Weniger Militär und mehr Bildung in Afghanistan
Unerwartete Herzlichkeit und politische Bewegung am Hindukusch
Tom Koenigs ist grüner Bundestagabgeordneter und dort Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte. Vor vier Jahren war er als Leiter der UN-Mission in Afghanistan. Sein Buch „Machen wir Frieden oder haben wir Krieg?“ ist ein ungeschminktes Wahrheitserlebnis – bescheiden und witzig.
Das Gespräch führte Patricia Jawidowicz
ruprecht: Herr Koenigs, ihr Buch besteht aus Berichten und persönlichen Briefen und war zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Weshalb haben Sie sich umentschieden?
Tom Koenigs: Der Herausgeber Joscha Schmierer hat sich meine Berichte und Briefe durchgelesen und mich davon überzeugt, sie zu veröffentlichen. Zunächst war ich mir sehr unsicher. Ich hätte auch nicht gedacht, dass meine Erlebnisse für einen größeren Kreis interessant sein könnten.
Der Freitag ist in Afghanistan ein Feiertag. Die Geschäfte haben geschlossen und man trifft niemanden auf der Straße. Also habe ich mich an den Computer gesetzt und geschrieben, eher, um zu reflektieren, sich selber zu betrachten und ein bisschen rumzualbern.
Wenn Sie das Buch in einem Satz zusammenfassen sollten …
… würde ich sagen, es ist ein Buch des Zweifelns. Gerade die Tatsache, dass man zu den schwierigsten Fragen keine Lösung hat, wird dort hin- und hergewendet. Nehmen wir die Frage, ob in Afghanistan Krieg herrscht. Das ist eine deutsche Frage. Denn der Schritt in den Krieg ist gewagt, aufgrund der Vergangenheit. Für die Amerikaner gilt ganz klar „We are at war“. In meinem Buch setze ich mich auch damit auseinander, was Krieg bedeutet.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie sich die ersten Tage in Afghanistan häuslich eingerichtet haben? Sie erwähnen auch Ihren Gärtner, der sich um Ihre Rosenstöcke kümmert. Das macht schon fast einen gemütlichen Eindruck.
Es war aufregend. Ich wurde in ein Haus gefahren, das scheußlich aussah, aber „Palast 7“ genannt wurde. Ich stand Mitarbeitern gegenüber, die dieses Haus bekocht und sauber gemacht haben. Am nächsten Tag habe ich erfahren, dass das Mitarbeiter sind, die schon immer in diesem Haus arbeiteten. Die erwarteten von mir, dass ich sie beschäftige - und zwar auf meine Kosten. Im ersten Moment dachte ich, ich bräuchte keinen Butler oder gar einen Gärtner. Hätte ich sie jedoch entlassen, hätte ich zwölf Arbeitslose geschaffen. Und ich danke dem Himmel, dass sie für mich da waren, denn sie waren unglaublich nett und kundig.
Die zwei Frauen, die dort sauber gemacht haben, waren Brotverdiener für ihre ganze Familie. Undenkbar. Der Gärtner hat sich in lustiger Weise von mir verabschiedet. Am letzten Tag kam er mit seinem Sohn, der englisch sprechen konnte, und wir saßen zusammen und tranken Tee. So eine zeremonielle Veranstaltung dauert eine Stunde. Uns war allerdings der Gesprächsstoff ausgegangen und schließlich fragte er mich, wie es meiner Familie ginge. Ich wollte etwas Farbe ins Gespräch bringen und sagte, dass ich momentan sehr glücklich sei, weil meine Tochter mein erstes Enkelkind geboren habe. Nach langer Pause erkundigte er sich, ob es ein Sohn oder eine Tochter sei. „Junge“, stammelte ich vor mich hin. Da sprang er auf, umarmte mich überglücklich und sagte, dass Allah mich mit einem Sohn gesegnet habe. Das kam so von Herzen. Wenn ich nun meinen Enkel sehe, weiß ich, dass der Gärtner für ihn betet.
Haben Sie diese Herzlichkeit auch von anderen Menschen erfahren?
