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28.01.2013

Der ausgegrenzte Wettermann

Ein unabhängiger Klimaforscher erzählt von sich und seiner Arbeit

Flavio Estrada weiß über das Wetter Bescheid. / Foto: Xiaolei Mu

Doktor Flavio Estrada arbeitet seit zwölf Jahren an seinem Klimamodell. Er  forscht alleine und finanziert sich privat, ohne auf die Ressourcen eines Instituts oder einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe zugreifen zu können und auch ohne die Schirmherrschaft eines Professors zu genießen.

Wenn Flavio Estrada jemanden grüßt, folgt direkt im nächsten Satz eine kurze Wetterprognose für den nächsten Tag. Es wirkt wie ein Ritual, das er in seine alltägliche Konversation einbaut und es ist Ausdruck seiner täglichen Arbeit, denn seine Vorhersagen zu Temperatur, Bewölkung und Niederschlag ermittelt er in Eigenregie.

Estrada ist das, was man einen Privatgelehrten nennt - ein Wissenschaftler, der auf eigene Faust Forschung betreibt. Seit zwölf Jahren bastelt er an seinem interdisziplinären Klimamodell und es ist ein Stück Theorie, losgelöst von Instituten, Lehrstühlen, Drittmitteln, Publikationsstress, kurz: der gesamten Struktur, die sich universitäre Forschung nennt.

Für Estrada ist das deutsche Forschungssystem nicht frei genug. Doch nun, da er sein Klimamodell für ausgereift hält, schafft er es nicht mehr, an der Universität Fuß zu fassen. Trotz seiner Ablehnung gegenüber der Forschungs­institution benötigt er ihre Ressourcen, um seinem Modell den Feinschliff zu verleihen, so dass er seine jahrelange Arbeit publizieren kann. Leider gewähren die Tore der universitären Forschung einer Person, die sich so konsequent außerhalb ihrer Spielregeln bewegt, nur ungern Zugang. Ein wahres Dilemma.

Estrada ist studierter Geologe. Seinen ersten Diplomabschluss machte er an der Universität San Augustin Arequipa in Peru im Jahr 1969. Danach war er mehrere Jahre als Lagerstättenforscher tätig. „Ich habe mit meiner wissenschaftlichen Arbeit einen Teil dazu beigetragen, dass sich der Bergbau in Peru diversifiziert hat“, erklärt er stolz. Seinen Sprung nach Deutschland machte er über ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung im Jahr 1980. Nach zwei Jahren machte er einen weiteren Abschluss in Mineralogie an der Universität Heidelberg, auf den eine Promotion in Frankfurt folgte. „Für das Verständnis des Klimas bietet die Geologie das beste Fundament“, meint Estrada. Der Promotion folgte noch ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Mannheim.

Danach bildete er sich hauptsächlich in Heidelberg weiter, machte Scheine in Biochemie, Mikrobiologie, Umweltmedizin, Toxikologie, Bioinformatik, um nur einige zu nennen. Estrada sagt mit seinem Klimamodell nicht nur das Wetter voraus, sondern nutzt dieses Wissen, um Prognosen zu machen zum Wirtschaftswachstum, dem Haushalt der Krankenkassen, Ausbrüchen von Krankheitserregern oder auch Überschwemmungen. „Im Jahr 2012 redeten die Medien in Deutschland von der großen Wirtschaftskrise. Dennoch verzeichneten wir einen leichten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Warum ist das so? Der Frühling setzte schon früh im März ein und der Sommer war kontinuierlich heiß.

Das schöne Wetter lockte die Menschen nach draußen und das kurbelte die Konsumfreudigkeit an.“ Auf Grundlage dieser scheinbar trivialen Logik machte Estrada im August 2012 eine Vorhersage für das BIP des dritten Quartals dieses Jahres. Aufgrund eines heißen Herbstes rechnete er mit einem Anstieg zwischen 0,2 und 0,4 Prozent. Er lag damit richtig. Den Zusammenhang zwischen Krankheitsausbrüchen und Wetter begründet Estrada mit Temperatur­anstiegen, die für Ort und Jahreszeit uncharakteristisch sind. So lange er diese Temperaturschübe im Blick hat, kann er das Ausbruchsrisiko antizipieren. Voller Eifer zeigt Estrada seinen Terminkalender, der gleichzeitig so was wie sein Wettertagebuch ist. Blaue und grüne Wirbel durchziehen eine schematische Karte Europas. Schwarze Pfeile mit Abkürzungen verzieren das Bild, das entfernt an eine Wetterkarte erinnert. „Ich brauche jeden Tag etwa sechs Stunden, um all die Daten von Wetterstationen auf der ganzen Welt in meinem Kalender festzuhalten“, erzählt er. „Ich mache das seit mehr als zehn Jahren.“

Neben seinem Wettertagebuch hat Estrada seit 2005 Winterwetterberichte mit Wirtschaftsprognosen verfasst, die er an das Institut für Umweltphysik, das Institut für Wissenschaftliches Rechnen, aber auch dem Rektor der Universität Heidelberg und dem Oberbürgermeister geschickt hat. Jedes Mal mit der Bitte um Unterstützung. Jedes Mal ohne Erfolg. Doch davon lässt sich Estrada nicht unterkriegen. Ende dieses Jahres hat er mit Mitarbeitern des URZ ein Frühwarnsystem für Wetterkatastrophen angestoßen. „Wenn ich von vorne nicht in das System komme, muss ich halt durch die Hintertür.“

von Xiaolei Mu
   

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