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Heidelberg


Von Zucker und Zahnweh

Süße Träume sind käuflich: Heidelberger Zuckerladen

[Exodus aus Heidelberg]
     Foto: papa   

Wenn es diesen Laden nicht gäbe, müßte er erfunden werden. Jedenfalls kann man das deutlich an den Augen des Knirpses ablesen, der von den Schultern seines Papas wie hypnotisiert auf die Wand voller Süßigkeitengläser starrt. Dann ein verwirrter Blick auf den Haarschopf seines Erzeugers: Ist das auch alles echt? Da der Haarschopf nichts Gegenteiliges äußert, fängt der Kleine wie wild an zu strampeln, um an die Quelle seiner Wünsche heranzukommen.

Neidisch betrachte ich die Szene: Jetzt drei Jahre alt sein. Dann könnte ich genau das tun, wovon der Dreikäsehoch von seinem Vater nur mühsam abgehalten werden kann: das Glas voller sündhaft roter Fruchtgummierdbeeren schnappen, losrennen und mich dann für die nächsten zwei Stunden in eine ruhige, beschauliche Ecke verziehen, an der außer sehr netten Leuten mit nicht zuviel Hunger niemand vorbeikommt.

Bevor angesichts solcher Aussichten auch meine letzten Hemmschwellen brechen, werde ich aus meinen Tagträumen herausgerissen: Aus dem Kabuff hinter der Eingangstür erscheint eine vierstöckige Süßigkeitentorte - eine Kreation aus gewölbten Marshmellowzungen, größenwahnsinnigen Lutschern und garantiert farbstoffhaltigen Weingummitieren. Dahinter taucht Jürgen auf, der mit lauten Zurufen die Massen vor der Theke zur Seite befiehlt. Er bugsiert die Kalorienbombe in die Hände einer der Wartenden, die wohl die Bestellung aufgegeben hat, hält die Tür auf, vergibt noch letzte Ratschläge zum Transport und Grüße an gemeinsame Bekannte und wühlt sich wieder in Richtung Kasse.

Die Schlange davor ist inzwischen bedrohlich lang geworden - zaghaft flackert die Erinnerung an die Vorlesung, die ich ursprünglich besuchen wollte, in der Abteilung für schlechtes Gewissen meines Gehirns auf. Aber eigentlich war mir schon klar, daß daraus nichts mehr werden würde, als ich auf die Klinke der Ladentür drückte: Für Eilige ist der Zuckerladen ein unpassender Ort. Und eigentlich wäre das auch widersinnig: sich Papiertüten voller Leckereien zusammenstellen zu lassen - und dann ohne einen kleinen Schwatz aus dem Laden zu stapfen: sich über die Besonderheiten von Afri-Cola auszutauschen, die beste Methode zu diskutieren, helix promatia - Lakritzrollen - zu verspeisen oder die derzeitigen Vergnügungen auf der Neckarwiese zu erörtern. Nicht immer kommen dabei auch die Kunden zu Wort - wenn man Jürgen beobachtet, fragt man sich, ob Zucker die Beredsamkeit steigert. Doch mancher ist hier schon mehr Vertraulichkeiten losgeworden als bei der Nightline.

Bevor man für Leckereien und Zahnverderber zahlen darf, muß man erst spielen. Selbst Pechvögel haben dabei Gelegenheit, ihr Glück zu entdecken. Jürgen und Marion, die den Laden in den letzten zwölf Jahren aufbauten, finden, daß es bei Süßigkeiten nicht nur auf den Geschmack ankommt - sondern auch auf den Spaß dabei. Schon die Einrichtung des Ladens ist dazu angetan, die Erfindung der Uhr zu verdrängen. Empfindsame Gemüter bekommen bereits beim Betrachten der Vitrinen, Gläser und Tische mit Süßkram Zahnweh: Kunstwerke aus Schokolade lächeln die Betrachter von pyramidenförmigen Stapeln aus gutmütig an, und Weingummis und Lakritzen in den Gläsern grinsen aus den Bonbonnieren: Vernasch uns! Sie heißen Sex, Drugs und Cola Cool, Neckar-Kraken oder Ozonlöcher, Arschpirin und Knallharte Mädchen und sehen aus wie der Untergang aller Diätpläne.

Also Revolution? Eine nach dieser Art zum Beispiel: "Frauen, schmeißt die Kalorientabellen in den Neckar, Männer, vertauscht eure Handys gegen welche aus Schokolade, es geht ein Lakritz um in Europa." Nein, zum Glück geht es nur um Süßigkeiten - und damit jeder unangebrachte Übermut im Keim erstickt wird, steht vor der Kasse eine vorwurfsfoll blickende Waage, und hinter der Theke droht ein alter Zahnarztfolterstuhl.

Es scheint manchmal sogar so, als wollte der Laden möglichst viele Kunden abschrecken, damit nur wahrhaft Kaloriengläubige den Weg in das Guttimekka finden. Um Touristenhorden zu verekeln, die außer typischen Heidelberger Kuckucksuhren auch Zuckerstangen als Souvenir mit über ihren jeweiligen Teich nehmen wollen, hängt ein großes Photographierverbotsschild über dem Bonbonierengang; und das Schaufenster mit seiner Gebißabdrucksammlung mag schon manchen potentiellen Kunden an den längst überfälligen Zahnarzttermin erinnert haben.

