Heidelberg


Sand im Getriebe

Heidelberger werfen sich auf Bahngleise

Das Telefon klingelt. In der Weststadt, in der Altstadt. In Kirchheim, in Bergheim. Wenig später machen sich ein paar Gestalten auf den Weg zu ziemlich unwirtlichen Stellen der Region. Zu Weichenstellwerken bei Bruchsal, auf abgelegene Bahnhofsgleise bei Heidelberg, in die Nähe von gut geschützten Verladekränen bei Philippsburg.

Wenn irgendwo in Süddeutschland Atomtransporte auf den Weg gebracht werden sollen, wissen sie es bald, die Aktivisten der Heidelberger "Castorgruppe". Und sie begleiten die Transporte fürsorglich mit Demonstrationen und Sitzblockaden und anderen direkten Aktionen.

Sie wehren sich gegen das Verschicken von Atommüll in Wiederaufbereitungsanlagen und Endlager, weil sie nicht glauben, daß man das verstrahlte Material sicher entsorgen kann. Und weil sie hoffen, daß einem Staat und einer Industrie, die ihre Strahlenabfälle nicht loswerden, eines Tages die Lust am Atomstrom ganz vergeht. Was man macht, ist nicht immer besonders legal, aber man hält es für legitim.

"Wir wollen Druck auf die Politik machen, der größer ist als den, welchen die Atomlobby ausübt”, sagt Heinz, ein Mitglied und Mitbegründer der Gruppe, die sich im Karlstorbahnhof trifft. Zudem "haben Atomtransporte nach Gorleben und das Eintreten dagegen auch symbolischen Wert, stehen für den gesamten Streit um die Nutzung der Kernenergie.” Das sehen nicht alle Atomkraftgegner so: Michael Sailer, der Kernkraft-Experte des Öko-Instituts, warnt vor einer einseitigen Fixierung auf die Transporte ins Endlager, weil er fürchtet, daß dies die Industrie in die gefährlichere, aber geräuschlosere Wiederaufbereitung treibt: Wenn sich um die Wiederaufbereitungstransporte nach Le Hague nur 30 statt 1000 Demonstranten kümmern, rollen sie halt dorthin.

Die Routen der Transporte stehen nicht gerade im Kursbuch der Bundesbahn. Woher kennen die Bahn-Blockierer sie trotzdem? "Wir haben halt überall unsere Informanten”, schmunzelt Heinz, "es gibt einige Leute bei der Bahn und bei den Genehmigungsbehörden, die auch keine Kernkraftwerke mögen. Außerdem beobachten einige von uns selber die Bewegungen vor den Kernkraftwerken und Verladebahnhöfen.”

Der "Tag X” - der erste Transport von verstrahltem Material ins das geplante Endlager im niedersächsischen Gorleben im April 1995 - hat auch in Heidelberg eine neue Anti-Atomkraft-Bewegung entstehen lassen. Mittlerweile zählt die Castor-Gruppe zwanzig, ihr Umfeld für spontane Aktionen vielleicht fünfzig Leute ("aber sie kommen nicht alle zu den Sitzungen”, gibt Heinz zu). Mehr als die Hälfte davon sind Studierende, zwei stehen im Beruf, der Rest sind Schüler. Nur zwei sind älter als dreißig. Diese jugendliche Zusammensetzung ist nicht repräsentativ für die Anti-AKW-Bewegung, wohl aber für den Kreis derjenigen, die sich tatsächlich vor die Züge setzen.

Politisch stehen die meisten Mitglieder der pazifistisch-anarchistischen Graswurzelbewegung nahe. Im Umfeld finden sich Leute von der Grün-Alternativen Jugend, die zu den eigentlichen Aktionen kommen.

