Reportage


Von godman und den fieldworkern

Entwicklungshilfe in Indien - Eigenverantwortlichkeit statt Fremdbestimmung

Sangeeta kennen sie alle in Rama. Jeden Morgen steigt sie mit einer großen Tasche und einer Waage unter dem Arm aus dem Jeep, um von Hütte zu Hütte zu gehen und nach dem rechten zu schauen. Heute beginnt sie ihren Rundgang bei Ritu und ihren Kindern. Mit großen Augen schauen die Kleinen auf die Schautafeln (flash-cards), die Sangeeta aus ihrer Tasche holt. Schon vieles haben sie von ihr über die Krätze oder Diarrhoe gelernt und können die Geschichten zu den Bildern bald selbst erzählen. Fast jede Frage beantworten sie jetzt schon voller Stolz und wissen somit, wie wichtig tägliches Waschen und richtiges Zähneputzen ist. Zum Schluß dürfen sich dann alle noch auf die Waage stellen. Man kann sich kaum vorstellen, welch Freude dies bei den kleinen Inderinnen und Indern auslöst. Im nächsten Blockhaus wartet eine Mutter mit ihrer unterernährten, zwei Monate alten Tochter auf dem Arm. Auch für sie hat die hübsche Krankenschwester etwas dabei. Meist reichen in solchen Fällen schon einfache Vitaminpräparate aus, um das Baby wieder aufzupäppeln. Noch einige weitere Kranken- und Aufklärungsbesuche in diesem 500-Einwohner-Dorf stehen heute noch auf Sangeetas Arbeitsplan, bevor sie Mahesh weiter in die nächste Siedlung fährt, wo sie auch schon erwartet wird.

Doch das war nicht immer so. Am Anfang ergriffen einige Bewohner sogar die Flucht, als die Mitarbeiter des Ecumenical Sangam mit dem großen Jeep im Dorf ankamen. Aus Angst vor Zwangssterilisationen, wie sie zu Zeiten Indira Gandhis zumindest einmal im Gespräch waren und an manchen Orten sogar durchgeführt wurden. Aber mittlerweile haben sie erkannt, daß diese Menschen ihnen nur helfen wollen. Und viele sind zur Mitarbeit bereit. Allen voran die Frauen. Dr. Mukerjee, der ehrenamtliche Leiter des Projektes, bestätigt, daß zuallererst die Frauen bereit sind, sich zu engagieren. Nicht nur deswegen wird grundsätzlich ein Mädchen zur Dorfkrankenschwester ausgebildet. Vielmehr ist es das Ziel, einerseits die Stellung der Frau aufzuwerten, die im gesellschaftlichen Leben eine untergeordnete Rolle spielt, und andererseits Vorkehrungen zu treffen, daß sich die Bewohner des Dorfes demnächst autark versorgen können.

Und dazu wird in Kursen und durch praktische Einsätze in jedem Dorf eine junge Frau zur Dorfkrankenschwester (sog. village health volunteer) ausgebildet, die sich dann um die alltäglichen Probleme der Bevölkerung kümmert. Sie braucht aber noch lange Zeit starke Unterstützung, denn im godman (eine Art Medizinmann) hat sie einen mächtigen Widersacher, der seine Macht nicht gerne abgeben will. Doch mit Geduld auf der einen und medizinischen Erfolgen auf der anderen Seite sind die meisten Einwohner bald zu überzeugen.

Zu diesem Zweck findet einmal im Monat ein sogenanntes "diagnostic camp" statt, bei dem das Basiszentrum in Bamhani, 40 km südlich von Nagpur, dem geographischen Mittelpunkt Indiens, zu einer Art Arztpraxis umgebaut wird. Zuerst wird im Sprechzimmer jeder der Patienten registriert, dann auf Herz und Nieren untersucht, und zuletzt, falls nötig, noch mit der passenden Medizin versorgt, für die sie allerdings zumindest einen Teil selber zahlen müssen. Denn die Erfahrung lehrt, daß die Arznei wesentlich zuverlässiger eingenommen wird, wenn man sie nicht geschenkt bekommt.

