindung mit einer Softwarefirma EDV-Systeme für Anwendungen wie Rückmeldung, Bezahlung des Mensaessens, Parkraumbewirtschaftung, Bibliotheksbenutzung und auch als Studentenausweis realisieren.

Anstoß für diese Entwicklung ist zum einen das Personaldefizit der Universitätsverwaltungen, die an zahlreichen Hochschulen Rückmeldungen und Exmatrikulationen noch manuell handhaben. Damit wird Arbeitserleichterung und kürzere Bearbeitungszeit angestrebt. Personalabbau ist nicht im Gespräch, da nur vorhandene Planstellen, das heißt Stellen, die wegen Geldmangels nicht besetzt sind, gestrichen werden.

Aber auch die anstehende bundesweite Parkraumbewirtschaftung, die die Einführung kostenpflichtiger Parkplätze für Studenten und Personal bedeutet, hat zu der Idee geführt, die verschiedenen "Währungen" an den Hochschulen - Mensamarken, Studentenausweis, Kopierkarte, Bibliotheksausweis und später auch Parkschein - auf einer gemeinsamen Karte zusammenzufassen.

Hierbei spielt Deutschland keineswegs die Vorreiterrolle. In Italien, an den Universitäten Bologna und Mailand, sind bereits seit geraumer Zeit entsprechende Systeme in Gebrauch, Frankreich sammelt an der Universität Lille Erfahrungen, auch in Linz und Wien beschäftigt man sich mit diesem Verwaltungsverfahren. In diesem Wintersemester fiel nun der Startschuß für Hochschulen in Holland und Deutschland. In Trier läuft seit diesem Wintersemester an der Fachhochschule ein Pilotprojekt zur Bezahlung des Mensaessens, im Sommersemester soll noch die Bibliothek hinzukommen. Später einklinken werden sich die Universität Würzburg, die TH Darmstadt und FHT Eßlingen. Als Versuche in kleinem Rahmen sollen allerdings zunächst nur parallel laufende Systeme mit getrennten Chipkarten eingeführt werden. Überschaubarkeit und damit wirkungsvolle Kontrolle und Auswertung der Ergebnisse bestimmen bis auf weiteres das Projekt. Aber auch der Finanzrahmen des Landes Rheinland-Pfalz von 500.000 DM läßt umfassendere Anwendungen vorerst nicht zu. Für die Zukunft jedoch sind solche Insellösungen kaum sinnvoll, da speziell für jede Hochschule entwickelte Software Kosten in unverantwortlicher Höhe zur Folge hätte.

Die Erfahrungen aus diesen Pilotprojekten sollen in einigen Jahren die Einführung der Multifunktionskarte ermöglichen. Im Gespräch sind dabei weitergehende Anwendungen wie Anmeldung zu Prüfungen, Ausdrucken von Scheinen oder Abfragen von Prüfungsergebnissen. Daß vor allem letzterer Einsatzbereich viele Beteiligte an diesem Projekt, Studentenvertretungen wie auch Verwaltungspersonal, die Stirn runzeln läßt, ist verständlich. Mit einem eindeutigen 'Nein' stellen sich besonders die Asten diesem Gedanken entgegen: des Datenschutzes wegen. Über die auf der Ausweis-Chipkarte gespeicherte Information hat zwar ausschließlich der Inhaber die Kontrolle. Die in einem Zentralrechner vorhandene Datenmenge kann unter Umständen aber nicht einwandfrei unter Verschluß gehalten werden. Ein Problem, das, so einige Kritiker, mit 500.000 DM Landesbeitrag nicht zu lösen sein wird. Zum Vergleich: In Holland - bei einem Versuch mit 26.000 mit dem Plastik bestückten Teilnehmern - sind Kosten in Höhe von 4,5 Mio. DM entstanden, für eine Karte, die neben Buchausleihe, Essensbezahlung und Kopierfunktion auch bargeldloses Telefonieren beinhaltet und als Fahrausweis für öffentliche Verkehrsmittel dient. Um im Bereich des Datenschutzes Kontrollmöglichkeiten zu schaffen, hat der AStA Trier einen 10-Punkte-Katalog durchgesetzt, der Kriterien für den Betrieb von Chipkartensystemen festlegt, die von einer Senatskommission überwacht werden sollen. Zudem ist die Kartenbenutzung freiwillig.