"Früher haben wir nur auf die spektakulären Transporte nach Gorleben geachtet”, erzählt er. "Mittlerweile kümmern wir uns auch um die Transporte von Wiederaufbereitungsmaterial nach Le Hague in Frankreich und Sellafield in Großbritannien.” Natürlich hat sich die Art, wie die Aktivisten aktiv sind, auch schon gewandelt: Zu Beginn war es eine reine Aktionsgruppe, die sich kaum um Öffentlichkeit bemühte, höchstens mal ein paar Plakate klebte. Mittlerweile kümmern sie sich wie alle, die die Öffentlichkeit erreichen wollen, auch um Medienwirksamkeit. Schließlich wissen auch sie, daß das Beeinflussen der öffentlichen Meinung, mit der auch sie die Abschaltung der Atomanlagen erreichen wollen, fast nur über Presse oder Rundfunk erreicht werden kann.

"Natürlich geht es immer noch um die Aktionen als solche”, versichert Heinz, "aber es ist uns schon wichtiger geworden, daß unsere Aktionen und vor allem das, wogegen sie sich richten, in der Öffentlichkeit sichtbar werden.” Deshalb klingeln mittlerweile, wenn der Castor wieder rollt, nicht nur die Telefone der Aktivisten, sondern auch die einiger Radioreporter und Zeitungsredakteure. Und einige der Gruppenmitglieder haben sich jetzt auch theoretisch so schlau gemacht, daß sie auf Vortragsreisen zu Gleichgesinnten gehen. Außerdem sah schon der zweite Atomtransport nach Gorleben im Mai 96, "Tag X hoch 2” genannt, auch organisatorisch besser vorbereitete Atomkraftgegner in Heidelberg.

Und wie soll ohne Kernkraft der Strom in die Steckdose kommen? Die Frage langweilt schon fast. "Es gibt mittlerweile genügend Untersuchungen, die zeigen, daß wir in einem Jahr alle AKWs abschalten könnten, ohne das irgendwo das Licht ausgeht. Die Stromkonzerne selbst haben genügend Überkapazitäten aufgebaut. Aber sie wollen die Kernkraftwerke nicht abschalten, weil die ihnen den meisten Gewinn bringen”. Und auch die Erkenntnis, daß sich Atomstrom auch ökonomisch nicht rechnet, ist alt. Er lohnt sich nur für die Produzenten, die weder für die Entsorgungskosten noch für die Risiken dieser Energieart richtig bezahlen. Darum kümmert sich größtenteils der Staat. Würde man nur einen kleinen Prozentsatz dieser Kosten in den Strompreis hineinrechnen, wäre Atomstrom teurer als Solarenergie und erst recht kostspieliger als Wasser- oder Windenergie. "Ganz abgesehen davon, daß wir unseren Energieverbrauch durch einen anderen Lebensstil stark vermindern könnten”, fügt Heinz hinzu.

Und deshalb wird man die Heidelberger Castorgruppe auch am "Tag X hoch 3” in diesem Frühjahr bei Gorleben und auf der Strecke dahin sehen. "Gewaltfrei, aber Gesetze übertretend”. (hn)