Als ich nach einer Dreiviertelstunde wieder auf die Plöck hinaustrete, sieht alles viel zu wenig süß aus. Das Carolinum unter blauem Zuckerguß? Zartbittererker an Gründerzeitfassaden von Burschenschaftshäusern? Das Leben wäre einfacher. Bevor mich das schlechte Gewissen, in den letzten zwanzig Minuten unter einer dicken Schicht Couvertüre begraben, wieder in den Hörsaal treibt, greife ich mir ein Gummispaghetti aus der kleinen Tüte in meiner Tasche - und der Tag ist gerettet. (gan)


Ausgestanden

Die Heidelberger Wagenburg zog ab

[Der Letzte]
Die letzten Reste einer vergangenen Zeit - "aber die Idee wird weiterleben"

Foto: rot    

Heidelberg ist um eine alternative Wohnform ärmer - oder um ein städtisches Ärgernis erleichtert. Am 22. Mai verließen die letzten Bewohner der Wagenburg das Grundstück am Klausenpfad am nördlichen Ende des Neuenheimer Feldes. Nahezu sechs Jahre standen die Bauwagen auf dem im März 1991 besetzten Grundstück, das dem Land Baden-Württemberg gehört.

Als Eigentümer verlangte das Land schon 1991 die sofortige Räumung, wobei "Heidelberg in der Rolle des Erfüllungsgehilfen ist und keine andere Möglichkeit hat als dem Wunsch des Eigentümers Folge zu leisten", so Herr Pöltel vom Rechtsamt der Stadt Heidelberg. Allerdings ist eine Bebauung des Grundstücks nach momentaner Rechtslage nicht erlaubt und eine Nutzung für die nähere Zukunft auch nicht geplant. Um der Wagenburg dennoch einen Platz in Heidelberg zu ermöglichen, brachte die Stadtverwaltung bereits 1992 einen Antrag in den Gemeinderat ein. Es sollte ein Ersatzgrundstück gesucht werden. 1993 fiel dann das Augenmerk auf eines in Rohrbach, doch da sich der Gemeinderat mit den Stimmen der CDU und einer der SPD gegen eine Änderung des dortigen Bebauungsplanes wehrte, ohne die auch auf diesem Grundstück keine Wagenburg hätte errichtet werden dürfen, starb diese Initiative.

Die Bewohner der Wagenburg blieben und wehrten sich gegen die vom Land verlangte Räumung; eine Abbruchsanordung sollte der Grundstücksbesetzung dann 1993 ein Ende machen. Diesem widersprachen sie vor Gericht, aber im Oktober letzten Jahres kam dann doch die abschließende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg. Die Besetzung des Grundstückes wurde endgültig für rechtswidrig erklärt, und die Stadt Heidelberg konnte es mit Gewalt räumen lassen. Zunächst legten die Bewohner beim Bundesverwaltungsgericht Revision gegen die Entscheidung ein, zogen diese dann aber wieder zurück und verpflichteten sich freiwillig, bis zum 30. April das Grundstück zu verlassen. Doch nachdem die GAL, die LD, die Studiliste und der Vertreter der FDP eine erneute Initiative in den Gemeinderat zur Legalisierung der Wagenburg eingebracht hatten, wurde die Entscheidung darüber noch einmal abgewartet, und der Auszug zögerte sich nochmals hinaus. Aber auch diese Initiative wird wohl - wie schon diejenige der Verwaltung von 1992 - im Sand verlaufen, da eine Änderung des Bebauungsplanes, die auch für das Grundstück am Klausenpfad notwendig wäre, "mindestens drei Jahre benötigen würde und dies sehr aufwendig ist", so Herr Pöltel. Die Wagenburgler mußten nach einer Verfügung der Oberbürgermeisterin Beate Weber den Platz bis zum 22. Mai räumen, nachdem der Gemeinderat auf seiner Sitzung am 15. keine Entscheidung getroffen hatte.

Viele der ehemaligen Bewohner sind seitdem ganz aus dem Umkreis von Heidelberg verschwunden, manche ziehen im Odenwald hin und her und suchen einen neuen Platz. Neckarsteinach. Bammental. Irgendwo dort. "Wir sind ein versprengter Haufen", sagt Boris, "aber die Idee wird trotzdem weiterleben." Er ist der letzte, der Künstler. "Die Müllabfuhr wollte mich schon abtransportieren, als sie die ganzen Reste einsammelte", grinst er. Vielleicht noch zwei oder drei Wochen, sagt er, wird er hinter diesem Busch sitzen, auf den paar Stühlen. Links eine Blechtonne. Rechts der Eingang mit den zusammengezimmerten Möbelresten. Noch zwei, drei Wochen wird er auf den inzwischen umgepflügten Platz schauen, der einmal seine Heimat war. Auf dem einmal die Wagen standen mit ihren bis zu 37 Bewohnern. Auf dem sie sechs Jahre für einen anderen Lebensstil kämpften. Die Toleranz der Heidelberger auf die Probe stellten. Am 22. Mai brannten die letzten Reste davon auf einem Feuer. Und irgendwann war dann der Rauch weggezogen und die Asche untergepflügt. Dann bleibt nur noch die Erinnerung. Und Boris. Vielleicht noch zwei, drei Wochen. (rot)


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