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 Interview
13.06.2011

"Es gibt keine Religionskriege!"

Markus Weingardt erforscht das Friedenspotenzial von Religionen

Weingardt erforschte erstmals die Friedenspotenziale der Religionen. Sein ĂĽberraschendes Fazit: Entgegen dem Bild in den Medien ist die Friedensarbeit aller Religionen sehr umfangreich. Doch die Ă–ffentlichkeit nimmt diese kaum wahr.

Das Gespräch führten Reinhard Lask und Lisa Grüterich

ruprecht: Bisher gibt es etliche Bücher und Dokumentationen über die Rollen von Religionen in Konflikten. Doch sie haben sich in ihrem Buch „Religion Macht Frieden“ als Erster mit dem Gegenteil, den Friedenspotenzialen beschäftigt. Wie kam es dazu?

Markus Weingardt: Ein Auslöser war, dass es mir seltsam erschien, dass in den Medien stets Negatives über die Rolle von Religionen berichtet wurde, wo die Religionen doch alle den Anspruch haben, zumindest im Kern friedlich zu sein. Das passte einfach nicht zusammen. Eine andere Diskrepanz war, dass ausgerechnet Mahatma Gandhi oder Martin Luther King weltberühmte Heroen gewaltlosen Widerstandes sind. Beide waren hoch politische und zugleich tief religiöse Persönlichkeiten. In der Betrachtung von Gandhi und King kommt das Religiöse jedoch immer zu kurz. Man sieht sie stets als singuläre politische Erscheinungen. Niemand schaute bisher, ob es nicht ganz viele solcher Menschen gibt und vielleicht Gandhi und King nur die Spitze des Eisbergs waren. Das hat mich irritiert und motiviert.

Warum hat da noch kein anderer nachgeschaut?

In den 1970er und 1980er Jahren war Religion weitgehend irrelevant. Die Soziologie und Politologie ging mehr oder weniger davon aus, dass sich die Religionen im Laufe der zunehmenden Säkularisierung von selbst erledigen würden. Das war die Hochzeit der Säkularisierungstheorie, in der sich die Friedensforschung kaum mit Religion beschäftigt hat.

Bis Anfang der 1990er Samuel Huntington seinen „Kampf der Kulturen“ veröffentlichte.

Genau. Da hat sich die Wissenschaft plötzlich auf die Religion gestürzt, aber immer unter dem Fokus der Konflikte. Selbst seine Kritiker sind Huntington zumeist in der Hinsicht gefolgt, dass auch sie nur die Rolle der Religionen in Konflikten untersucht haben, aber nicht in Friedensprozessen.

Waren die 1990er eine Zeit, in der besonders viele religiös motivierte Konflikte ausbrachen?

Nein. Huntington hatte sich damals insbesondere mit dem jugoslawischen Bürgerkrieg auseinandergesetzt. Man kann Huntington zugute halten, dass durch ihn Religion zu einem wichtigen Thema der Friedens- und Konfliktforschung wurde und spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 die wissenschaftliche Diskussion dominierte. Doch nur ganz allmählich setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass es eine Ambivalenz von Religionen gibt. Es wird allerdings wohl noch etwas dauern, bis sich einige mehr auch mit dem Friedenspotenzial von Religionen befassen.

Sie kritisierten letztens die deutschen Amtskirchen, dass sie ihre Friedensarbeit vernachlässigt hätten. War das eine zeitgleiche Entwicklung, dass die Religionen ihre Friedensarbeit zurückgefahren haben und so die Konflikte zunahmen?

Eine interessante These. Man kann feststellen, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einige ethnische Konflikte wieder aufbrachen. Das hat auch Huntington festgestellt, hat dabei aber eben die religiöse Komponente stark betont. Beides fällt insofern zusammen, als die kirchliche Friedensbewegung – zumindest in Deutschland – nach 1990, 1991 wesentlich eingebrochen ist. Man dachte, dass jetzt der große Konflikt gelöst sei und sich weltweit Frieden ausbreiten würde. Dadurch ist die kirchliche wie auch die säkulare Friedensbewegung etwas eingeschlafen, obwohl sie heute freilich nicht weniger wichtig und notwendig ist als vor 20 Jahren.