Der heimliche Oberbürgermeister

Manfred Metzner prägt Heidelberg - und umgekehrt

Politisches Engagement, beispielsweise in der Schülermitverwaltung im Gymnasium oder im Politischen Arbeitskreis, nahm schon immer eine zentrale Stellung in Metzners Leben ein. Vielleicht waren es die Langeweile und der Kleinstadtmief im oberschwäbischen Friedrichshafen, vielleicht war es das "rabenschwarze Klima”, das dort herrschte, das ihn antrieb, politisch zu agieren. Dies mischte sich in den Folgejahren mit Eigenschaften wie Wissensdurst, Tatendrang und vielleicht auch Abenteuerlust. Metzner kam im Oktober 1967, nach einem kurzen Umweg über Amerika, nach Heidelberg, um sein Jurastudium aufzunehmen. Gerade rechtzeitig, also zur bevorstehenden Studentenrevolte, nachdem er sich zuvor noch von der amerikanischen Hippie-Bewegung inspirieren ließ. Seine politische Ader schlug nach wie vor, gerne erzählt er von seinen ersten Erlebnissen an der Universität, von der Erstsemesterbegrüßung, wo sich schon der erste (friedliche) Protest in Form von Sprechchören und Wunderkerzen bemerkbar machte. Aktiv wurde der heutige Rechtsanwalt dann erstmals in der sogenannten Heimkampagne, bei der man gegen die fatale Situation in Erziehungsanstalten aufmerksam machen wollte. "Wir konnten es einfach nicht akzeptieren, daß jedermann, ob Maler oder Metzger, in vierwöchigen Kursen Erzieher werden konnte.” Metzner zählte sich trotz allem Einsatz nie zu den extremen Linken wie den K-Gruppen. Protest ja und auch nicht zu wenig, aber mit Lust in Maßen, so das Motto des undogmatischen Linken. Hier sei nur die mehrfach durchgeführte Rote-Punkt-Aktion genannt, als sich die Studenten gegen Fahrpreiserhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel zur Wehr setzten. Zu diesem Zweck boten sie kostenlose Fahrdienste mit dem privaten Auto an. "Damals haben wir die Stadt beherrscht, heute beherrscht die Stadt die Studenten”, resümiert Metzner.

Treffpunkt und Schmiede der Studenten war bis Ende der 70er Jahre das Collegium Academicum in der Seminarstraße, ein von den Amerikanern 1945 eingerichtetes Studentenwohnheim, Raum für Subkultur, "ein offenes Haus, ein Ort freien Denkens”, erzählt Metzner.

Unterdessen machte Metzner sein Examen, wurde Referendar und ging für ein Jahr als Assistent an die Juristische Fakultät nach Montpellier. Dort lernte er vom "Kampf der 111 Larzac-Bauern” okzitanischer Separatisten erneut, was Widerstand bedeutet. Was er außerdem aus Frankreich mitbrachte, war das "Bewußtsein, daß Kultur und Politik unweigerlich miteinander verbunden sind und daß Politik in den Alltag integriert ist”. Mit dieser Erkenntnis im Gepäck kehrte er zurück und fragte sich, wie er dies von der Theorie in die (deutsche) Praxis umsetzen könnte. Man suchte nach einem Medium, um möglichst an eine breite Öffentlichkeit zu gelangen. Dies war die Zeitschrift "Carlo Sponti, Zeitschrift für das Leben davor”. Carlo Sponti war ein Forum für Emanzipation, Musik, Theater, Literatur, Subkultur, die Dritte Welt und Film. Dieses Projekt wurde 1978 eingestellt. Der Kreis um Metzner stand erneut vor der Frage, wie man weiterhin Kultur "unter die Leute bringen könne” und all die guten Ideen, die man im Lauf der Jahre gesammelt hatte, noch verwerten könne, eingebettet in die Konzeption der "Gegenöffentlichkeit”. Man gründete den Verlag "Das Wunderhorn”, denn Bücher haben "eine längere Haltbarkeit als Zeitungen”, so Metzner. Jörg Burkhard, "der erste linke Buchhändler Deutschlands” und Michael Buselmeier waren die ersten Autoren des Verlags. Grundsatz des Verlags, der heute aus Angelika Andruchowicz, Hans Thill und eben Manfred Metzner besteht, ist die Verbreitung von Texten vergessener Autoren oder ungewöhnlicher Literatur. Metzner nennt es "Erneuerung der Literatur nicht aus der Metropole, sondern aus der Peripherie”. Man legt Wert auf ein Verlagsprogramm "jenseits der Bestsellerlisten”, man möchte die Leser "mit neuen Inhalten konfrontieren”. Ein Programmschwerpunkt liegt deshalb in der Verbreitung frankophoner Literatur. Ein bißchen Wehmut oder gar Verbitterung ist Metzner anzumerken, als er von der Preispolitik einiger großer Verlage erzählt, die Bücher zu Tiefstpreisen verschleudern. "Die produzieren von Anfang an für die Ramschkiste.”