Das ist etwas sehr Afghanisches. Das Land ist wunderschön. Und die Menschen haben eine so direkte Herzlichkeit, die einen von dem Land träumen lässt. Jeder ist verführt. Und ich habe wirklich gute Freunde dort gefunden.
Ich würde gerne auf den Buchtitel zu sprechen kommen. „Frieden“ und „Krieg“, das klingt ein wenig zwiespältig, als hätten Sie sich nicht festlegen wollen.
Das sollte so sein. Der eigentliche Titel wäre „No peace to keep – no war to win“ gewesen, der auch sofort plausibel erscheint. Diese Ambivalenz wollte ich auch in der deutschen Übersetzung wiedergeben. Der Verlag von Klaus Wagenbach hat das dazugehörige Foto für das Buchcover gefunden, das ebenfalls diese Ambivalenz verdeutlicht. Zwei Politiker, die langweilig am Kamin sitzen, beide am Rande des Bildes. Präsident Hamid Karzai sitzt energisch da, ich bin eher peinlich berührt und fühle mich sichtlich unwohl. In dem Moment, als das Foto gemacht wurde, hatten wir obendrein Streit. Es gab viele Auseinandersetzungen. Karzai ist durchaus streitbar und kann Kontroversen gut ausfechten.
Sie sind Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im Bundestag. Waren die Menschenrechte Ihr Hauptanliegen in Afghanistan?
Wir haben uns zentral auf das Feld der Menschenrechtsabteilung konzentriert. Gerade die zahlreichen Verluste in der Zivilbevölkerung haben uns beschäftigt. Ein extrem politisches Thema. Denn die Diskussionen um die Verluste in der Zivilbevölkerung stellen die Frage, ob man die Taliban militärisch besiegen kann. Das Thema im Sicherheitsrat in New York zu thematisieren war unglaublich schwierig. Bis man die Mitgliedsstaaten dazu kriegt zu zählen, welche Opfer auf das Konto des internationalen und afghanischen Militärs gehen und welche auf das Konto der Taliban, und dann zu versuchen, die Zahl zu verringern. Dafür habe ich mich eingesetzt und mir nicht nur Freunde gemacht.
Sie haben etwas Gewagtes in Bezug auf die Taliban gesagt: Verbrecherische Bewegungen seien auch politische Bewegungen - auch wenn man das nicht akzeptieren wolle. Wogegen agiert die Taliban mit den Bombenanschlägen und Selbstmordattentaten?
Zunächst ist die Taliban keine Partei und keine Organisation, allenfalls eine Bewegung. Wir haben Schwierigkeiten uns das vorzustellen. Es ist eine Lebensart, die mit Religion, Geschichte und Nationalismus zu tun hat. Aber es ist nicht so, dass jemand hundert Prozent Taliban oder nicht ist.
Jeder der Offiziellen hat irgendwelche Kontakte zur Taliban. Diese Verflechtung habe ich selber erlebt. Ich saß beim amerikanischen Botschafter und er sagte zu mir, dass die Taliban eine Gegenverfassung zur afghanischen Verfassung formuliert habe, und ob ich sie nicht besorgen könne. Wir schlossen eine Wette, das war eher als Gag gemeint. Ich sagte zu ihm, wir wollen wetten, dass ich sie binnen 24 Stunden habe. Ich ging zum obersten afghanischen Mitarbeiter, den ich hatte, und erzählte ihm von der Wette. Acht Stunden später hatte ich die Gegenverfassung.
Und von wem?
Von irgendjemandem. Mein Mitarbeiter hat einen Schwager, der jemanden kennt. Jeder kennt irgendjemanden von der Taliban. Aber jeder behauptet, er habe nichts mit der Taliban zu tun. Das ist eine offene Bewegung. Man kann nicht genau sagen, weshalb die Leute zur Taliban gehen. Das können Leute vom Regime sein, von fundamentalistischen Schulen, oder auch Personen, die mit der jetzigen Regierung unzufrieden sind, oder der Bruder wurde erschossen und man will sich rächen. Es gibt auch diejenigen, die den Beruf des Soldaten ergreifen möchten und dorthin gehen, wo besser bezahlt wird. Taliban zahlt besser als die Polizei. Es gibt ganz unterschiedliche Gründe. Dementsprechend kann man mit Einzelnen verhandeln. Einen Soldaten, der für 200 Afghanis für die Taliban arbeitet, kriegt man ganz leicht, indem man ihm 300 Afghanis zahlt.