In Heidelberg geht man noch vorsichtig mit dieser Entwicklung um. Eine Entscheidung zu diesem Thema soll allerdings dieses Jahr mit der Abstimmung über die Parkraumbewirtschaftung fallen. Aber selbst dann ist, nach einer Anlaufzeit von rund zwei Jahren, zunächst nur eine elektronische Arbeitszeiterfassung für das Verwaltungspersonal geplant, die nach einer Vorgabe des Landes Baden-Württemberg Bedingung für flexible Arbeitszeiten ist.

Kritische Betrachtung und bewußte Selbstbeschränkung sind nötig, um nicht Chancen wie Kostenersparnis und übersichtliche Handhabung zu vertun, aber auch, um sich der Probleme wie Datenschutz und Arbeitsüberwachung immer bewußt zu bleiben. (rot)


ruprecht-Serie "Heidelberger Profile"

Unverplantes Leben - Oded Netivi

Von Haifa nach Heidelberg - vom Fischzüchter zum Künstler

Baumwollpflücker, Regiestudent, Heidelberger, Alt-68er, Israeli, Fischzüchter, Künstler, Jude. Das ist Oded Netivi.

Geboren wurde er 1950 in Haifa. Von seiner Kindheit erzählt er nur, daß er wie verrückt geklaut habe: "Das war ein neurotischer Ersatz", und bescheiden lächelnd fügt er hinzu: "Heute ist mein kindlicher Anteil eher im Verborgenen."

Durch die sozialistische Israelische Jugendbewegung kam er mit 19 Jahren in einen Kibbuz, wo er sich der Fischzucht und der Baumwolle widmete. Im Kibbuz, eins der wenigen Experimente, in denen der Kommunismus funktioniert, hielt es Netivi nicht lange aus. Sozialismus in Ehren, aber das Individuum kam ihm doch zu kurz. So siedelte er über nach Jerusalem, wo er beim Fernsehen arbeitete. Doch auch diese kosmopolitische Stadt konnte ihn nicht lange fesseln. Noch 1969 entschloß er sich zu einem Aufenthalt in Deutschland, wo er sich bis 1971 beim Südwestfunk Baden-Baden mit Film- und Fernsehregie beschäftigte. Dort erlernte er die Muttersprache seiner Eltern. Und weil hier das Studium gratis ist, beschloß er, das "noch mitzunehmen". In Heidelberg studierte er bis zum 26. Lebensjahr Sozialwissenschaften. Er erlebte hier die heißesten Zeiten der Studentenrevolte - und war, versteht sich, voll dabei. "Ja, ja. Da habe ich mich mit den Bullen rumgeprügelt", erinnert er sich lachend.

Wie er eigentlich auf die Idee kam, in Deutschland zu studieren, weiß er selbst nicht so genau: "Vielleicht war die eigentliche Ursache der Wunsch meines Vaters gewesen, daß ich sein verpfuschtes Leben in Deutschland korrigiere. Daß ich das tu, was man ihm verwehrt hat: In Deutschland ein Künstler sein."

Oded Netivis Vater hatte als Theaterregisseur eine Traumkarriere vor sich gehabt; er war in Darmstadt bei Gustav Hartung Regieassistent gewesen, mußte jedoch in den 30er Jahren nach Israel fliehen. Dort lernte der Vater seine Frau kennen, die wie er aus Deutschland nach Israel emigriert war.

Die tragische Vergangenheit seiner Eltern hatte auf Odeds Leben den größten Einfluß.Doch sie haben ihn keinen Haß gelehrt. Oded lernte durch sie die europäische Kultur kennen, und zugleich lehrten sie ihn, daß man Traumata nicht durch Flucht verarbeiten kann, sondern daß man sich ihnen stellen muß. Wohl auch deswegen war er nach Deutschland gekommen.