Aber nun zurück zu Metzners politischem Werdegang. Wir schreiben das Jahr 1984, Metzner wagte den Sprung auf größere politische Bühnen. Er wollte Heidelberg nicht den Rücken kehren, sondern hier kontinuierlich auf kommunalpolitischer Ebene etwas bewegen. Nach einiger Vorarbeit, er war z.B. Mitbegründer der Grün-Alternativen Liste, ließ er sich im Mai 1984 als OB-Kandidat neben Zundel und Müller, einem SPD-Mann, aufstellen. Schelmisch und nicht ohne Stolz blickt er auf den "spielerischen und ernsthaften Wahlkampf zugleich” zurück. Er wollte neue Ideen in die Debatte bringen, wobei Sozialpolitik, Umweltpolitik, Verkehrspolitik und Kulturpolitik im Vordergrund standen. Sowohl die Wähler als auch die Mitbewerber ("Der Zundel bekam es mit der Angst zu tun”) nahmen ihn ernst, Metzner konnte immerhin 3,9 % der Stimmen für sich verbuchen. Im Herbst 1984 ließ sich Metzner als Kandidat der GAL für das Stadtparlament aufstellen, dem er bis 1994 auch angehörte.

"Ich bin eine Person, die ständig in Bewegung ist” - so sein Motto, das bis in die Gegenwart erhalten blieb. Exemplarisch für sein aktuelles Engagement sind die Mitinitiierung der Heidelberger Literaturtage, der Initiative für ein "Prinzhorn-Museum”, oder sein Vorsitz in der Jury des Brentano-Literaturpreises zu nennen. Angesprochen auf die heutige Studentenschaft, zeigt sich der Altachtundsechziger ein wenig enttäuscht und ratlos über das mangelnde Engagement: "Die Uni ist bedrückend tot, die Studenten müssen aufmüpfiger werden. Sie sollten nicht so sehr an 'Morgen' denken. Ich verstehe nicht, warum sie nicht die Erfahrungen der 'Alten', hier in Heidelberg Gebliebenen, besser nutzen.” (jh)

Manfred Metzner und Heidelberg - eine Freundschaft, die mittlerweile schon dreißig Jahre andauert. Was jedoch nicht heißen soll, daß Metzner, heute Rechtsanwalt und Verleger, nur sonnige Tage in der Kurpfalz erlebt hätte. Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Heimkampagne, die Rote-Punkt-Aktion, Collegium Academicum, Carlo Sponti, Männergruppe, 3. Welt-Laden, Gloria-Kino, Gründung des Verlages "Das Wunderhorn”, Mitbegründer der Grün-Alternativen Liste, Stadtrat, Kandidatur zum Oberbürgermeister, um nur einige Stationen in Metzners Leben und der Stadtgeschichte Heidelbergs zu nennen.


Radio Wildes Heidelberg

Frischer Wind in alten Hallen: SDR 3 im Hauptbahnhof

Hauptbahnhof, große Halle. Eigentlich nur mal eben auf den Fahrplan geschaut. Plötzlich eine Stimme von hinten: "Hallo bei SDR 3 Point, heute wieder live aus dem Clubhouse im Heidelberger Hauptbahnhof.” ruprecht traf Moderator Jochen Graf und sprach mit ihm über die Ambitionen, die sich mit dem Clubhouse verbinden, und die Zukunft von SDR 3.