Der Ecumenical Sangam ist ein Entwicklungshilfeprojekt, das in dieser Form erst seit drei Jahren besteht, dessen Vorgänger aber bereits Anfang der siebziger Jahre vom Frankfurter Pfarrer Dohrmann, seiner in der Sozialarbeit tätigen indischen Frau und deren Bruder, Dr. Mukerjee, der als Arzt für die medizinischen Fragen zuständig ist, ins Leben gerufen wurde. Jetzt fungiert letzterer als eine Art Chef, der die Fäden in der Hand hält und den Einsatz der ca. 15 Mitarbeiter, allesamt Inderinnen und Inder, koordiniert. Der deutsche und englische Einfluß, der zu Beginn doch sehr stark war, damit das Projekt erst einmal vernünftig gestartet werden konnte, ist mittlerweile bis auf die finanzielle Unterstützung zusammengeschmolzen. Damit ist bereits nach zwanzig Jahren ein großes Ziel jeglicher Entwicklungshilfe erreicht, nämlich die Eigenverantwortlichkeit der Ortsbevölkerung. Allerdings hängt fast alles an den Spenden, die zu 90% aus Deutschland kommen. Damit auch diese Hilfe in Zukunft nicht mehr nötig ist, hat der Sangam bereits ein Gelände in Nagpur gekauft, um dort ein Hotel mit Tagungsräumen zu bauen, welches dann eine gewisse regelmäßige Absicherung garantieren wird. Auch die "westlichen" Methoden kennt Dr. Mukerjee sehr gut. Mehrmals im Monat verkehrt er in Clubs der Reichen, auch um neue Financiers zu finden. Man kann den Einsatz dieses Arztes gar nicht hoch genug bewerten, wenn man bedenkt, daß er wesentlich mehr verdienen könnte, wenn er nicht ständig in Sachen Sangam unterwegs wäre. Zudem ist er auch für die gute Stimmung im Team mitverantwortlich. Man hat den Eindruck, daß die 15 Männer und Frauen nicht nur Kollegen, sondern richtige Freunde sind, was um so beeindruckender ist, wenn man weiß, daß neben Hindus auch Protestanten, Katholiken, Muslime und Buddhisten unter ihnen sind. Zum Beispiel werden alle Mitarbeiter im Winter einen mehrtägigen Ausflug nach Delhi und zum Taj Mahal machen. Für die meisten die größte Reise, die sie je unternommen haben. Lediglich die treuesten Mitarbeiterinnen haben auf Einladung schon deutsche Luft schnuppern können.

Um die deutsch-indischen Kontakte zu fördern, fährt jedes Jahr einmal eine Gruppe junger deutscher Erwachsener, zumeist Studierende, unter der Leitung von Jona Dohrmann, dem Sohn des Gründerehepaares, nach Nagpur, um dort das Projekt Menschen und Kultur kennenzulernen und dort zu arbeiten. Am eigenen Leib können sie dort die schweißtreibenden Arbeitsbedingungen spüren und einen Einblick in die Schwierigkeiten beim Versuch zu helfen bekommen. Schon lange wollten die Einwohner Dhudas eine Straße durch ihr Dorf haben. Deswegen besorgte der Sangam die entsprechenden Materialien. Zusammen mit der deutschen Gruppe sollte diese dann gebaut werden. Doch am zweiten Tag war dann noch lediglich ein alter Mann zur Hilfe bereit, während sich der Rest der Bevölkerung irgendwo in den Hütten verkroch. Wahrscheinlich war man der Meinung, daß die "whiteskins" das auch alleine machen. Nach einer kurzen Krisensitzung zogen sich diese zurück. Nach langen Gesprächen zwischen den Einwohnern und den "fieldworkern" des Projektes, die aufgrund der fehlenden Kooperation schon langsam verzweifelten, aber die Hoffnung nie aufgaben, konnten die tonangebenden Männer überzeugt werden, und nach zwei Tagen hatten sie die Straße alleine, ohne fremde Hilfe, gebaut.

