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16.12.2011

Alltag im Schatten der Unruhen

Das ägyptische Volk kämpft weiter für einen Neuanfang in Freiheit

Jeder schneidet sich ein Stueck vom Kuchen der Revolution ab, die Parteien, die Sicherheitspolizei, das alte Regime / Fotos: Stefanie Müller

Die friedliche Freitagsdemonstration auf die, die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei in der Nacht folgten.

Der 28. November 2011 war ein historisches Ereignis für Ägypten. An diesem Tag begann die vierstufige Parlamentswahl. Es sind die ersten freien Wahlen seit über 30 Jahren. Viele Hoffnungen und Wünsche für eine bessere Zukunft sind an diesen Tag geknüpft – mit offenem Ausgang. 

In Ägypten ist die zweite Revolution in vollem Gange: Noch immer harren einige hundert Menschen auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt Kairo aus und fordern die Machtabgabe des Militärs an eine zivile Regierung. Doch heute liegt die mediale Aufmerksamkeit nicht auf dem Tahrir-Platz, sondern konzentriert sich auf Schulen oder Versammlungshallen, vor denen die Menschen aus Kairo, Alexandria und den anderen großen Städten des Landes geduldig stundenlang Schlange stehen, um ihre Stimme für eine der über 50 verschiedenen Parteien abzugeben.

Die besten Wahlchancen werden der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, die häufig nur als Muslimbrüderschaft bekannt ist, eingeräumt. Über diese Partei wurde besonders in ausländischen Medien, stets verbunden mit den Zweifeln an ihren demokratischen Absichten, viel berichtet. Die Ägypter betrachten die Muslimbrüderschaft gar nicht so sorgenvoll, wie die Ägypterin Heba Afifi berichtet: „Die Muslimbrüder sind meiner Meinung nach sehr moderat. Ob sie demokratische Absichten verfolgen oder nicht, kann man weder bei ihnen beurteilen noch bei den anderen Parteien. Die Besorgnis gegenüber den Muslimbrüdern finde ich sehr übertrieben.“

Noch vor Tagen überstürzten sich die Ereignisse. Hunderttausende Menschen strömten auf den Tahrir-Platz, nachdem bei einer friedlichen Demonstration die Polizei anfing, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen. Die Protestierenden jedoch, die eine zivile Übergangsregierung fordern und sich für die Absetzung des hohen Militärrates mit Mohamed Hussein Tantawi an seiner Spitze einsetzen, kamen auf den Platz zurück. Dies war der Beginn der Straßenschlachten, bei denen nach Schätzungen bis zu 100 Menschen gestorben sind. Mohamed Hussein Tantawi war fast 20 Jahre unter Präsident Husni Mubarak Verteidigungsminister, daher verlangen die Demonstranten seinen Rücktritt. „Ich sehe in ihm und dem Militärrat die Fortsetzung des Mubarak-Regimes“, sagt Menna Gad, Absolventin der Helwan Universität in Kairo.

Der arabische Fernsehsender Al-Dschasira und YouTube Videos zeigen, wie die Polizei häufig willkürlich und mit äußerster Härte gegen Demonstranten vorgeht. Besonders das eingesetzte Tränengas CR Gas kann zu erheblichen gesundheitlichen Schäden und auch zum Tode führen. Sein Einsatz für militärische Zwecke ist seit der Chemiewaffenkonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1993 im Kriegsfall verboten. Gegen die eigene Bevölkerung wird es jedoch noch eingesetzt, neben Ägypten unter anderem auch in Nordkorea, Somalia und Syrien.

Der junge Ägypter Abdel Rahman Fatoum demonstrierte viele Tage auf dem Tahrir-Platz. „Auf dem Platz kann man den echten Kern der Ägypter entdecken. Wie sie ihr Land verteidigen, wie sie sich gegenseitig helfen. Ich bin erst dorthin gegangen, nachdem Demonstranten ums Leben gekommen sind“ sagt er. 