Kurz nach 19 Uhr. Ein kühler Donnerstag im Januar. Nicht viel los im Hauptbahnhof. Neonhell erleuchtet sitzt Jochen Graf inmitten von Schaltern, Reglern und Wiedergabegeräten. Draußen ein paar irritierte Passanten. Kann man da was kaufen? Ich trete ein: "Interview für eine Studentenzeitung?” - "Klar, komm nach hinten.” Freundlichkeit gehört zum Geschäft, und es ist für den Moderatoren offensichtlich angenehm, dem sterilen Funkhaus für ein paar Stunden entkommen zu sein. Ich frage nach den Zielen, und Graf gibt bereitwillig Auskunft. Das Clubhouse ist geschaffen worden, um den Kontakt zu den Hörern zu verbessern. Mit der dort erhältlichen Clubmitgliedschaft erschließt man sich die Möglichkeit, eine Fülle von Veranstaltungen billiger zu besuchen. Nicht wenige Konzerte veranstaltet SDR3 mittlerweile in eigener Regie. In gewisser Weise stellt das Clubhouse wohl auch einen Ausgleich für das vor einigen Jahren abgschaffte Studio in Heidelberg dar.

Doch das ist nur eine Seite des Konzeptes. In den Sendungen aus Heidelberg wird die Rhein-Neckar-Region stark berücksichtigt, vor allen Dingen natürlich Mannheim und Heidelberg. Zweimal täglich geht "What's up” über den Äther, ein Informationspool für die Region. Und natürlich finden, wie schon im Stuttgarter Hauptbahnhof, renommierte Sendungen wie "Leute” und "Treff” mit prominenten Gästen statt. Doch es gibt nicht nur Unterhaltung: "Wir haben auch politische Informationen drin, zum Beispiel jetzt aktuell über die Studiengebühren, da senden wir auch Gespräche mit Studenten.” Der Hauptbahnhof sei für alle diese Zielsetzungen der ideale Ort, weil dort Tag für Tag eine große Menge Passanten vorbeiströme. Ökologisch orientiert sei man bei der Wahl des Ortes nicht vorgegangen. Werbung, Verkehrsmeldungen, Platte anlaufen lassen. Zwei Hände, tausend Schalter. Graf klinkt sich höflich aus dem Gespräch aus, zwei lockere Sprüche, dann fährt er die Platte ab. BAP, Verdamp lang her. Weiter geht's.

Durch die Diskussion um die Zusammenführung von SDR und SWF liegt es natürlich nahe, in der Schaffung solcher Einrichtungen wie der des Clubhouse einen Versuch zur Festigung des eigenen Senders zu sehen. Doch Graf negiert, der Club und seine Projekte seien schon lange vor dieser Diskussion initiiert worden. Daß es aber einen Vorteil in den Verhandlungen darstellt, mag er nicht leugnen. Der Club ist mit mehr als 330.000 Mitgliedern der größte seiner Art in Deutschland - ein schwerwiegendes Verhandlungsgewicht. "Man kommt mit den Leuten hier in Kontakt, und es tut gut zu sehen, daß sie sich für das interessieren, was mit SDR 3 geschieht.” Ob er sich ein Aus für SDR 3 vorstellen kann? "Ich gehe davon aus, daß es weiterhin ein Radio für den Wilden Süden geben wird.” Entsprechend zukunftsorientiert sind auch die weiteren Pläne. Mit dem Heidelberger und dem Stuttgarter Projekt soll das Ende noch nicht erreicht sein, Graf hofft auf Projekte in anderen Städten, wieder in Hauptbahnhöfen. Bandmaschine abfahren, Reportage von Günther Schneidewind. Ich sattele meinen Rucksack, so freundlich wie beim Eintreten geht's auch in die andere Richtung zu. Tür auf, schwarz, kalt. Und während ich Ewigkeiten auf den Bus warte, denke ich mir: Feine Sache, dieses Clubhouse; da schaust Du auch privat mal wieder rein. (papa)


Göttliche Gnade oder menschliche Hilfe?

Eine Chronik vom "Homo Heidelbergensis” bis zur "Medizin in Bewegung”

Die Darstellung geschichtlicher Abläufe, festgemacht an einem konkreten Ort und einzelnen Personen, ist besonders eindrücklich. Heinrich Schipperges, bis 1986 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg, gelingt dies mit der vorliegenden Chronik, die eigentlich als Gesamtdokumentation für die Ärzteschaft Heidelberg entstand.

