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 Wissenschaft
03.02.2012

„Mein Herz hat gequietscht“

Uniklinik richtet eine Marfan-Spezialambulanz ein

Übergelenkigkeit ist eines der auffälligsten Symptome des Marfan-Syndroms. / Foto: Margarete Over

Mehr als 8000 Deutsche leiden unter dem seltenen Marfan-Syndrom. Bleibt die Bindegewebsstörung unerkannt, kann ein tödlicher Riss in der Hauptschlagader die Folge sein. Mit einer neuen Spezialambulanz setzt das Uniklinikum Heidelberg alles daran, dies zu verhindern.

Lange, dünne Finger und Hände. Daumen und kleiner Finger umschließen problemlos das Handgelenk. Das, was selbst für die gelenkigsten ein Kunststück ist, ist das wohl offensichtlichste Merkmal des Marfan-Syndroms. Marfan – das ist eine äußerst seltene erblich bedingte Erkrankung. Ursache ist eine Mutation im Bindegewebsstoff Fibrillin, die zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Bindegewebsschwäche im Körper führt. 

Übergelenkigkeit und Hochwuchs sind nur die weitgehend harmlosen äußeren Hinweise. Viel gefährlicher ist, dass die Mutation auch zu einer Erweiterung der Aorta führen kann. Geschieht dies, wird die Hauptschlagader zur tickenden Zeitbombe. Kommt es zu einer Dissektion, also einem Riss in der Membran der Aorta, ist dies lebensgefährlich. Seit einem halben Jahr gibt es im Universitätsklinikum Heidelberg nun eine eigens für das Marfan-Syndrom eingerichtete Spezialambulanz. Beim Ärzte-Patienten-Seminar im Dezember wurde eine erste Bilanz gezogen.

Rita Förch steht neben ihrer älteren Schwester. Beide sind groß, schlank und modisch gekleidet. Unbeschwert beugen sie sich über ihr Smartphone und lachen. Rita leidet wie viele der Anwesenden unter dem Marfan-Syndrom. 

Die 21-Jährige hat auf eher ungewöhnlichem Wege von ihrer Erkrankung erfahren. „Als Baby hat nachts mein Herz immer gequietscht“, lautet ihre Beschreibung. So konnte das Syndrom, das sonst keiner in ihrer Familie hat, bereits sehr früh bei ihr erkannt werden. „Ich habe eigentlich alle Symptome ein bisschen“, erklärt sie. Probleme mit der Hüfte, dem Rücken, dem Herzen und den Augen haben ihr die Schulzeit erschwert. „Ich wurde gehänselt, weil ich immer die Größte war.“ Und auch die dicke Brille war gerade im Teeniealter eine starke Belastung. Hinzu kommen weitere Einschränkungen. Kein Ausdauersport, kein Kraftsport, keine Ballsportarten, nur Schwimmen und Walken sind in Maßen erlaubt. Lasten darf sie nur bis fünf Kilogramm tragen. Der Umgang mit der Krankheit im Alltag fällt ihr aber nicht mehr schwer. Vielleicht auch, weil sie es gar nicht anders kennt.

Nicht bei allen Anwesenden nimmt das Syndrom einen so leichten Verlauf. Drei Hauptschlagaderoperationen hat Ulrike Süß hinter sich. Obwohl ihr Vater am Marfan-Syndrom gestorben ist und die Krankheit bei ihr bekannt war, haben die Ärzte zu spät reagiert. „Die Herzbeteiligung wurde erst nicht erkannt“, erzählt sie. Mittlerweile ist nur noch ein Bruchteil ihrer eigenen Hauptschlagader erhalten und auch der ist nicht verschont geblieben. „Ich habe immer noch eine dissektionsgefährdete Membran in mir, aber da hängen alle wichtigen Organe dran.“ Trotz etwa 15 Augenoperationen in den letzten Jahren hat ein grüner Star ihr rechtes Auge inzwischen erblinden lassen. Bei der Marfanhilfe Deutschland, einer Selbsthilfe­organisation zur Unterstützung der Betroffenen und Angehörigen, kann sie nun als Mitglied des Beirats ihre Erfahrungen weitergeben, Ängste beseitigen und Ärzte vermitteln.

Die Behandlung wird durch die vielen verschiedenen Krankheitsverläufe sehr erschwert. Selbst bei gleicher Mutation kann das Ausmaß der Erkrankung sehr verschieden sein. Unterschiedliche, mitunter widersprüchliche Aussagen der verschiedenen Kliniken sorgen für Verunsicherung bei den Patienten.. und Angehörigen. Deutlich spürbar hängt sie beim Ärzte-Patienten-Seminar im Raum. Wie weit darf die Müdigkeit durch die Medikamente gehen? Welches Medikament ist überhaupt am besten geeignet? Wie sind die über ein Dutzend verschiedenen Spezialzentren im Bundesgebiet vernetzt? „Wir haben keinen goldenen Weg“, gibt auch Klaus Kallenbach, leitender Oberarzt in der Herzchirurgischen Klinik Heidelberg, zu. „Auch wir wünschen uns eine klare Guideline. Leider gibt es sie aber noch nicht.“ Es seien erst weitere Studien mit größeren Fallzahlen nötig.

Die Bilanz des Universitätsklinikums sieht trotzdem nicht schlecht aus. Seit 2007 wurden 98 Patienten am Herzen operiert, bei 70 Prozent konnte ein Großteil der körpereigenen Membran erhalten werden. Seit Einrichtung der Marfan-Ambulanz im Sommer letzten Jahres gibt es wöchentlich einen neuen Patienten. 

In dem interdisziplinären Zusammenschluss aus zwölf Kliniken von Orthopädie über Gynäkologie bis zur Humangenetik läuft alles in der Herzchirurgie unter der Leitung von Kallenbach zusammen. Der Mediziner betont immer wieder eines: Oberste Priorität hat die Verhinderung einer Aortendissektion durch operative Eingriffe. „Das Schlimmste wäre, wenn jemand zehn Jahre lang unter Marfan leidet, ohne je an der Hauptschlagader untersucht worden zu sein.“ Denn kommt es einmal zum Riss in der Hauptschlagader, hat dies meistens tödliche Folgen. „80 Prozent der Patienten mit Aortendissektion erreichen das Krankenhaus nicht mehr lebend“, verdeutlicht Kallenbach den Ernst der Lage. 

Auf lange Sicht verfolgt er allerdings ein anderes Ziel. Die aktuelle Forschung setze alles daran, eine nicht-operative Therapiemethode zu entwickeln. „Es wäre toll, wenn wir die Patienten irgendwann im Voraus screenen könnten“, beschreibt Kallenbach seine Vorstellungen. Zurzeit ist das allerdings noch nicht möglich.

Alle sechs Monate muss Rita zur Untersuchung. Solange sich ihre Hauptschlagader nur im normalen Rahmen vergrößert, bleibt ihr eine Operation vorerst erspart. „Beim heutigen Stand der Forschung ist eine Operation aber für mich auf Dauer unausweichlich“, weiß Rita. Wann das sein wird, was genau sie erwartet und ob sich ihr Leben danach verändern wird, darüber kann sie nur spekulieren.

von Margarete Over
   

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