"Feuilleton"


Rimbaud ... kurz vorm Abschnappen

Swing, Jazz, vulgäres Jahrmarktsgedudel

"Der Mann ist doch kurz vorm Abschnappen", konstatiert Roland S. Blezinger und freut sich wie ein kleines Kind, daß das so gut klappt. Er greift zur achtundzwanzigsten Kippe an diesem Morgen ("Roland, bis Du eigentlich nicht erkältet?"), und lehnt sich bequem zurück. Dieser Regisseur ist der fleischgewordene Traum des Filmhochschulanfängers: souverän, relaxed, faul.

Naja, die Frage, was er denn jetzt hier eigentlich zu tun habe, ist natürlich verfehlt. Für das Theaterstück "Rimbaud: Eine Zeit in der Hölle" liegen schon vier Wochen reine Textproben hinter ihm, in denen er sich mit nur zwei Schauspielern rumschlagen mußte. Sprachliche Einzelheiten mußten da in Kleinstarbeit festgeklopft werden, bis sie ins Konzept paßten.

Nach der Textprobe folgten dann die eigentlichen Proben: Music meets Rimbaud. Das Konzept, das sich die Kreativen des Heidelberger Theaters für ihre "Zeit in der Hölle" ausgedacht haben, kann nur als ehrgeizig bezeichnet werden. Eine Art Frischzellenkur mit jungem Blut soll dem Theater da verpaßt werden, nachts um 24.00 Uhr will man die Leute noch mal aus den Betten holen und ihnen die Werke eines zugedrogten Irren aus dem letzten Jahrhundert um die Ohren knallen. Der genialische Arthur Rimbaud, Urbild des Anti-Bürgers, hatte, kurz bevor er mit noch nicht einmal einundzwanzig Jahren beschloß, fürderhin auf jede Art lyrischer Betätigung zu verzichten, 1873 noch einmal voll zugelangt: "Eine Zeit in der Hölle" macht ihrem Namen alle Ehre. Das rhythmisierende Prosagedicht versteht sich als ätzende Abrechnung mit so ziemlich allem, was dem jungen Rimbaud bis dato begegnet war. In rauschhafter, oft schon barocker Sprache findet Rimbaud alles krank, inklusive sich selbst. Die bürgerliche Gesellschaft, die Kunst, das Leben an sich - alles wird durch den Dreck gezerrt.

"Als Text unverdaulich", findet Blezinger denn auch den Text, den er selbst vorgeschlagen hat. Überhaupt ist bei der Produktion fast alles von ihm. Zuerst einmal hat er den Text selbst übersetzt. "Es gibt viele gute Übersetzungen, aber die sind alle zu literarisch oder wortwörtlich. Meine Übersetzung sollte selbstverständlich wirken", meint der Schauspieler, der unter anderem derzeit in Tscheschows "Möwe" zu sehen ist und der mit "Eine Zeit in der Hölle" sein Regiedebüt gibt. Dabei sieht Blezinger in dem Text durchaus nicht nur ein postpubertäres Ankotzen der Spießergesellschaft, denn dafür würde sich heutzutage niemand mehr den Wecker stellen, sondern auch eine Art "Läuterungsprozeß". "Der Typ ist doch total am Ende, voll im 'cold turkey'. So hart wie die Jungs drauf waren - Opium, Absinth, und so - da wollte ich nicht nur das dramatische, sondern auch das selbstreinigende, Verständnis weckende Element mit einbringen", erklärt Blezinger seinen Job.

