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Lifestyle


Tanz der Schatten

Die Liebe in den Zeiten der virtuellen Räume

[Ein echter Kuß]
     Plakat zum Kinofilm "Der englische Patient" (Ausschnitt; Foto: Verleih)

Für unzählige Netzsurfer sind die uferlosen Weiten des Cyberspace längst zu einem Lebensraum geworden, in dem sie nicht nur Wissen und Zerstreuung, sondern auch die verwandte Seele suchen. Tatsächlich verheißen die Kontakthöfe des Mediums Internet neben dem billigen Thrill anonymer Lust auch die Erfüllung jenes elementarsten aller romantischen Träume: die Anrührung zweier Herzen in ihrer reinsten Form, ohne die Marginalien von Geographie, sozialem Status oder Körper. Doch so suggestiv sich die Schnittstellen auch aneinanderschmiegen: Die Sehnsucht findet im Virtuellen zumeist nur ihr eigenes Spiegelbild.

Wer Nick (alle Namen geändert.) auf seine letzte Liebesgeschichte anspricht, bekommt von ihm unweigerlich einen Satz zu hören, den Woody Allen in "Hannah und ihre Schwestern" einer Figur in den Mund legt: "Das Herz ist ein sehr, sehr elastischer kleiner Muskel." Daß der sechsundzwanzigjährige New Yorker Student auf ein bonmot des Kinokomödianten zurückgreift, hat nicht nur damit zu tun, daß er aussieht, wie man sich Allens jüngeren Bruder vorstellen würde - "nur daß Woody attraktiver ist als ich", wie Nick grinsend bemerkt. Sondern auch damit, daß Woody und Nick über das Äußerliche hinaus die Anfälligkeit für die Verwirrungen des Herzens teilen: "Mit Frauen", sagt Nick, "tue ich mich etwa so leicht, wie es Martin Luther King bei einer Kandidatur für den Vorsitz des Ku-Klux-Klan täte."

Natürlich: Wo Woody Allens stets prekäre Romanzen immerhin in den exquisit ausgeleuchteten Restaurants und Museen Manhattans spielen, ist der Ort, an dem Nick seine Herzensanliegen verfolgt, so romantisch wie das Benutzerhandbuch von Windows95: die Rechner eines großen amerikanischen Online-Dienstes, in die sich der angehende Politologe allnächtlich mit Laptop und Modem einwählt. Die Computer simulieren für ihn und seine Frauen-Bekanntschaften, die gleichzeitig, oft Hunderte von Meilen entfernt, eingeloggt sind, einen chat room, einen "Plauder-Raum". In dessen virtuellen Wänden wird dann möglich, was sich einen Austausch von Zutraulichkeiten nennen ließe, der ohne die Vermittlung der Maschine freilich buchstäblich gegenstandslos wäre. Ganz zu schweigen davon, daß er mit Rhetorik auskommen muß.

Sitzt man Nick in der Cafeteria seiner Universität an Amerikas Ostküste gegenüber, begreift man bald, daß einem wie ihm die virtuelle Alternativ-Welt wie das wahre Wunder des Informationszeitalters vorkommen muß: Hier, wo er nur als die Schrift erscheint, die er auf der heimischen Tastatur eintippt und die einen Herzschlag später auf den Bildschirmen seiner Gegenüber aufläuft, läßt er die echten oder eingebildeten Beschränkungen seiner körperlichen Existenz hinter sich, verwandelt er sich in eine Art virtuellen Cyrano de Bergerac. So kann dann selbst der über den kühl flimmernden Bildschirm eines Computers hergestellte menschliche Kontakt sehr real werden. Und wenn es nur für eine schmerzhaft kurze Weile ist.

Daß die Computer immer tiefer in das Innenleben ihrer Nutzer eindringen, sollte kaum überraschen. Seit seinen Anfängen ist der PC gewesen, was die Wissenschaftssoziologin Sherry Turkle eine "Wunschmaschine" nennt. Nun, im Zeitalter der alles erfassenden Netze, vermittelt er zwischenmenschliche Begegnungen, vom Treff für alleinerziehende Elternteile über das innig-unschuldige tête-à-tête bis zum haltlosen "Cybersex". Dabei sind die chat rooms beileibe nicht die einzigen virtuellen Treffpunkte: Beim "Internet Relay Chat" ("Internet-Weitergabe-Geplauder"; IRC) treffen sich auf Tausenden von Kanälen Studenten, Wissenschaftler und Manager zu weltumspannenden Konversationen; in den "MUDs" ("Multi-User-Dungeons" - "Viel-Nutzer-Kerkern") benutzen die Teilnehmer Worte und Programmiersprachen, um Räume und Objekte zu bauen, sich fiktive oder halbfiktive Charaktere zu schaffen, Spielhandlungen zu erfinden, um Einfluß und virtuelles Geld zu wetteifern, entleibten Sex zu haben, zu töten oder gar zu sterben. Turkle, die als die Margaret Mead der Netz-Kultur gilt, hält fest: "Die Bildschirme der Computer sind der neue Schauplatz für unsere Phantasien, sowohl erotische als auch intellektuelle."