Daß er schließlich Künstler wurde, war für ihn selbst eine Überraschung. Innerhalb eines Zeitraums von zwei bis drei Wochen entschloß er sich dazu, die Kunst professionell zu betreiben. Damals kamen sehr viele Ereignisse zusammen: Er las beispielsweise viele Künstlerbiographien; und eines morgens sah er den "Prinzen aus dem Morgenland", einen wunderschönen Schwarzen, der im Atelier eines Heidelberger Künstlers das Faktotum war. Grund genug für Oded, sein Leben mal wieder umzukrempeln.

Von der Theorie hatte er eigentlich wenig Ahnung, was ihn aber nicht daran hinderte - "frech wie Oskar" - von Anfang an Kurse zu geben. Künstlerische Vorbilder hat er keine, oder genauer gesagt: recht viele. Eigentlich haben ihn alle Künstler beeindruckt, "weil sie ihr Leben der Kunst gewidmet haben".

Aber Vorbild hin oder her, meint Oded, im Grunde seien die Themen der Kunst ohnehin sehr eingeschränkt, wiederholen sich bei jedem Künstler. Die Unterschiede zwischen den Kunstwerken ergäben sich aus nur zwei Komponenten: der Entwicklungsstufe, in der sich die Menschheit gerade befinde (also der Mode), und dem Charakter des Künstlers. Gute Kunst weist sich nach Netivis Ansicht dadurch aus, daß sie bei Leuten etwas bewegt. "Gut ist ehrlich", kommentiert er.

Jeff Koons zum Beispiel bewege ihn nicht. "Das ist nicht mal Pornographie. Was er malt, möchte ich ausleben, aber nicht anschauen. Der Betrachter ist ausgeschlossen", erklärt er. Bei seinen eigenen erotischen Bildern versucht Netivi mit Lichtflecken, Schatten, Farbspielereien den Betrachter einzubeziehen und "in ihm mit einem Schmunzeln Assoziationen zu wecken".

Wichtig ist ihm freilich auch, seine Kunst nicht kommerziellen Gegebenheiten anzupassen. "Ruinen vor Sonnenuntergang und schöne Frauen gehen weg wie warme Semmeln", erzählt er. Bei manchen Kunden frage er sich ohnehin, wieso sie sich statt eines Bildes nicht lieber einen Mercedes kaufen. Neben der dicken Haut, die fürs Geschäftliche zuständig sei, müsse man sich eine dünne Haut bewahren, die sensibel und künstlerisch ist, "zärtlich mit dem Material umgeht".

Wenn er auch aus ideologischen Gründen manche lukrativen Angebote ausschlägt, so meidet er doch - ganz unideologisch - die Politik in seiner Kunst. Mit gutem Grund, wie er meint. "Mit Kunst läßt sich keine Politik machen. Noch nicht mal die Kirchenfürstenkonnten mit ihren Höllenbildern und Jüngsten Gerichten tatsächlich Politik betreiben." Das heißt nicht, daß Oded kein politischer Mensch ist. Er ist davon überzeugt, daß jeder Verantwortung übernehmen müsse. Das sieht für ihn ganz praktisch aus. Zum Beispiel erfreut sich die Heidelberger Studentengruppe von amnesty international seiner tatkräftigen Mitarbeit, wenn es darum geht, bei der Öffentlichkeitsarbeit etwas künstlerisch zu gestalten.

Netivi hat sich auf keine bestimmten Motive festgelegt. Er betont, daß er da ganz flexibel sei. In seinem Atelier hängen Bilder mit Tiermotiven, Stilleben, Menschengruppen, erotischen Szenen etc. Der Autodidakt beherrscht zudem die verschiedensten Techniken: Neben der Malerei arbeitet er mit Gips, macht Fotos, Plastiken, Bühnenbilder etc. Und ebenso vielfältig ist Odeds Farbpalette. Seine Bilder sind meist bunt, sinnlich, vital, grell - fast zu grell für den deutschen Geschmack. Sie geben sein Leben wieder. Das Leben eines Kibbunziks, eines Rebellen, eines Künstlers. Unverplant. (hee)


1.11.1996: Oded Netivi geht ins WWW.

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