Damit der Zuschauer die nötige Ekstase aufbringt, dieser "wahnsinnigen Logik" zu folgen, ist das Ganze kein Rezitationsabend, sondern ein "Rockdrama". Rimbaud (gespielt von Dominik Warta), ist der front man einer Rockband, die ebenfalls auf der Bühne zu sehen ist. Zwar ist die Musik die meiste Zeit über als "Trägerwelle" im Hintergrund, ab und zu jedoch soll sie auch mal "überschwappen" - dann sind fetzige Soli und harte drums angesagt. Die übrige Zeit geben sich die Tonmeister rockig im Grundton, und ansonsten offen für alles: Swing, Jazz, Punk, Country-Shuffle, vulgäres Jahrmarktsgedudel. Manchmal scheint es beinahe ein Wettbewerb zu sein, wenn die Band wahre Klanggebirge auftürmt, schrille Kaskaden, Gebrause und Bombastisches, und Dominik per Mikro dagegen anbrüllen muß. Biber Gullatz, Bandleader einer Band, die gar keine ist, sondern nur ab und zu zusammen Projekte durchzieht, hat die Stücke selbst komponiert, teilweise erst während der Proben. Er hat sich Dominik Warta angeschaut, wie der den Rimbaud macht und danach Ideen für Themen, Motive, Melodien entwickelt. Viele Stücke entstehen auch beim Proben selbst. Blezinger ("Ich selbst bin nicht sehr musikalisch. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich.") will eine Melodie so und so haben, und Gullatz schaut, daß er das hinkriegt - life-composing nennt sich das dann auf Neudeutsch. Dafür gehen dann auch schon mal ganze Vormittage drauf, vor allem an den Stellen, wo Rimbaud seine Gedichte in sein Werk gepflanzt hat, die als Lieder aufgeführt werden. Kleine Verbesserungen ("Sollen wir das Bauernmädchen nicht mal ohne Musik machen?") führen schnell zum fundamentalem Umkrempeln, und dann unter Umständen, nach 1000 Mal Probieren, zu der Einsicht, daß es vorher doch am besten war. Ideen, Anregungen, Gespräche, Diskussionen - daraus bestehen diese wie wohl alle Proben, und effizienzorientierte Menschen schlagen da leicht die Hände über dem Kopf zusammen, wenn Blezinger alles noch mal haben will, um "vielleicht an der Stelle mal ne Pause zu machen", oder "das Ganze einfach mit mehr lustigem Touch." Was dem Text recht ist, kann den Noten billig sein. Life-composing fordert seine Zeit, und bevor schließlich die Melodie "steht", wird sie Biber noch etliche Male summen müssen, buntes Käppi auf dem Kopf, mit dem Fuß den Takt schlagend. Verständigung über Tonläufe erfolgt per Handzeichen; es ist eine Lust, der Kreativität auf die Finger zu gucken. Wie ein Geräusch von draußen setzt dann Keyboard ein, es folgt dezentes Schlagzeuggeklingel, schließlich Baßlinie, kreischige E-Gitarre. Dann nochmal, zur Sicherheit, schließlich der ganze Kram mit Dominik als front man. Wenn die Musik auf den Text trifft, ist das immer die Stunde der Wahrheit, Showdown auf der Inszenierungsstraße. Beide Seiten sind im perfektionistischen Rumpingeln drin, feilen an Kommata, drechseln an Phrasierungen, und dann soll das plötzlich zusammen klingen?! Aber, und das ist das wirklich Faszinierende an diesem Projekt, Text und Musik verstehen sich prächtig. Man wird natürlich sagen, bäähh!, olle Kamellen, schon mal was von Oper und Musical gehört? Nur, das ist etwas anderes, weil die Musik eigenständiger ist und gerade dadurch auch weniger Freiheit hat, was sich paradox anhört, aber zutrifft. Gerade in ihrer Beschränkung auf die Funktion als Textstütze liegt die Größe der Musik in "Eine Zeit in der Hölle"; wenn sie denn mal ausbricht, kann sie durch den Kontrast umso besser zeigen, was sie kann. Genau wie zwischen front man und Band bei normalen Rockgruppen existiert eine unterschwellige Konkurrenz, jeder will sich präsentieren, und davon haben beide etwas - die Band und Dominik.

Auf ihm und seinem grünen 60er -Jahre-Hemd lastet natürlich die gesamte Verantwortung. Mikrophonverstärkt, leise, melancholisch, resigniert stehen die alten Sätze im Raum, wo man noch mit Dämonen kämpfen und einen Gott anklagen konnte, wenn was schiefging. In den 5 locker unterteilten Abschnitten des Stücks (das ohne Pause gespielt wird), springt, wälzt rennt Warta auf der Bühne rum, dann wieder kauert er im Eck wie ein ängstlicher Hund. Rimbaud als Punk, als Mensch, der seine Exzesse lebt, seine Qualen rausschreit. Auf ein furioses Opening folgt die ruhige, traurige Passage der eigentlichen "Nacht in der Hölle", dann der Auftritt Verlaines, einige Gedichte von Rimbaud (als Lieder vertont) und eine Endpassage, in der noch einmal von Endgültigem und Endverzweifeltem die Rede ist: "Aber nirgends eine Freundeshand! und wo Hilfe finden?"