Wenn man heute von Attentaten hört, hat man meist den Islamisten mit Sprengstoffgürtel vor Augen. Ist der Islam tatsächlich gewalttätiger als andere Religionen?

Nein. Selbstmordattentate gibt es seit langer, langer Zeit in allen Kulturen und Religionen. Das ist keine islamische Erfindung, ganz im Gegenteil, man denke beispielsweise an die japanischen Kamikaze-Selbstmordattentate im Zweiten Weltkrieg. Dabei ist Japan seit Jahrhunderten stark vom Buddhismus geprägt – der „friedlichen“ Religion schlechthin. Wenn man Konflikte und Friedensprozesse empirisch untersucht, lässt sich nicht feststellen, dass irgendeine Religion mehr zu Gewalt neigt, als eine andere.

Sind wenigstens religiöse Menschen friedlicher als andere?

Auch nicht. Religionen bieten das Potenzial für Gewalt und Friedfertigkeit. Man kann religiöse Schriften konfliktverschärfend oder friedensorientiert interpretieren. Für beides finden sich in allen Schriften und Traditionen Beispiele. Aber es wird eben zumeist übersehen oder übergangen, dass Religionen eben auch ein großes Friedenspotenzial haben, das noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Woher kommt denn der starke Fokus auf die religiösen Konflikte? Sind die Friedenspotenziale schwerer zu finden?

Nein, aber es erfordert eine andere Perspektive, einen schärferen Blick,. Als ich anfing zu recherchieren, hatte ich relativ schnell ziemlich viele Beispiele zusammen. Vielleicht ist es für manche schwerer, die dahinterliegenden Friedensprozesse zu untersuchen und zu beschreiben. Doch ich denke das hat andere Gründe. Die Rolle von Religionen in Konflikten ist spektakulärer. Was für die Medien gilt, gilt im Prinzip auch für die Wissenschaft: Wenn es knallt und Blut fließt verkauft sich das besser.

Wie meinen sie das?

Ein Buch, das den Titel „Religion und Konflikt“ trägt, wird stärker wahrgenommen und öfter rezensiert, als „Religion und Frieden“. So erfährt man auch als Wissenschaftler mehr Aufmerksamkeit. Ich muss aber einschränken, dass Konflikte tatsächlich in gewisser Weise „einfacher“ sind, denn Kriegsberichterstattung ist journalistisch nicht so schwierig wie gute, spannende Friedensberichterstattung. Es gibt allerdings einen Haken: Wenn es um die Rolle von Religion in Konflikten geht, wird oft ein Zusammenhang unterstellt, der so zumeist gar nicht nachgewiesen werden kann.

Stehen Religionen unter dem Generalverdacht gewalttätig zu sein?

Es ist anders: Wenn ein Osama Bin Laden öffentlich zu Anschlägen aufrief und irgendein Muslim auf der Welt dann tatsächlich einen Anschlag machte, wurde das selbstverständlich in Zusammenhang gebracht. Wenn aber ein islamischer Geistlicher – wie etwa Großayatollah Ali Al-Sistani im Irak – zur Gewaltlosigkeit aufruft und sich viele Muslime an die Gewaltlosigkeit halten, dann wird da kein Zusammenhang gesehen. Zwar sind beide Fälle gleich schwer beweisbar, aber trotzdem hat sich die Wissenschaft auf den Konflikt konzentriert, als ob dort der Kausalzusammenhang außer Zweifel stünde.

Bei Friedensschlüssen sieht man meist Politiker oder Militärs, die Abkommen unterschreiben und sich als Friedensstifter in Szene setzen, obwohl religionsbasierte Akteure (RBA) maßgeblich am Friedensprozess beteiligt waren. Machen die Religionen einfach nur schlechte PR-Arbeit?

Zum Teil ja. Aber zum Teil wollen sie auch gar nicht in der Öffentlichkeit auftauchen, denn das ist mitunter die Voraussetzung für ihre Intervention in Friedensprozessen: dass die Vermittler diskret sind und es bleiben. Es gibt aber auch Fälle, in denen religionsbasierte Akteure von Politikern quasi aus dem Bild gedrängt werden. Viele RBA empfinden den Auftritt in der Öffentlichkeit als unwichtig, sind dabei vielleicht manchmal auch zu bescheiden.