Verständlicherweise kann Schipperges den so programmatischen Untertitel nicht umsetzen. Kurz führt er mit dem Fund des Maurer Unterkiefers und der Frühgeschichte der Ärzteschaft im Mittelalter ein, während sich der Hauptteil mit der Entwicklung der Medizin und der Universität in Heidelberg vom Mittelalter bis heute beschäftigt. Der Umbruch der Medizin im 19. Jahrhundert wird dabei besonders hervorgehoben. Dabei ordnet Schipperges immer wieder die Entwicklungen in Heidelberg dem globalen Geschehen zu. Abschließend stellt er noch die augenblickliche Situation in Heidelberg dar, indem Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen und andere Institutionen vorgestellt werden.

Attraktiv und anschaulich wird die Chronik, da Schipperges hauptsächlich Zeitzeugen reden läßt und selbst nur die Zusammenhänge deutlich macht. Ihnen überläßt er auch die Beurteilung. "Die ältere Geschichte freilich”, so Becker 1876,” habe weniger Erfreuliches zu bieten. Perioden des Glanzes habe es in Heidelberg vor dem 19. Jahrhundert nie gegeben.” Somit erfolgt die Darstellung über Biographien und Zitate von Personen, die für ihre Zeit wichtig, typisch oder originell sind. Kritisch anzumerken ist, daß dabei manche Auszüge auf Latein ohne Übersetzung wiedergegeben werden.

Interessant für den Leser ist die Entwicklung des verherrlichenden hippokratischen Arztbildes vom "Baumeister der Gesundheit”, "ein Licht im Hause, das Dunkel erleuchtet und Freude verbreitet” zur selbstkritischen Betrachtung des Chirurgen Ambroise Paré im 16. Jahrhundert: "Oft kommen die Patienten eher, wie mir scheint, durch göttliche Gnade davon, als durch menschliche Hilfe.” Aber auch zeitlose Prinzipien werden deutlich. "Ein anständiger Chirurg soll den Kranken nicht wie die Sau den Bettelsack anfahren und mit ihm tyrannisch nach seiner Wuth umspringen; mit einem zarten Mann nicht wie mit einem Drescher, noch mit einem Menschen gleich einem Hunde umgehen”, so "Des getreuen Eckardt's verwegener Chirurgus” 1698.

Immer wieder unterbricht Schipperges für grotesk anmutende Züge der Medizingeschichte. Hier die Schilderung eines "Anatomischen Theaters” im 16. Jahrhundert: "Nach einem musikalischen Intermezzo rollte man einen großen Tisch in den Salon. Der Operateur erläutert dann mit leiser Stimme die Sektion; von Zeit zu Zeit wird die Vorlesung durch Musik unterbrochen; Erfrischungen werden herumgereicht, und die Damen genießen Eis oder kleine Kuchen.” Nachdenklich zur Zeit der Gesundheitsreform und Kostendämpfung die Diskussion um Reduzierung der "Irren- und Siechenanstalten” 1829 aus Budget-Gründen, "damit die Kanditaten des Jammers eher und besser - sei es auch durch die Pforten des Hungertodes - ins Himmelreich ... gelangen. Wie viele Kosten könnten gespart werden...” Aber auch in unserem Jahrhundert läßt sich Kurioses finden, so das "Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg” in den 70er Jahren. Die reichliche Ausstattung mit mittelalterlichen Buchdarstellungen, Ansichten historischer Gebäude und Bilder der Portraitierten belebt das Lesen zusätzlich.

So ist dieses Buch nicht nur Medizinern zu empfehlen, die sich mit ihrer Tradition auseinandersetzen sollten, sondern jenen Heidelberg- und Geschichtsinteressierten, die sich auf eine etwas andere Sichtweise einlassen wollen. (jm)

Heinrich Schipperges: Ärzte in Heidelberg.
Eine Chronik vom "Homo Heidelbergesis” bis zur "Medizin in Bewegung”
Edition Braus, Heidelberg 1995.
248 Seiten, DM 58,-


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