Auch wenn Rimbaud der eigentliche Held des Abends ist, sein Sex- und Saufkumpel Paul Verlaine (gespielt von Hannsjörg Schuster) bietet einen unentbehrlichen zweiten Blickwinkel. "Hören wir die Beichte eines Höllengefährten..." heißt es an einer Stelle, und Verlaine tritt auf. Auch die Lieder präsentieren die beiden eng umschlungen, locker-lasziv in den Hüften wiegend tanzen sie auf der Bühne. Hannsjörg Schuster als Paul Verlaine bringt einfach eine andere Farbe ins Bild, auch im musikalischen Sinn, und hilft so, dem Text etwas von seiner Rimbaud-Zentriertheit zu nehmen, wie auch im übrigen der echte Rimbaud ohne Verlaine ein vollkommen anderer gewesen wäre.

Rimbaud, und diese abgegriffene Etikette gibt's noch gratis dazu, das "enfant terrible" der Literatur, wurde also in unsere Zeit gebeamt, und das ist gar nicht so einfach. Pause: Auf der Probebühne legt der Drummer die Stöckchen beiseite, Biber Gullatz stellt sein Saxophon ab, alle schlurfen von dem kleinen Bretterrechteck weg, irgendwohin, auf einen Stuhl, ein altes Sofa, Kippe muß her. Die Proben sind Knochenarbeit, der scheinbar so spontane Text, der aus einer explosiven Mischung von Wut, Trauer und Verzweiflung entstanden zu sein scheint und daherkommt wie ein einziger Effenberg-Finger - es ist schwer, diese Wildheit und Ursprünglichkeit auf die Bühne zu bringen. Wie es so schön heißt: "Auch Spontaneität will vorher gut überlegt sein." (kw)


KUNST

Gegenwartskunst, wohin das Auge blickt! Heidel-berg, Mannheim, Ludwigs-hafen: Das Rhein-Neckar-Dreieck ein einziges Spannungsfeld von sinnlicher Opulenz, intellektuellem Anspruch und gesellschaftlicher Relevanz. Alle Kunsthallen und Kunstvereine der Region zeigen dieser Tage "moderne Kunst" von etablierten oder Nachwuchs-künstlern.

Marius Pfannenstiel: "Perfekte Fotografie" (Ludwigshafen)

Der Heidelberger Kunstverein zeigt in seiner ersten Ausstellung im neuen Jahr jüngere Arbeiten des Karlsruher Bildhauers Werner Pokorny. Ähnlich wie Klaus Duschat, dessen Stahlplastiken bis vor kurzem in der Mannheimer Kunsthalle zu sehen waren, bewegt sich Pokorny in seinen Holz- und ebenfalls Stahlplastiken auf der Grenze zwischen stereometrischer Grundform und gegenständlichem Anklang. An Kompositionen wie "Haus am Boden" oder "Vier Schalen zwischen Stangen" lassen sich die Positionen von Formautonomie und Chiffrecharakter tatsächlich kaum gegeneinander ausspielen, denn schon einfachste Formen wie gehöhlte Halbkugel und unregelmäßiges Fünfeck bedingen bestimmte Assoziationen (eben 'Schale', 'Haus'), und auch reine Grundformen können in der Kombination sinnvolle Elementarzeichen ergeben. Anders als Duschat, der mit farblich und im Material verschiedenen Oberflächen arbeitet und auch Fundstücke aus dem Bereich des Technischen integriert, verzichtet Pokorny zugunsten der reinen Form aber auf jede atmosphärische Wirkung.

Beide Künstler suchen ihr Heil weniger im Widerständigen als daß sie klassische Prinzipien wie Variatio und Ausgewogenheit pflegten; Duschat in differenzierterer, verspielterer, Pokorny in allgemeinerer Form. Dessen Grundsatz des Basalen neigt zwar zuweilen zur Einfalt (so im simplen Geometrismus von "Durchbrochene Form III"), aber zumeist inszeniert er seine archetypischen Botschaften auf eine sinnlich fesselnde und über das "Formerlebnis" (Riedl) unmittelbar zugängliche Weise.