An diesem Beispiel erkennt man deutlich, wieviel Wert man auf Eigenverantwortlichkeit und Engagement legt. Deswegen gehört dem Sangam auch eine Nählehrerin an, die den Frauen in den Dörfern das Nähen beibringt, damit sich diese auch ein wenig Geld verdienen können. Ebenso soll es demnächst Kurse zum Erwerb von elektronischen Kenntnissen und handwerklichen Fähigkeiten geben, damit die Dorfbevölkerung eine reelle Chance hat, bessere Arbeitsangebote zu bekommen. Denn die 75% der Einwohnerschaft Indiens, die in Dörfern wohnen, leben fast ausschließlich von der Landwirtschaft, in kleinen übervölkerten Hütten und in Armut. Einen Monatslohn von umgerechnet fünfzig Mark erhalten nur die allerwenigsten. Da wundert es auch nicht, daß die Alkoholikerquote unter den Männern bei über 30% liegt, denn die Freizeitmöglichkeiten in solch einem Dorf sind sehr beschränkt. Bedenkt man, daß viele nicht richtig lesen können, bleibt eigentlich keine der Aktivitäten übrig, die ein deutscher Jugendlicher normalerweise ausüben kann. Um dem entgegenzuwirken, regen die Sozialarbeiter des Sangams Vereinsgründungen und die Bildung von "youth groups" an. Doch solange die Aufklärungsarbeit noch nicht weit genug fortgeschritten ist, z.B. kleine Kinder auf dem Feld arbeiten müssen, anstatt in die Schule gehen zu können, wird sich auch an der hohen Analphabetenquote von über 40% nichts ändern. Aber durch solch vorbildliche Projekte wie dem Sangam kann in absehbarer Zeit ein großes Stück zur Verbesserung der Lebensumstände, aber noch viel wichtiger der hygienischen Verhältnisse beigetragen werden. Eine weitere Stärke des Projektes in Nagpur ist seine Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen. Viele Gelder und Hilfsmittel der üblichen Organisationen versickern im Sumpf der indischen Korruption, die Ausmaße annimmt, die sich ein Westeuropäer schlichtweg nicht vorstellen kann. Doch dadurch lassen sich Sangeeta und ihre Freundinnen und Freunde nicht abschrecken, im Bemühen den "primitiven" Dorfbewohnern, die Wichtigkeit von Körperpflege und Vorsorge klarzumachen. Ein Indiz für eine erfolgreiche Arbeit ist die Tatsache, daß in Indien inzwischen über 95% der Kinder gegen Polio geimpft sind, und somit eine weit verbreitete Krankheit bald verschwunden sein wird. (te)

Für nähere Informationen über das Projekt und Möglichkeiten zur Teilnahme an Workcamps in Entwicklungsländern einfach bei der Redaktion nachfragen.


Regen in der Seele

Ein anderer Alltag: 250 Heidelberger, die nirgendwo hingehören

Dieter wartet. Wartet, bis das junge Mädchen weggegangen ist, das sich dort auf die Bank gesetzt hat, dort wo Dieter gesessen hat, bevor er auf die Toilette mußte. Wartet, weil der sich da nicht hinsetzten möchte, neben das Mädchen, daß dann wohl aufstehen würde. Angst vor einem angewiderten Blick, einem entsetzten Gesicht. Weil er weiß, daß er stinkt. Für andere stinkt, für die Leute da draußen, die nicht mehr zu seiner Welt gehören, schon lange nicht mehr. Also wartet er. Nicht nur, bis das Mädchen weg ist. Das ist nur ein kleines Zwischenspiel. Dieter wartet: auf den Tod. Der Alkohol hat ihn ausgesaugt, innen entleert. Sinnentleert. Nicht alle stehen so nahe am Abgrund, dort, wo der Boden schon bröckelt. Peter sitzt neben ihm: "Schlimmer kann es nicht mehr werden. Bin ja schon ganz unten, also nur noch besser." Hoffnung.

