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15.05.2012

Entspannt Euch!

Stressfrei studieren trotz Bologna

Foto: rl

Ein Studium in Muße und ohne Zeitdruck geht heute nicht mehr. Nur wer schnell studiert, hat überhaupt noch Chancen einen guten Job zu bekommen. Sagt man. Aber stimmt das überhaupt? Wir haben nachgefragt und erhielten überraschende Antworten.

Ein verschultes überfrachtetes Pensum ist in einer kurzen Zeit zu absolvieren und lässt kaum Freizeit übrig, wie Jonathan, Bachelor-Student der Germanistik und Musikwissenschaft erklärt: „Ich habe ein freies, selbstständiges Studi­leben erwartet und Verschulung bekommen.“ Muss das Bologna-Studium wirklich so stressig sein wie sein Ruf ihm vorwirft? 

Nicht unbedingt, Studierende könnten seit der Bologna-Reform in vielen Fällen eher ohne Zeitdruck studieren. Nur 14 von aktuell 164 Prüfungsordnungen an der Uni Heidelberg kennen überhaupt eine Exmatrikulation für Gemütliche; 52 von 61 Bachelor-Studiengängen müssen nicht in einer bestimmten Zeit abgeschlossen werden. Zumal es dort die Zwischenprüfung nach spätestens sechs Semesters nicht mehr gibt, nur noch die Orientierungsprüfung nach zwei Semestern. In den Bachelor-Studiengängen der Neuphilologischen Fakultät beispielsweise erfolgt sogar keine Exmatrikulation mehr wegen fehlender Sprachnachweise. 

Die Regelstudienzeit ist oft also nur eine Empfehlung. Wieso denken aber dennoch viele wie Jonathan: „Das Pensum ist so groß, dass für eine ordentlich konzentrierte Vor- und Nachbereitung aller Veranstaltungen, für eine konzentrierte Prüfungsvorbereitung und für außeruniversitäre politische, soziale oder künstlerische Aktivitäten kaum Zeit bleibt.“

Setzen sie sich selbst diesem Stress aus, weil sie Liebesentzug durch potentielle Arbeitgeber für zusätzliche Semester befürchten? Der ruprecht befragte daher die BASF, das Rektorat und einen Wegbereiter der Bologna-Reform, was heute ein gutes Studium ausmacht. So viel vorweg: Überraschenderweise empfahl keiner den Studierenden sich so zu beeilen, dass für umfassende Persönlichkeitsentwicklung kaum Zeit bleibt.

Die Worte von Sarah Ulmschneider-Renner (BASF) legen mehr als nur einen schnellen Abschluss nahe: „Als Einstellungskriterium ist das Gesamtbild des Kandidaten entscheidend. Neben der fachlichen Spezialisierung ist die BASF vor allem an der Persönlichkeit des Bewerbers interessiert. Dazu zählen Eigenschaften wie Zielstrebigkeit, unternehmerisches Handeln, interkulturelle Orientierung und Kommunikationsfähigkeit.“ Die Studiendauer ist also nicht ganz unwichtig, aber auch andere Parameter scheinen relevant.  Simon , Lehramtsstudent der Germanistik und Philosophie, sieht das ähnlich: „Für mich ist es wichtiger, eine gereifte Lehrerpersönlichkeit zu werden, als das Studium in Regelzeit zu absolvieren.“

Klaus Landfried, einst Präsident der Hochschulrektorenkonferenz und einer der Wegbereiter der Bologna-Reform fordert gar eine solche Persönlichkeitsentwicklung möglichst leicht zu machen: „Gutes Studieren, das  später auch zufrieden macht, enthält  zwei  Elemente: eines, das durch das fachliche Können gekennzeichnet ist, und eines, das den geistigen Horizont und die Persönlichkeit betrifft. Es geht also um Bildung UND Ausbildung zugleich.“

Auch die Universität Heidelberg möchte darauf künftig mehr Wert legen, so Friederike Nüssel, Prorektorin für Lehre: „Die Universität Heidelberg legt in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als akademischer Lehr- und Lernort im Rahmen der fachlichen Ausbildung auch besonderen Wert auf die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden. Hierfür werden wir noch stärker als bisher gesellschaftliche Querschnittsthemen bei der Gestaltung der Studiengänge berücksichtigen. So wird auch die Verknüpfung von Studium und außercurricularem gesellschaftlichen Engagement erleichtert.“

Die Fachschaftskonferenz Heidelberg (FSK) indes verlangt mehr: „Ein Studium, das man nicht auch selber gestalten kann, ist kein Studium. Dies betrifft insbesondere die eigene Studienzeit sowie die Prüfungsordnungen, die in Gremien beschlossen werden. Regelungen, die die Studiendauer zwangsweise begrenzen, beschneiden beides – die individuelle Studienverlaufsplanung wie die Option, zeitweise in Gremien mitzuwirken. Daher lehnt die FSK solche Vorgaben ab – auch wenn sie mit ein paar ECTS-Pünktchen für übergreifende „persönliche Entfaltung“ kaschiert werden.“ 

Ob man den warmen Worten aus Wirtschaft und Universität glauben kann oder nicht – ein Teil des Bologna-Stresses scheinen sich die Studierenden selbst zu machen oder zu suggerieren. Geht es nach Alt-Rektor Landfried, sollten wohl die wenigen Fächer in Heidelberg, die wie die Physik zwangsexmatrikulieren, davon abrücken: „Sich hetzen bremst Kreativität. Daher ist ein „entlastetes Feld“ (Arnold Gehlen) ohne ständige Entscheidungs-Zumutungen ein wichtiger Bestandteil eines guten Studiums.“


Liste der "ungemütlicheren" Studiengänge: 

Bachelor-Studiengänge mit einer gesetzlich nicht notwendigen Zwischenprüfung:

- Interprofessionelle Gesundheitsversorgung, 
- Klassische Altertumswissenschaften, 
- Translation Studies for Information Technologies

Zwischenprüfungen müssen außerdem von gesetzlicher Seite in allen Lehramtsstudiengängen und in der Regel auch in allen anderen Staatsexamensstudiengängen bis zum Ende des 6. Fachsemesters abgelegt werden. 

Zwangsexmatrikulierende Bachelor-Studiengänge:

- Chemie
- Geographie
- Geowissenschaften
- Physik
- Psychologie
- Sportwissenschaft mit Schwerpunkt Prävention und Rehablilitation 

Zwangsexmatrikulierende Master-Studiengänge: 

- Advanced Physical Methods in Radio Therapy
- Nonprofit Management und Governance
- Mathematik
- Physik
- Scientific Computing
- Technische Informatik
- Übersetzungswissenschaft

Zwangsexmatrikulationen an der Mathematischen-Naturwissenschaftlichen Gesamtfakultät : 8

Zwangsexmatrikulationen bei allen anderen Fakultäten zusammen: 5

von Ziad-Emanuel Farag
   

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