Werner Pokorny ist ein arrivierter Künstler: Die ausgestellten Objekte kosten zwischen 5.000 und 85.000 Mark. Werke von Jochen Flinzer oder Peter Rösel dagegen, wie sie derzeit im Mannheimer Kunstverein zu sehen sind, lassen sich derzeit noch für weniger als tausend Mark erwerben. Unter dem Thema "Landschaftsdarstellungen in der zeitgenössischen Kunst" haben sich hier insgesamt 29 Künstlerinnen und Künstler auf ein reizvolles Mindestmaß an gegenständlicher Verbindlichkeit verpflichten lassen. Die Ausstellung besticht schon durch die bloße Vielfalt der Beiträge, und in der Tat läßt sich nicht einmal ein Trend im Spektrum der künstlerischen Lösungen feststellen.

Man mag bemängeln, daß den Arbeiten - wie oft - jeweils nur ein kleiner pointenhafter Einfall zugrunde liegt; gerade das Landschaftsthema taugt in heutiger Zeit allerdings kaum mehr zur großen Sinngeste, und das macht die Beiträge gleichzeitig erfrischend unpathetisch. Nicht völlig neu, aber darum nicht weniger eindrucksvoll ist zum Beispiel Timm Ulrichs' Einfall, die Endstücke von Farbdiafilmen in die Waagerechte zu wenden, so daß sich, projiziert oder im Diabetrachter, eigentümlich plausibel wirkende Sonnenuntergangshorizonte ergeben. Und Dennis Oppenheim zeigt, in bester surrealistischer Tradition, fünf an die Wand montierte Bügeleisen, deren leicht warme Heizfläche jeweils einen Tontopf mit einem Kleinkaktus trägt. Die Sterilität der weißen und metallenen Haushaltsgegenstände und die Makellosigkeit des Arrangements stehen einerseits in reizvollem Gegensatz zur Anspielung auf die Wüste als Naturraum, andererseits entsprechen sie ihr in ihrer Lebensfeindlichkeit.

Eine Reihe geistiger Vorläufer der Mannheimer "Landschaftsvermesser", so der Ausstellungstitel, findet sich derzeit im Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum versammelt, das eine Retrospektive auf die "Kunst der sechziger Jahre in der Bundesrepublik" zeigt. Das Motto "Von Pop bis Polit" bezeichnet dabei nur die populärste der vielen denkbaren Polaritäten, denn neben den bekannten Adaptionen der amerikanischen und englischen Pop Art und der Agit-Prop-Parolenkunst sind in typischen Beispielen auch die Multiple-Bewegung, Zero und Kinetische Kunst, Fluxus, Performance- und Happening Art sowie eine Reihe profilierter Einzelpersönlichkeiten dokumentiert. Interessant ist die Ausstellung nicht nur in kunsthistorischem Hinblick auf eine abgeschlossene Epoche, sondern auch insofern, als viele Matadoren der heutigen Szene (Richter, Lüpertz, Baselitz ...) in dieser Zeit ihre Wurzeln haben. Ein wenig blaß fällt allerdings der Versuch einer gesamtkulturellen Kontextualisierung aus: Zeittafeln zu Teenagerkultur und Studentenrevolte, ein paar Designstücke und die bekannten Pressefotos, die nur das einmal festgelegte Sechzigerjahrebild perpetuieren, ergeben noch kein Panorama. Umso instruktiver ist hier aber der Katalog, der in einem einleitenden Essay die fehlenden Zusammenhänge darstellt und im Abbildungsteil in aller Kürze auf einzelne Gattungen und Strömungen eingeht; nicht zum Schaden des Überblicks sehen die Autoren dabei auch über den begrenzten Fundus der hauseigenen Sammlung Heinz Beck, der die Exponate vorwiegend entstammen, hinaus.

Im kritischen Anspruch wie auch in der Wahl des Mediums läßt sich die Arbeit des Fotografen Frank Thiel, die zur Zeit im "Studio" des Heidelberger Kunstvereins zu sehen ist, auf die Ludwigshafener Schau beziehen. Die vier monumentalen Brustbilder alliierter Soldaten sind weniger Abbild als Stellvertretung der zugrundeliegenden Realität; sie vereinzeln jeweils ihr Motiv zum alleinigen Bildthema und ermöglichen so dessen Neukontextualisierung in der Ausstellungssituation. Schreibt man diesem Bewußtmachungseffekt, der im Fall der "Alliierten" naheliegenderweise auf den Gegensatz zwischen Individualität und Uniformierung zielt, keinen allzu künstlerischen Anspruch zu, läßt sich hier ohne Frage von raffinierter Dokumentarphotographie sprechen.