Peter war Oberleutnant der NVA, Ausbilder für Dienst- und Gebrauchshunde. Als er dann nicht der SED beitreten wollte, entließ man ihn, er arbeitete als Kellner in der DDR und Ungarn. ´89 dann gleich in den Westen, Auffanglager Braunschweig, wieder Kellner, bis er eine Frau kennenlernt und nach Heidelberg zieht, hier im Bahnhofsbistro arbeitet. Bis zum Jahreswechsel ´95/´96. Streit hatten sie vorher schon öfters, aber schließlich verläßt seine Freundin ihn, will Weihnachten, Sylvester und Geburtstag nicht mit ihm feiern. Also feiert er alleine. Kauft sich zwei Flaschen Schnaps, gegen die Eifersucht, gegen die Wut im Bauch, die Trauer. Zweimal kommt er angetrunken zur Arbeit, dann wird ihm gekündigt, er verliert seine Dienstwohnung über dem Bistro. Kündigung durch eigenes Verschulden, drei Monate bekommt er deshalb kein Arbeitslosengeld. Danach hat er nicht mehr den Mut gehabt, zum Arbeitsamt zu gehen. 17,60 DM ist alles, was er hat am Tag, den Sozialhilfesatz. Er holt seine Kreditkarte hervor, seinen ADAC-Clubausweis. Relikte eines anderen Lebens.

Geschichten, so normal, so gewöhnlich. Arbeitslosigkeit, Probleme mit der Miete, Kampf um Zahlungsaufschub. Dann die Kündigung. Kein Ort um unterzukommen, keine Verwandtschaft.

Eine junge Frau erzählt: Fünf Tage hat sie bei einer Freundin gewohnt. Bis diese ihr den Rat gab, auf den Strich zu gehen. Schock. Schmerz auch, wenn mit einem Mal alle Freundschaften zerplatzen, wie eine Seifenblase. "Dann sitzt Du wirklich am Bahnhof. Das war wie ein Knall", sagt sie. Immer in Anspannung sei sie gewesen, um das Leben auf der Straße zu organisieren. Toilette suchen, Essen besorgen, einen Schlafplatz einrichten, seinen Besitz bewachen. Kampf, um nicht unterzugehen. Besonders als Frau.

Schätzungsweise 24 wohnungslose Frauen gibt es in Heidelberg gegenüber offiziell 192 Männern. Die Dunkelziffer dürfte ein gutes Stück darüber liegen, da viele Frauen von Mann zu Mann ziehen. Jürgen ist Streetworker der katholischen Sozialstation, schätzt die Dunkelziffer auf insgesamt 250. 250, die nirgendwo hingehören. "Berber" nennen sie sich am liebsten. Platte, das ist ihre Schlafstelle, manchmal ihr Wohnzimmer, am gleichen Ort oder immer wo anders. Wo genau, das verrät keiner, das ist Geheimnis. Angst vor Dieben. Angst, verjagt zu werden. Irgendwie immer auf der Flucht. Jeder Schluck Alkohol Flucht aus der Realität von verletztem Stolz, kaputten Träumen und dem Gefühl von Wertlosigkeit. Flucht vor den Träumen, weil sie immer zerplatzt sind. Und dann weiß man auf einmal, was es so unendlich schwer macht, wieder herauszukommen aus der Mutlosigkeit. Was so viel Kraft braucht. Mehr als viele haben. Es ist dieser Schleier der Zeitlosigkeit im Kopf. Ein Schleier, der die Welt nicht mehr ordnet in Gestern, Heute oder Morgen. Der nur noch das Jetzt übrig läßt. Ein dumpfes, apathisches Jetzt. Es ist auch die Angst vor einer ganz anderen Welt. Eine Welt, die einen verändern wird. Das Gefühl, bei so viel Neuem die eigene Identität zu verlieren. Die Angst, sich selber aufgeben zu müssen. Jürgen versucht, die Wohnungslosen an Resozialisierungsprogramme heranzuführen, um ihnen diese Angst zu nehmen. Um ihnen ihr Selbstbewußtsein zurückzugeben. Ihre Träume. Der Traum von einem Dach über dem Kopf, einer Treppe zurück in die Anerkennung. Nie kommen alle unter, "bei der momentanen Arbeitsmarktsituation schaffen es gerade mal 10%. Früher hatten wir zu 30-40% Erfolg." Frust schwingt ein bißchen mit, wenn Gerhard Emig, Sozialarbeiter im Wichernheim, das sagt. Viele bleiben auf der Straße. Gewalt, weil viele nur die Härte kennengelernt haben, den Kampf. Gewalttätige Elternhäuser, Heimkarrieren. Niemand zeigte ihnen die andere Seite. Und jeder kennt einen, der dabei draufgegangen ist. Trotzdem gibt es so etwas wie Gemeinschaft. Peter hat heute eine Isomatte von Thomas geschenkt bekommen. Heinz gab einem Freund eine gefütterte Jeansjacke. Wütend war er nur, als dieser sich damit stockbesoffen in Hundescheiße legte.