Schwer vorstellbar, dass die Taliban, obwohl sie sich aus so vielen unterschiedlichen Gründen zusammenschließen, eine einheitliche politische Nachricht haben soll.
Diese Gruppen haben etwas gemeinsam: Sie wollen eine stärkere Rolle der Religion in der Politik und das Gesetz der Scharia über die afghanische Verfassung setzen. Sie wollen, dass die ausländischen Soldaten abziehen und die Korruption endet. Sie wollen Mullah eine größere Autorität auf der lokalen Ebene geben. Und schließlich sind sie verbunden durch den Krieg, verbunden mit einer islamischen Bewegung, die immer fundamentalistischer wird. In Frankfurt, wo ich lange Zeit in der Kommunalpolitik tätig war, gibt es heutzutage wahrscheinlich genauso viele Muslime, wie es vor 20 Jahren gegeben hat. Das sind Türken, Bosnier und paar Nordamerikaner. Vor 20 Jahren hat keiner von ihnen ein Kopftuch getragen. Wir haben gar nicht gewusst, dass es bei den Bosniern Muslime gibt. Die Religion spielte auch bei den Türken keine Rolle. Keine Frau hat ein Kopftuch getragen, jetzt tragen sie alle Kopftücher. Etwas auf der Welt hat sich verändert. Davon profitiert die Taliban. Sie ist eine Bewegung, die Lebensformen radikal umgestaltet und die Öffentlichkeit sucht.
Dann muss die westliche Einmischung scheitern.
Nicht unbedingt. In Afghanistan gibt es eine Auseinandersetzung zwischen liberalen menschenrechtlich Orientierten und fundamentalen gottesstaatlich Orientierten. Das ist eine Auseinandersetzung, die es in vielen Staaten gibt. Menschenrechte, das ist keine westliche, sondern eine internationale Veranstaltung.
Wenn man der Vorsitzenden Sima Samar der afghanischen Menschenrechtskommission sagen würde, sie würde westliche Werte vertreten, wäre sie empört. Die Würde des Menschen ist unantastbar, das ist ein afghanischer Wert. Und es gibt in Afghanistan tolle Menschenrechtsorganisationen!
Wie sagt Präsident Hamid Karzai zur Würde des Menschen?
Er hat lange Zeit in den Vereinigten Staaten gelebt. Er ist für eine Integration in die internationale Gemeinschaft von Afghanistan und damit auch für die Intervention. Sicherlich, er hat gegen die Verluste der Zivilbevölkerung schwach protestiert. Aber er ist ein Freund des Westens, hat auch menschenrechtliche Ideale und will eine liberale Verfassung durchsetzen. Die Verfassung Afghanistans ist die liberalste in der muslimischen Welt. Keine Hand ist je abgehackt worden. Die neue Verfassung besagt zwar, dass kein Gesetz gegen die Scharia verstoßen darf, aber die Scharia ist eine Interpretationsfrage, so offen wie das christlich bestimmte Rechtssystem.
Haben Sie eine Antwort auf Ihren Titel gefunden?
Nein. Ich glaube an Prozesse mehr als an abschließende Antworten. Afghanistan ist und bleibt ein Prozess, in dem die Afghanen uns um Hilfe bitten. In manchen Momenten, in denen wir sie ihnen bisher nicht gegeben haben, aber sehr wohl geben könnten. Damit meine ich Ausbildung, Bildungszusammenarbeit und Berufsbildung. Die Bildungshilfe, die Deutschland gibt, ist minimal. Dabei gibt es in Afghanistan einen Bildungshunger. Die Menschen wollen lernen. Zu viel Militär, zu wenig Bildung! Und bilden können wir. Deshalb rüttele ich an den beschränkten Denkweisen unseres Entwicklungshilfeministeriums, denn ganz viele Entwicklungsmaßnahmen sind fehlgeleitet. Diesbezüglich setze ich mich in der Politik ein.