Wie der bereits preisgekrönte Thiel gehören auch die "Neun aus Mainz", Schüler der dortigen Kunstprofessoren Hahn und Nierhoff, zumindest dem Alter nach zu den 'Kindern der 68er'; sie absolvieren in der Mannheimer Kunsthalle zur Zeit ihre im Durchschnitt dritte Ausstellung.

Barbara Beyer läßt in ihrer sechs-teiligen konkreten Bodenplastik - es sind auf dem Kopf gestellte Gipsstümpfe - Volumen, Material und den in einer teilweisen Rostfärbung dokumentierten Entstehungsprozeß in faszinierender Weise für sich stehen; Sonja Bartussek präsentiert uns anhand eines aus der Vogelperspektive gesehenen Architekturmotivs eine klassische Abstraktionsreihe. Ambivalent sind die Beiträge Stefan Budians: Seine abstrahierenden Landschaften schwanken zwischen 'unsouverän' und 'unkonventionell', seine naivistischen Portraits zwischen 'provozierend verletzlich' und 'großäugig menschelnd'. Mario Hergueta nimmt Buchstaben zur Grundlage seiner architektonisch-abstrakten Gipsplastiken, die, so der Künstler selbst zum Sinn seines Schaffens, "dem Wunsch einer Eindeutigkeit nicht entsprechen"; ein bißchen gebastelt wirken die konstruktionistischen Hausbilder und -collagen Nicole Nickels, die in der starken Dominanz des Perspektivischen eine gewisse architektonische Totalität vermitteln. Barbara Breitenfellners zweiteilige Baumstamm-Säulen "nähern sich der Natur ohne sie nachzuahmen" und zeichnen sich "durch das Gleichgewicht von Stoff und Gestalt" aus (Breitenfellner), wie es schon in der Natur selbst zu beobachten ist; Steffi Wurster stellt Kastenobjekte aus, die die "plastische Qualität des Lichts" wahrnehmen lassen.

Die sinnlichsten Beiträge stammen von Nicola C. Stäglich und Rainer Kleemann. Die erste kombiniert waagerechte Farbstreifen und gestische Zeichen wie Kringel und einfachen Pinselstrich zu einerseits autonomen Kompositionen, die aufgrund entsprechender Farbigkeit und vor allem suggestiver Anordnung andererseits auch den Eindruck weiter Landschaften erzeugen. Kleemann dagegen ist ein ausgesprochener Atmosphäriker. Er präsentiert an die Grenze der Gegenständlichkeit geführte Stadtlandschaften als schmale Horizontalstreifen auf großflächigen monochromen Gründen, die die Subjektivität des Blicks auf die objektivierten Architekturstücke unterstreichen.

Es zeigt sich, daß sich die Ausstellung zum weit überwiegenden Teil mit wo nicht ungegenständlichen Themen, da mit Landschaft und Architektur beschäftigt; sollte dieser Nachwuchs maßgeblich von seinen näheren Vorgängern beeinflußt sein, dann nicht in realistisch-kritischer Hinsicht. Hält man sich zusätzlich vor Augen, daß die "Neun aus Mainz" Absolventen eines staatlich subventionierten Studiums sind und daß nicht nur Duschat und Pokorny keinen geringen Teil ihres Einkommens aus öffentlichen Aufträgen erhalten, stellt sich die alte Frage nach dem gesellschaftlichen Sinn der Art von Kunst, wie sie dieser Tage von den großen einschlägigen Institutionen der Region gezeigt wird.

Den meisten Arbeiten der Gegenwartskunst liegen, wie zu sehen ist, einfache und deshalb wiederkehrende Ideen zugrunde: Es geht um Abstraktion und Konkretion, es geht darum zu irritieren, ein Spannungsverhältnis zu inszenieren, eine Bildfläche, einen Raum oder eine Wahrnehmung zu akzentuieren. Die Nähe zur gegenständlichen Welt bedeutet dabei, das zeigt die "Landschaftsvermesser"-Ausstellung, eine Chance. Daß kommerzielle Großretrospektiven ungleich höhere Besucherzahlen erreichen, scheint daher weniger an der Kunst als an unbedachten Vorbehalten des Publikums zu liegen.