Daß die chat-Teilnehmer einander nur als Online-Pseudonyme sehen, die sie sich selbst geben, daß Körpersprache, Gesichtsausdruck oder die Modulation der Stimme fehlen, hat den Internet-Kenner Howard Rheingold von der "ontologischen Unglaubwürdigkeit des Cyberspace" sprechen lassen: Der Mensch wird zur virtuellen Repräsentation seiner selbst, die anderen Telepräsenzen wie in einem Tanz der Schatten begegnet; die Authentizität aller Beziehungen ist ständig infragegestellt, weil das Medium ein Maß an hohes Maskierung zuläßt. Jake, ein anderer studentischer chatter, weiß: "Du kannst sein, wer immer du willst. Statt schüchtern mitteilsam, statt höflich rüde. Wie andere dich wahrnehmen, läßt sich leicht ändern, denn sie wissen nur, was du ihnen gesagt hast und sagst. Es gibt dich nur als Sprache. Und wenn deine Persona eines Tages nicht mehr funktioniert, löschst du dein Pseudonym und erschaffst eine neue." Die Folge solcher Anonymität ist die vorbehaltlose Enthemmung; ein Besuch in der Mehrheit der Plauder-Zimmern gerät schnell zum Blick in die Tiefe sexueller Abgründe. Aus der Frage "Gehen wir zu dir oder zu mir?" ist im Zeitalter virtueller Simulation das "Kommst du mit in einen private room?" geworden - und was dort geschieht, ist als "gegenseitige narrative Stimulierung" (Rheingold) eher wohlwollend beschrieben.

Paradoxerweise sind die von den Maschinen geschaffenen Räume aber auch einer der letzten Orte in unserer vom Visuellen so übersättigten Kultur, in dem das elegante Wort noch Wert besitzt. "Die Verführung im Netz geschieht durch das Wort", bemerkt Nick - und tatsächlich zeigen gerade er und Jake, daß der Cyberspace fern der Kontakthöfe für den schnellen anonymen Thrill auch Verstecke des Subtilen birgt. Wo andere Plauderer brutal direkt sind, sind die beiden suggestiv: Eine Frau, die er zum ersten Mal in einem Raum anspricht, fragt Nick: "Wie riechst du, wie fühlen sich deine Schulterblätter an?" Jake sagt einer Gesprächspartnerin, mit der er einen mitternächtlichen Badeausflug imaginiert: "Deine Hände sind wie Vögel, die sich im Dunkel verflogen haben, deine Lippen ein Geschmack." Beiden Digital-Literaten gemeinsam ist das Gefühl, wie Nick es ausdrückt, "sich das Leben auf dem Bildschirm wie in einem Drehbuch in Echtzeit zu erschreiben." Der Dialog, dessen Ko-Autoren sie sind, zieht als Strom des Wortes vorüber, indem Zeile um Zeile am oberen Rand ihrer Bildschirme verschwindet, während von unten immer neue nachquellen - Sprache, die für einen Augenblick zum Artefakt geronnen ist, aber eigenartig flüchtig bleibt. So entsteht ein Raum, der den Fieberträumen französischer Strukturalisten entsprungen sein könnte: das Leben als Austausch von Zeichen, die Welt als Text.

Der Lohn der gelungenen rhetorischen Geste ist eine Erfahrung, die Nick wie Jake jenseits des Bildschirms weitgehend entbehren: "Wenn ich im wirklichen Leben einer Frau sowas sagen würde", berichtet Jake, "würde sie das kaum rühren, weil es von einem Gnom wie mir kommt. Im Cyberspace aber höre ich Kommentare wie 'Ach, du bist aber süß'." So spielt er mit Laura, der Krankenschwester aus Texas, erotische Szenarien durch, flirtet mit Rachel, der Wirtschaftsprüferin aus dem Bundesstaat Washington, nachdem deren Mann zu Bett gegangen ist; mit der siebenundvierzigjährigen Vera aus Oregon, die er "Muse" nennt, als sei das ihr Eigenname, tauscht er selbstverfaßte Sonette aus, und hört sich an, was Julie, die Alleinerziehende aus New York, von den alltäglichen Tragödien ihrer eigenen Einsamkeit berichtet: "Sie hat im chat room mehrfach Männer kennengelernt und übers Wochenende eingeladen; am Montag kam sie dann online, erzählte mir von ihren Erlebnissen und fing vor dem Bildschirm an zu weinen, weil wieder mal ein Gast außer Sex nichts von ihr wollte."