Bei der Recherche für mein Buch wollte ich beispielsweise mehr über die Rolle des Weltrats der Kirchen in Genf wissen, der Anfang der 1970er Jahre im sudanesischen Bürgerkrieg ein Friedensabkommen vermittelt hatte, dass immerhin elf Jahre Bestand hatte. Doch darüber gibt es keinerlei Unterlagen, nichts. Da konnte mir keiner Auskunft geben. Nirgends war irgendwas festgehalten worden. Dabei wäre dies die beste PR für eine kirchliche Einrichtung und eine gute Werbung für Kirche im Allgemeinen. Viel schlimmer ist aber: So kann auch niemand aus deren Erfahrungen bei der Konfliktbewältigung lernen oder diese weiterentwickeln.

Gab es zu irgendeiner Zeit mehr oder weniger Religionskriege?

Ich bestreite, dass es überhaupt Religionskriege gibt. Was es gibt, sind Kriege und Konflikte, die religiös geprägt und aufgeladen sind. Dass es Religionskriege in dem Sinne gibt, dass Anhänger der einen Religion Anhänger einer anderen Religion alleine aufgrund von deren Religionszugehörigkeit bekämpfen, davon ist die Friedens- und Konfliktforschung abgekommen. Das wäre ein Stück weit die These von Huntington. Die lässt sich so aber nicht nachweisen.

Trotzdem berichten die Medien stets, dass zum Beispiel Christen gegen Muslime oder Juden gegen Palästinenser kämpfen.

Das ist ein Problem und auch eine Dummheit. Wenn man genau hinschaut, ist es meist nicht so – zumindest war es in den Anfängen nicht so. Da haben nicht Palästinenser Juden bekämpft, weil sie Juden sind, sondern weil immer mehr Juden immer mehr palästinensisches Land besiedelt haben. Juden haben auch nicht Palästinenser bekämpft oder verdrängt, weil sie Muslime sind - und nicht alle Palästinenser sind Muslime -, sondern aus anderen Gründen. Das gilt zum Beispiel auch für Nigeria, wo die Konflikte auf die Religionszugehörigkeit der Konfliktparteien reduziert werden. Wenn es in anderen Konflikten mit der Religion nicht so hinhaut, nimmt man eben die Ethnien. Dabei entstehen fast alle Konflikten aus sozioökonomischen Schieflagen. Die Hintergründe sind stets viel komplexer und es ist mühsam, diese zu erforschen. Es ist einfacher zu sagen: Die Religion oder die Ethnie ist die Ursache. Das ist in vielen Fällen ein konfliktverschärfender Faktor, aber nicht der konfliktverursachende Faktor.

Hat sich in der Bevölkerung der Islam als Bedrohung einfach festgesetzt?

Diese Gefahr besteht, ja. Und darum sind Medien umso mehr in der Verantwortung, wirklich guten Journalismus zu machen und nicht zu sagen: „Die Bevölkerung denkt so, also liefern wir auch Futter für die Vorurteile.“ Sie müssten sich gerade dann mit anderen Themen und Beispielen befassen und auch darüber berichten. Das fände ich verantwortlichen, wirklich investigativen Journalismus. Man muss das andere nicht ausblenden und so tun, als gäbe es keine Probleme zwischen den Religionsgemeinschaften. Aber dass man die andere, die positive Seite auch darstellt, geschieht ganz selten. Und dadurch entsteht ein Zerrbild von Religionen mit fatalen Folgen für die gesellschaftliche Meinungsbildung und ebenso für die politische Entscheidungsfindung.

Wie sollte so eine Berichterstattung aussehen?

Wir hatten letztes Jahr in Guinea einen Friedensvertrag nach 50 Jahren BĂĽrgerkrieg. Den hat die katholische Laienbewegung Sant'Egidio ausgehandelt, die bereits etliche Jahre zuvor in Mozambique erfolgreich vermittelt hatte. In Guinea war deren Engagement und der Friedensvertrag die Voraussetzung fĂĽr die ersten demokratischen Wahlen. In den deutschen Zeitungen stand fast nichts ĂĽber den Friedensprozess. Und in den wenigen Berichten wurde die Rolle von Sant'Egidio vollkommen unterschlagen, obwohl das die Verantwortlichen fĂĽr die Vermittlung waren! Kein Wort, nichts, ich habe nirgends etwas gefunden. So jedenfalls sollte Berichterstattung nicht aussehen.