Es ist außerdem zu bezweifeln, daß die Masse der Besucher etwa der Tübinger Cézanne-Ausstellung 1993 tatsächlich den künstlerischen Gehalt der Werke erfaßt und nicht nur die südlichen Landschaften und die sanft strahlenden Erdfarben bewundert hat. Solange also die "moderne Kunst" dieselbe grundlegende, unreflektierte Freude an Form, Farbe und Sujet zuläßt, sind durchaus sinnlosere Verwendungszwecke für öffentliche Gelder denkbar. (jpb)

Thiel, Pokorny, "Die Neun aus Mainz" bis 3. März, die übrigen Ausstellungen bis 10. März '96.


ruprecht goes to the movies

(in Klammern die Anzahl der ruprechte)

ruprechts Notenskala:
- nicht empfehlenswert
* mäßig
** ordentlich
*** empfehlenswert
**** begeisternd

Abuzze (4)

Etwas sauer wirkte die Kartenverkäuferin schon, als mich jemand von nebenan mit den Worten "Tu´s nicht! Du wirst es bereuen !" vom Besuch des ersten Films des hessischen Komikerduos Badesalz abhalten wollte. Überhaupt scheinen sich die Geister an Abbuzze zu scheiden. Die einen halten die zwei für ausgesprochen schwachsinnige Schreckgespenster, die anderen lassen sich durch ihren vielleicht nicht unbedingt geistreichen, dafür aber ironischen, skurrilen und trockenen Humor von einem Lachanfall in den anderen treiben.
Der Plot des Streifens ist schnell erzählt, aber immerhin gibt es eine Art Rahmenhandlung für die einzelnen Szenen, in denen badesalztypisch sämtliche Gesellschaftsschichten vom muskelbepackten Macho bis zum zerstrittenen Altweiberkaffeekränzchen aufs Korn genommen werden. In dieser bleibt Erich, handy- und laptopbepackter Versicherungsvertreter, im Fahrstuhl eines abbruchreifen Hochhauses stecken und muß sich dort vom bauernschlauen Richard nach Strich und Faden vorführen lassen. Der ganze Film lebt davon, daß die von Badesalz penibel genau beobachtete hessische Welt in einer schier grenzenlos erscheinenden Vielfalt persifliert und der Lächerlichkeit preisgegeben wird. So zeigen sich sowohl Richie und Headbanger als Hausbewachungsdienst als auch Herr Seiler von ihrer besten Seite. Wer dies unverständlicherweise nicht lustig findet, dem bleibt nur der Ausruf: "Erbarme, zu spät, die Hesse komme !"

Männerpension (3)

Man könnte sagen: Die Handlung von Detlev Bucks (Karniggels, Wir können auch anders) neuem Film ist derb und an den Haaren herbeigezogen: Der jüngste Gefängnisdirektor der Republik will liberalen Strafvollzug praktizieren. Er sucht deshalb per Zeitung Damen, zu denen er seine Häftlinge auf Urlaub schicken kann. Zwei von denen, alias Detlev Buck und Till Schweiger (der seinen Bodybuiling-Center-Oberkörper immer wieder gern in die Kamera hält) kommen im Häuschen einer knackigen Altenpflegerin unter und erleben ein bißchen 'was mit Frauen.
Man könnte auch sagen: Der Film ist frauenfeindlich: Das Blondinchen ist dumm, lispelt und meint, wenn man ihr sagt, Frauen seien eben einfach dümmer als Männer: "Ja, ich weiß". Doch Männerpension ist ein wirklich lustiger Film mit viel Sinn fürs Groteske und Skurille. Ihn an Maßstäben der "political correctness" zu messen, ist vor allem eins: humorlos.