Wo das geglückte Leben vornehmlich eine Frage der geglückten Formulierung ist, scheint auch der Kontakt des Fleisches zur bloßen Formalität zu werden, entsteht ein Sog der Emotion, dem sich zu entziehen nicht leicht fällt: "Was du da liest, geht geradewegs an dein Herz, vorbei an aller Vernunft oder Skepsis", sagt Jake. Nicht zufällig wollte LSD-Prophet Timothy Leary im Internet "die psychedelische Droge der neunziger Jahre" erkannt haben, wird unter dem spielerischen Ton, der viele Cyber-Konversationen durchzieht, ein Hunger nach Intimität ahnbar. Daß unter solchen Umständen die Romanze nicht weit ist, weiß Jake schon länger; Nick hat es kürzlich schmerzlich erfahren müssen, als er beim Plaudern Diane, eine vierundzwanzigjährige Studentin aus Kalifornien, kennnenlernte. Mehrere im chat room und am Telephon verbrachte Nächte brachten das happy end zum Greifen nahe: "Es war, als ob sich unsere Seelen berührten. Und nur unsere Seelen. Wie wir aussahen, wer unsere Eltern waren, schien keine Rolle zu spielen." Die Liebenden empfanden den Schwindel einer Zeit, die sich zum Wechselspiel der Keyboards zu beschleunigen schien, und die Erregung einer sich rapide vertiefenden Beziehung: "Wir sprachen miteinander, als seien wir seit Jahren verheiratet und nur durch den Zufall beruflicher Verpflichtungen für eine gewisse Zeit getrennt." Jake erinnert sich an seine eigene Erfahrung mit der virtuellen Liebe: "Meine Gefühle waren sehr 'real' für mich. Der einzige Unterschied zum 'wirklichen Leben' schien zu sein, daß sie ihren Kopf nicht an meine Schulter lehnen konnte."

Der Versuch jedoch, die virtuelle Nähe ins real life, ins "wirkliche Leben", zu überführen, endete auch für Nick in Enttäuschung, als er sich mit seiner Cyber-Vertrauten von Angesicht zu Angesicht traf: "Es war, als ob eine Fremde in mein Haus gekommen sei." Das tiefe Einverständnis verflüchtigte sich: "Ich mußte vor mir selbst eingestehen, daß ich meiner romantischen Rhetorik zum Trotz nicht in der Lage war, mich von innen nach außen zu verlieben. Sie konnte das." Heute ist auch Nick klar, in welchem Maße er die Beziehung konstruierte: "Sprache ist alles, was man von einer Person hat, der große Rest wird in seinem Kopf ergänzt. Schon hast du die ideale Geliebte." Wie oft sich solche Geschichten in den Weiten des Cyberspace ereignen, vermag niemand zu sagen; gewiß ist, daß Nick, Jake und ihre virtuellen Partnerinnen zu den ersten gehören, die auszuhandeln suchen, was es heißt, nicht nur mit, sondern auch durch die Computer zu leben - ein Projekt, das unsere Gesellschaft als ganzes noch vor sich hat.

Nick hat, nachdem er sich, ganz wie im wirklichen Leben, drei Monate lang gescheut hat, im chat room überhaupt jemanden anzusprechen, seit kurzem eine neue Online-Bekanntschaft, mit der auch schon kurz telephoniert hat. Er hat auch schon wieder Schritte heraus aus den Spiegelhallen des Cyberspace unternommen, so tastend sie bislang auch sein mögen. Kürzlich hat er der Frau eine kleine Tupper-Schüssel mit zwei Handvoll Cornflakes geschickt; obenauf lag, sorgsam in Klarsichtfolie verpackt, eine Erdbeere, in der Innenseite des Deckels fand sich der Text: "Hi Brett. Möchtest Du mit mir frühstücken? Wie wär's mit übermorgen? Ich ruf' Dich an, halt' die Milch bereit. - Nick." Das Herz ist eben ein sehr elastischer kleiner Muskel.

(bpe)


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