Auch viele deutsche Austauschstudenten beeindruckt die Solidarität der Ägypter. „Beispielsweise kochen unsere Vermieter haufenweise Essen und bringen es zum Tahrir-Platz. Die Leute spenden Blut oder starten auch private Spendenaktionen für Medikamente und Lebensmittel“, sagt Claudia Kreuzer, Tutorin an der Deutschabteilung der Kairoer Ain Shams Universität.

Aber nicht alle Ägypter stehen hinter den Demonstranten. Einige, wie Abdel Rahman Fatoum, waren zuerst sogar gegen die Kundgebungen. „Anfangs fand ich es etwas übertrieben. Ehrlich gesagt, hatte ich die Nase voll, dass jeden Freitag unter einem neuen Motto und neuen Forderungen demonstriert wird. Wegen lauter Demos kommt nichts in Gang. Man muss auch etwas Geduld haben.“ Heba Afifi ergänzt: „Man kann nicht sagen, dass das ganze Land hinter den Demonstranten steht. Viele Ägypter wollen Stabilität und glauben, dass die Massenkundgebungen nur zu mehr Unruhen und Spaltungen führen.“

Auch wenn auf dem Tahrir-Platz und in der Straße vor dem Innenministerium kriegsähnliche Zustände herrschen, kaufen einige hundert Meter weiter Menschen ungestört ein, sitzen in Cafés, rauchen Schischa und trinken Tee. Diese Situation mag surreal erscheinen, aber Kairo ist eine Metropole mit ungefähr 20 Millionen Einwohnern. Das normale Leben geht bei vielen Menschen einfach weiter, auch weil die Ausschreitungen entgegen dem Anschein ausländischer Medienberichte sehr lokal begrenzt sind. Viele Ägypter können es sich zudem nicht leisten, einen Tag nicht zu arbeiten. Sie brauchen das Geld dringend, um ihre Familien zu ernähren. 

Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man durch die Straßen läuft, in denen es aussieht wie immer und Menschen ihren täglichen Geschäften nachgehen, während knapp 500 Meter Luftlinie weiter Menschen sterben. „Ich fühle mich in Kairo trotz der aktuellen Lage relativ sicher und nicht direkt gefährdet oder bedroht, auch wenn die Berichte der Medien die Demonstrationen erscheinen lassen, als wäre in Ägypten der Krieg ausgebrochen“, sagt Claudia Kreuzer und ergänzt: „Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der ich wirklich Angst hatte. Die Unruhen konzentrieren sich auf den Platz. Schon einige 100 Meter davon entfernt bekommen wir so gut wie nichts mehr davon mit.“ Durch die Medien wird man leicht eingeschüchtert. Das alltägliche Leben ist kaum beeinflusst, abgesehen von den gelegentlichen Spuren von Tränengas in der Luft und in den U-Bahn Schächten. Den größten spürbaren Effekt haben die Demonstrationen auf den Verkehr in Kairo. Es herrscht Stau auf allen Straßen. Der Tahrir-Platz als Verkehrsknotenpunkt ist blockiert.

Wie es mit dem Land am Nil weitergeht, weiß keiner. Die Hoffung auf eine bessere Zukunft ist groß. „Brot und Gleichheit sowie Freiheit und Demokratie im Rahmen der islamischen Prinzipien,“ wünscht sich Heba Afifi. „Eine nationale Regierung, Bestrafung der Mitglieder des alten Systems und Demokratie“, erhofft sich Menna Gad, während Abel Rahman Fatoum gerne einen ägyptischen Staat nach türkischem Vorbild sehen würde, einen Staat also, in dem Religion wichtig ist, aber dabei nicht die Staatsstruktur beherrscht.

Doch Revolutionen brauchen viel Zeit. Es wird wohl noch Jahre bis Jahrzehnte dauern, bis der Fortschritt der Frühlingsrevolution sichtlich erkennbar ist. Die Zukunft wird zeigen, ob die Ägypter bereit sind so viel Geduld aufzubringen, abzuwarten, zu vertrauen und zu hoffen.

von Von Stephanie Müller aus Kairo (Ägypten)
   

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