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20.02.2010

Mit Verstand nicht zu begreifen

Bürokratie, kurze Röcke und „schreckliche Seminare“ in St. Petersburg

„Mit dem Verstand ist Russland nicht zu verstehen, an Russland kann man nur glauben“, sagte der russische Dichter Feodor Ivanovic Tjucev. Dass sie bis heute zutreffen, ist nach einem Semester an der Uni Sankt Petersburg nur zu bestätigen.

Erschien erstmals am 5. Juli 2005 in der ruprecht-Ausgabe 97

„Mit dem Verstand ist Russland nicht zu verstehen, an Russland kann man nur glauben“, dass diese berühmte Zeilen des russischen Dichters Feodor Ivanovic Tjucev bis heute zutreffend sind, kann ich nach einem Semester an der staatlichen Universität Sankt Petersburg nur bestätigen.

Foto: Nina FrießVielleicht ist es einfach utopisch anzunehmen, man könnte als Austauschstudent in irgendeinem Land der Welt ankommen, ein Papier abgeben und direkt anfangen zu studieren.

Der Austauschstudent in Petersburg kämpft sich die ersten zwei Wochen seines Aufenthalts wie in dem berühmten Asterixfilm durch ein völlig unübersichtliches Unigebäude, um den rosa Passierschein A 38 zu bekommen, mit dem er die Erlaubnis zum Studieren erhält.

Ohne Kenntnisse der Landessprache ist man verloren, denn die im Auslandsamt arbeitenden Damen, die alle noch die gute alte sowjetische Schule durchlaufen haben, auch was ihre Freundlichkeit angeht, sprechen natürlich nur russisch.
Ohne Papiere ist man kein Mensch

Man rennt die ersten Tage mit Unmengen von Passfotos (was tun sie damit?), seinem AIDS-Test und vielen, mit Dutzenden von Stempeln versehenden Papieren in der Hand hilflos von einer Tür zur anderen, und hofft, irgendwann die Zulassung für sein Institut zu bekommen. In Russland gibt es ein nettes Sprichwort, das besagt, dass man ohne Papiere ein Käferchen, mit Papieren aber ein Mensch sei. Sehr zutreffend.

Die Vorlesungen und Seminare wählt jeder nach gut Glück aus, denn Informationen über ihren Inhalt lassen sich nicht finden, leider auch nicht in den Veranstaltungen selbst, Seminarpläne werden nicht verteilt. Vorlesungen heißen hier Vorlesungen, weil in ihnen vorgelesen wird. Das soll auch bei uns bisweilen vorkommen, aber ich wage zu bezweifeln, dass man bei uns einfach immer aus dem gleichen Buch vorliest, noch dazu nicht mal aus dem Eigenen.

Da aber der Großteil meiner hiesigen Kommilitonen eher damit beschäftigt war, sich um seine Schönheitspflege zu kümmern (die Uni ist ein großer Heiratsmarkt, was vor allem mit beginnendem Frühling und den kürzer werdenden Röcken meiner Mitstudentinnen sehr schön zu beobachten war) oder auf seinem Handy herum zu spielen, fiel das kaum auf.

Quo vadis Russland?

Foto: Nina FrießEinige Kommilitonen berichteten mir von einem „schrecklichen Seminar“, in dem man zur Vorbereitung Literatur lesen, sowie Referate halten müsse. Was soll man dazu sagen. Die Motivation der Dozenten ist nicht wesentlich höher, von wenigen Ausnahmen abgesehen, was man aber bei Grundlöhnen, die bisweilen um die 200 Euro liegen, nachvollziehen kann.

Das gesamte russische Universitätssystem ist wesentlich verschulter als bei uns, sehr auf Frontalunterricht und stumpfsinniges Auswendiglernen, vor allem vor den Prüfungen, ausgelegt. Positiv empfand ich die Größe der Veranstaltungen: selten mehr als 20 Leute; hätte es Interesse gegeben, hätte man äußerst produktiv diskutieren können.

Man fragt sich ja bisweilen in Deutschland, was der Politikwissenschaftler an sich nach seinem Studium macht, aber: was tut er erst in Russland? Natürlich ist die unabhängige Politikwissenschaft in Russland noch sehr jung, auch hier hat die Sowjetunion ihre Spuren hinterlassen, aber ich habe mich oft gefragt, wo sie hinführen soll. Aber das fragt man sich auch bei Russland im Allgemeinen.

Eis essen bei minus 15 Grad

Festzustellen ist, dass sich die Qualität des Studiums von Institut zu Institut stark unterscheidet, so sind die Naturwissenschaftler hier begeistert von den weitreichenden Möglichkeiten Qualität von Praktika und dergleichen. Das mag sich alles ein wenig merkwürdig anhören, viele Leute abschrecken und die Frage aufwerfen: Wofür geht man dann nach Russland? Sicherlich nicht in erster Linie zum Studieren, sondern zum Erlernen der Sprache und zum Kennen lernen der Gesellschaft, der Kultur, dem Leben in Russland an sich.

Natürlich ist Petersburg nicht Russland, aber russische Besonderheiten lassen sich auch hier finden, kennen und lieben (oder hassen) lernen: Pelzmützen bis Anfang Mai, Eis essen bei Minus 15 Grad, Frauen in kurzen Röckchen und hohen Stiefeln, hilfsbereite und gastfreundliche Menschen, tagelang kein heißes Wasser, billiger Wodka (und dessen Folgen) und ein gigantisches Kulturangebot.

So nehme ich aus diesem Semester nicht wirklich viel Fachwissen, aber um so mehr Liebe zu Russland mit.




von Nina Frieß
   

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