The usual suspects (3)

Die üblichen Verdächtigen ist ganz bestimmt kein so üblicher Film! Kein bekannter Regisseur oder Schauspieler zieht die Massen an, kein Budget stand zur Verfügung, das das Bruttoinlandseinkommen eines Dritte-Welt-Landes übersteigt, und vor allem fliegen keine Darsteller in der Luft ihrem Flugzeug hinterher. Stattdessen handelt der Film von fünf Verbrechern, die zufällig zusammenkommen und immer tiefer in einen Strudel aus Verbrechen geraten. Ein verkrüppelter Betrüger, ein ehemaliger, korrupter Polizist, ein schwules Einbrecherpaar und ein Dieb bilden ein Team, das, ohne es zu merken, in die Klauen eines Unterweltherrschers, Keyser Sozes, gerät. Keyser Soze, von der Unterwelt auch "der Teufel" genannt, gelingt es, die fünf derart zu manipulieren, daß sie für ihn einen selbstmörderischen Auftrag erledigen, dem alle außer "der Krüppel" zum Opfer fallen.
Der Film baut sich aus den Aussagen des einzigen Überlebenden des Massakers auf: erst verwirren die einzelnen Bruchstücke, aber schon bald zeichnet sich ein scheinbar klares Bild ab, dem Polizei und Zuschauer blindlings glauben. Erst kurz vor dem Ende bemerkt man den Irrtum, aber zu spät; Der Film ist vorbei, das Geschehene läßt sich nicht mehr korrigieren.
Auf geniale Weise baut The usual suspects Spannung auf, indem er den Zuschauern häppchenweise Informationen preisgibt, aber gleichzeitig den Zuschauer immer wieder auf falsche Fährten lockt. Großes Kino, aber ganz ohne Glanz und Glamour!


Kulturexpress

Zwei Monate Karlstorbahnhof

Freitag nacht, Judgement Night im Karlstorbahnhof. Wie jede Woche tummelt sich hier eine buntgemischte Szenegruppe in Bar und großem Saal, der gerammelt voll ist. Die Indie-Grunge-Metal-Party hat sich innerhalb weniger Wochen zu einer festen Institution im Kulturzentrum entwickelt. Doch auch viele andere Programmpunkte, von Kabarett über Kino bis zum Theater sind meistens ausverkauft. Keine Frage, der Karlstorbahnhof füllt ein Vakuum im Heidelberger Nacht- und Kulturleben. So kann Johannes Rühl, Leiter des soziokulturellen Zentrums, auch ein überwältigend positives Resümee über die vergangenen zwei Monate ziehen. Die finanzielle Lage könne man zwar erst in einem Jahr umfassend beurteilen (viel Publikum erfordert auch viel Personal), aber er ist sich sicher, daß defizitäre Projekte, die er bewußt auch ins Programm aufnimmt, ausgeglichen werden können. Rühl betont, daß er das Publikum mit neuen Ideen überraschen möchte. Hierbei solle der Karlstorbahnhof gerade auch als Bühne für die rege lokale Szene dienen. Das Publikum sei so gemischt, daß selbst ausgefallenere Veranstaltungen nicht untergingen.
Auch das Café im ersten Stock hat schnell einen guten Ruf erlangt; bei einem Cappuccino kann man hier den schönen Blick aufs Neckartal genießen.
Achtung: Die ersten zwei Ausgaben des monatlichen Programmhefts waren schon Anfang des Monats vergriffen. Tip von Rühl: Nicht in der Altstadt oder an der Uni danach suchen. Ein Vorrat des beliebten Infoblättchens liegt immer vor Ort im Café bereit. (lk)

Programmtips Kulturbahnhof

8.2., 21 h: Guandaline Sagliocco: "The story of the fallen hero": Dramatisch-Komisches Kabarett-Erzähltheater (20,-/15,-)

10.2., 21 h: Engel Wider Willen: Klassik-Crossover-Konzert

(20,-/15.-)

23.2., 22 h: Krombacher MC,Move On: Hardcore-, Crossover-Konzert (14,-/10,-)

24.2., 21 h: Großes Fest "High Moon" (20,-/15,-)

25.2., 20 h: Gruppo di Valtorta: "Dichtheit und Wertung": Groteskes Kabarett (16,-/12,-)

Der ruprecht-Extra-Tip

8.3.: Internationaler Frauentag: Veranstaltungen im ganzen Haus den ganzen Tag.