Aber ĂĽber den Konflikt wurde berichtet?

In aller Ausführlichkeit! Wenn es bei den Wahlen 13 Tote gab, wenn es nicht ganz so friedlich war, kommt das sofort. Dass es aber in den Jahren und Jahrzehnten davor Zigtausende Tote gab und das nun endlich ein Ende gefunden hat, weil da religiöse Akteure mit vermittelt haben, das wird nicht berichtet. Das ist jämmerlicher Journalismus.

Sie schrieben, dass die Wende in der DDR ohne die RBA nicht möglich gewesen wäre. Sind die medial auch an die Wand gedrängt worden?

Nein. Hier war die Rolle der Kirche aber auch so stark, dass die keiner übersehen oder unter den Tisch fallen lassen konnte. Die Friedensgebete fanden eben in den Kirchen statt, und danach sind die Leute rausgegangen, um zu demonstrieren. Da konnte man die Rolle der Kirche nicht marginalisieren, zumal nach dem Fall der Mauer auch viele Kirchenvertreter auf allen politischen Ebenen in verantwortlichen Positionen tätig waren.

MĂĽsste man auch Muslimen raten, bessere PR fĂĽr ihre Friedensarbeit zu machen?

Ja, aber dann muss natürlich auch was dahinter sein. Man kann nicht nur Öffentlichkeitsarbeit machen und sagen: Wir stiften Frieden! Aber wie gesagt: Derzeit hinken alle Religionsgemeinschaften ihrem eigenen theologischen Anspruch hinterher. Die Anforderung wäre, dass die Religionen wirklich Friedensarbeit leisten und dafür dann auch eine gute PR machen. Sie kennen vielleicht die große Plakatwerbung, die man oft auf Bahnhöfen sieht: „Friedensstifter“, „Weltverbesserer“ steht darauf in fetten Lettern. Doch da werben nicht die Kirchen, sondern die Kindernothilfe. Das lesen Zigtausend Menschen jeden Tag. So was Ähnliches könnte die Kirche auch machen, und mit einem gewissen Recht. Aber dann muss Friedensarbeit auch wirklich intensiv betrieben werden. Und da erleben wir aktuell keine so erfreuliche Entwicklung.

Vernachlässigt die Kirche nun die Friedensarbeit oder die Werbung damit?

Beides. Theologisch gibt es für die Kirche kaum etwas Wichtigeres als Friedensarbeit, faktisch ist sie den Kirchen in Deutschland nicht so wichtig. Leider. Das schlägt sich in der finanziellen Ausstattung der Friedensarbeit nieder, zeigt sich aber auch in der Art, wie man die Friedensarbeit nach außen präsentiert und vermittelt. Zudem werden die wenigen Stellen für kirchliche Friedensarbeit gegenwärtig weiter reduziert, anstatt sie – was theologisch und politisch angebracht wäre – auszubauen.

Gab es EinflĂĽsse von religionsbasierten Akteuren bei der Absetzung von Mubarak in Ă„gypten oder in Tunesien?

Ich habe von manchen religiösen Initiativen dort gehört. Aber ich bin aufgrund des schlechten Informationsstandes noch vorsichtig, etwas Belastbares darüber zu sagen. Interessant fand ich, wie sich Religiosität und gewaltloser Widerstand da verbunden haben. Das wurde kaum explizit thematisiert, obwohl es in den Medien anhand der Bilder stark sichtbar war. Ein paar Tage war in allen Medien der volle Tahrir-Platz in Kairo zu sehen, wo Zigtausende Menschen zum Gebet niedergekniet waren. Sie haben protestiert und gebetet. Ihr Gebet war eine Form und ein Element des Protestes. Das war eine ganz konstruktive gewaltlose Verbindung von Religiosität und Widerstand – und sie war erfolgreich! Darin zeigt sich das konstruktive Potenzial, das Religion haben kann. Nicht muss, aber eben kann.


Markus A. Weingardt: "Religion Macht Frieden. Das Friedenspotenzial von Religionen in politischen Gewaltkonflikten.", Bundeszentrale fĂĽr politische Bildung, Bonn, 2010

von Reinhard Lask
   

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