Thomas schläft irgendwo in Leimen. Steht um fünf Uhr auf, damit niemand seine Schlafstelle sieht und ihn vertreibt. Läuft jeden Tag von Leimen nach Ladenburg, manchmal sogar bis nach Weinheim. Wandern gegen die Langeweile, gegen Lethargie. Er gehört zu den Nichtseßhaften, im offiziellen Sprachgebrauch, im Unterschied zu den Obdachlosen, jenen, die in Sozialunterkünften leben, weil sie auf dem freien Wohnungsmarkt chancenlos wären. Von Zeit zu Zeit macht er dabei "Schmale", kassiert an guten Tagen zwischen 50 und 150 DM. Betteln ist harte Arbeit. Das Geld ist schnell weg, viel zu schnell. Alkohol für ihn und ein paar Freunde. Ein bißchen Essen, mehr als zwei Tage reicht es nie. Zu seinem Bettellohn bekommt er Sozialhilfe, Kleidergeld und ist krankenversichert. Obdachlosen zahlt das Sozialamt noch eine Wohnung. Somit ungefähr 200 DM für jeden. Zusätzlich können sie noch 80 Stunden monatlich für 3,50 DM die Stunde arbeiten. Seit 10 Jahren erlaubt das Bundessozialhilfegesetz dabei eine Kürzung der Hilfe zum Lebensunterhalt bei Arbeitsverweigerung. Jährlich stehen der Stadt Heidelberg 780 000 DM für derartige Sozialleistungen zur Verfügung; hinzu kommen noch ungefähr 1,8-2 Mio. für Resozialisierungsprogramme. Zahlen. Es geht um mehr als Geld. Es geht um Würde. Um Respekt, den sie manchmal nicht einmal mehr von den anderen verlangen, weil sie ihn vor sich selbst schon längst verloren haben. Die Anerkennung, irgendwie dazuzugehören. Wenigstens irgendwo. Ohne Adresse fragt keiner nach einem. Kein Ort, wo man hingehen kann, wo man hingehört. Verlorenheit.