9. + 10.3., 20 h, Theatersaal: Frauentheater: "Roter Fisch" Tragikomödie von Pam Gems. Inszenierung: Die Gespielinnen

Kartenvorbestellung für alle Veranstaltungen unter: 978914


Brennende Finsternis on stage

Eine Gruppe Jugendlicher plaudert vergnügt. Sie tragen eine Schuluniform - die Männer in Buntfaltenhosen, die Frauen in weißen Blusen und Röcken. In einem sterilen Raum gehen ihre Blicke ins Leere - sie sind blind.
Die Theatergruppe des Psychologischen Instituts zeigte in den vergangenen zwei Wochen das Drama "Brennende Finsternis" von Antonio Buero-Vallejo aus dem Jahr 1946.
Ein beeindruckender Theaterabend, bei dem es um Liebe, Lüge, Realitätsverlust, Individualität und Freiheit - eben um Schein und Sein ging. Überzeugend war das Blindsein der sehenden SchauspielerInnen, was zum Verständnis des schweren Textes beitrug. Als besondere Leistung wird die Regie von Dorette Deike, sowie Carsten Lembachs Darstellung des "Carlos" in Erinnerung bleiben. (asb)


ruprecht on the record

Oscar Peterson: The More I See You

Berühmt wurde Oscar Peterson Anfang der sechziger Jahre mit seinem Trio als Tastenteufel. Was Liszt für die Romantik war, war Peterson für den Blues: Das Ende und der Höhepunkt eines Stils, ein nicht zu bremsendes Genie, das immer noch einen Triller und einen Lauf draufsetzte. Mittlerweile ist der schwergewichtige Kanadier - neben ihm sieht selbst der größte Konzertflügel wie ein Kinderspielzeug aus - über 70 Jahre alt. Nach einem Schlaganfall mußte er sich seine Spielfertigkeit mühsam wiedererarbeiten, was ihm bei seiner linken Hand nicht vollständig gelang.

Im Januar 1995 trommelte er drei seiner Freunde zusammen (Benny Carter, as; Clark Terry, tr, und Ray Brown, b), holte noch einen Schlagzeuger und einen Gitarristen hinzu und nahm in nur zwei Tagen ein Album auf, das aufhorchen läßt. Die älteren Herren hatten hörbar Spaß daran, es noch einmal allen zu beweisen. In den schnellen Stücken ist Peterson verspielt wie eh und je, in den langsamen Balladen klingt jedoch eine bisher kaum gekannte Melancholie durch. Neben ihm brilliert vorallem sein 87jähriger Weggefährte Benny Carter, der seinem Altsaxophon wunderbar klare Töne und zuckersüße Passagen entlockt. Clark Terrys Improvisationen klingen dagegen fast etwas quäkig.

Oscar Peterson ist etwas Außergewöhnliches gelungen: Keine Experimente, nichts Neues, aber ein klassisches Jazzalbum, das unglaublich warm und lebendig klingt. (fw)

DJ Krush: Meiso (Mo Wax)

Der Japaner DJ Krush nimmt uns auf einen strangen Trip in die Welt des japanischen Hip-Hop mit. Wir besuchen verrauchte Jazz-Clubs, aber auch ein Ambientorchester ist beteiligt. Die Menschen, die wir auf unserer Japanreise kennenlernen, sind avantgardistische Künstler der dortigen Hip-Hop-Szene. Sie verachten Techno, aber sie lieben den Jazz, sie sampeln heimische Instrumente ab und setzen sie mit ambientorientierten Menschen in einen Raum. So entsteht "Meiso", zu verstehen als ein konfuses Irren in eine Richtung. Wir werden uns nach unserer Reise an die einzelnen Punkte nicht mehr erinnern, weil es uns sehr schwer fällt, diese zu verbinden, aber wir wollen zurück in dieses wunderbare Land, das Japan heißt. (mk)

Aural Float: Introspectives (Elektrolux)

Chill Out die dritte. Wer hier beim Namen Pascal F.E.O.S. treibende Beats und 303-Lines erwartet, hat sich schwer getäuscht. F.E.O.S. hat sich mit seinen beiden Kumpels Gabriel le Mar und Alex Azary getroffen und ein extralowes Ambientspektakel veranstaltet. Nicht unbedingt die Frankfurter Antwort auf "The Orb", aber dennoch um Längen besser als viele der derzeit erscheinenden Platten diverser Technoproducer, die unbedingt einen Abstecher in den so angesagten Ambientbereich machen wollen. "Introspectives" ist reine Head-Music, unaufdringlich und trotzdem irgendwie überall.

Wenn andere Leute schon längst in ihren tiefsten Träumen liegen und nichst Böses im Sinn haben, sollte man sich diese Platte anhören. (mk)


*Zur ruprecht-Titelseite