Heinz immerhin hat so einen Ort, ein Zimmer in Neuenheim.Klein, stickig, laut. "Ein bißchen wie eine gut geschützte Platte", sagt er selber dazu. Als Stukkateur, Installateur und Fliesenleger hat er gearbeitet, früher. Heiraten wollte er auch. Zweimal. Und dann erwischte er beide Freundinnen kurz vor der Hochzeit mit fremden Männern. Seitdem ist Zukunft für ihn nur noch ein leeres Wort. Im Gefängnis war er einmal wegen versuchten, das andere Mal wegen tatsächlichen Totschlags. Eine Ohrfeige hatte er ihm gegeben, unglücklich hingefallen ist derjenige dann. Und nie wieder aufgestanden. Gefängnis die Geschichte von 11 Jahren seines Lebens. Die restlichen dreieinhalb: unter einer Brücke am Neckar hat er geschlafen, bei den Half- und Quarterpipes. "Habe es sauber gehalten, aufgepaßt, daß Ordnung herrscht", erzählt er. Dann bekam er über die betreuten Wohngruppen sein Zimmer. Geändert hat sich seitdem nur die Nacht. Tagsüber sitzt er immer noch am Bismarckplatz, achtet immer noch darauf, daß Ordnung herrscht. "Sonst ham´ die uns gleich am Arsch. Und wir wollen doch einfach nur hier sitzen. Wir tun doch keinem was." Heinz braucht seine 3-4 Promille Alkohol als Spiegeltrinker. Zahlreiche Entgiftungen und Therapien hat er schon hinter sich. Trockenentzug oder Dystrol, synthetischer Alkohol, dessen Dosis allmählich reduziert wird. Alles umsonst. Er traut Entziehungskuren nicht mehr. "Das hab´ ich im Griff." Er glaubt daran. In seinem Zimmer zwei Bücher: "Jesus unser Schicksal" und "Hoffnung für alle". Hoffnung in den Büchern. Nur in den Büchern.

Der Torwart. In der 1. und 2. Mannschaft hat er gespielt, irgendwo im Saarland. Dort ist er auch unter Tage gefahren, neun Jahre lang, ab seinem 16. Lebensjahr. Eine Schlagwetterexplosion vernichtete seine Arbeitsstelle, er ließ sich zum Glashüttenarbeiter umschulen, wanderte von Glashütte zu Glashütte. Ziesel, Aachen, Bad Wurzenried. Auf Walze ist er immer noch, sagt er. Bloß bei den Glashütten, da ist er schon lange nicht mehr gewesen. Ein Zimmer hat er in Heidelberg, steht morgens auf, ißt im Wichernheim für 5 DM zu Mittag, setzt sich mit einer Flasche Schnaps an den Neckar. Erzählt, daß er "eigentlich schon an jeder Ecke in Heidelberg auf der Schnauze gelegen hat", weil er so besoffen war. Langsam erzählt er, wiederholt die Worte. Immer wieder. Wer nur den Moment erlebt, kennt keine Eile. Immer das gleiche zu sagen ist besser, als die Stille zu spüren, die Stille, die im Hintergrund droht. Die Stille, die Verlorensein heißt. Erzählt, bis Fußball im Fernsehen kommt. Schaut sich das Spiel an, geht danach zurück in seine Wohnung, legt sich schlafen. Rhythmus eines Lebens. Wie das andere, "normale" Leben ist, sein kann, hat er lange vergessen. Er hat es sich nicht ausgesucht. "Viele Obdachlose", sagt Gerhard Emig, "kommen mit der Bürokratie nicht zurecht, beantragen kein Arbeitslosengeld oder können nicht mit Geld umgehen." Und dann stehen sie dort, wo der Boden kalt und das Dach der Himmel ist.

"Manchmal, nachts auf der Platte, denkt man schon: Wie wäre das, morgen einfach nicht mehr aufzuwachen. Und die Angst davor ist irgendwie weg." Verlorengegangen in den vielen Nächten der Einsamkeit. Der Wille zerplatzt auf dem harten Beton der Straße. Weggewaschen, wenn der Regen nachts auf der Platte den Schlafsack durchdringt. Die Kälte, die er mitbringt, sich im Körper einnistet. Regen ist schlimmer als jeder Tritt, jeder verächtliche Blick. Regen kann man nicht hassen, nicht so hassen wie Menschen. Weil Regen ganz tief hineingeht, die Seele verwässert. Den Willen fortwäscht. (rot)


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