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Hochschule


Rechtlos sicher

Neues vom Semesterticket

Während der öffentliche Nahverkehr in Deutschland ständig Anteile an das Auto verliert, steigen Studierende in großer Zahl vom Auto auf Bus und Bahn um und zeigen damit, daß die Verkehrswende möglich ist. Doch einigen Kommilitonen stieß der Pflichtbeitrag so sauer auf, daß sie sich bemüßigt sahen, die Gerichte zu bemühen. Nach einer Serie von Niederlagen konnten diese wackeren Streiter Anfang Oktober in Schleswig-Holstein erstmals einen Punktsieg verbuchen.

Gerichtlichen Anfechtungen mußten die Semester-Tickets schon in beinahe allen Bundesländern seit Jahren standhalten. Dabei wurde die Frage, ob ein verbilligtes Nahverkehrs-Ticket zu den sozialen Belangen der Studierendenschaft gehört, mit deren Wahrnehmung der AStA gemäß den Landeshochschulgesetzen beauftragt ist, durchweg positiv entschieden. In Düsseldorf hatte das Verwaltungsgericht im September geurteilt, die Fahrtkosten machten mittlerweile einen erheblichen Teil der Lebenshaltungskosten eines Studierenden aus, so daß die ASten mit der Einführung von Semester-Tickets eindeutig die sozialen Belange der Studierendenschaft wahrnähmen.

Das jüngste Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Schleswig sorgt nun für Furore, weil es diesen Sachverhalt ausdrücklich anerkennt, den Vertrag des AStA Kiel mit den dortigen Verkehrsunternehmen aber dennoch als rechtswidrig einstuft. Der AStA habe nämlich seine Kompetenzen überschritten, indem er einen immerhin nützlichen, aber nicht notwendigen Vertrag über ein Semester-Ticket abschloß.

In Baden-Württemberg und Bayern liest sich dieses Urteil indessen wie eine Satire. Weil in diesen beiden Bundesländern die verfaßte Studierendenschaft vor zwanzig Jahren abgeschafft wurde, war es den ASten nicht möglich, in eigener Verantwortung Semester-Tickets einzuführen. An ihrer Stelle verhandelten und schlossen die Studentenwerke die Verträge mit den Verkehrsunternehmen. Was lange Zeit als Ausdruck der Rechtlosigkeit empfunden wurde, mutiert nun - welche Ironie - zum Schild gegen juristische Angriffe.

Semester-Ticket-Besitzer in Heidelberg können also beruhigt sein. Ihr Ticket ist aller Voraussicht nach klagesicher und wird nicht durch das Urteil von Schleswig gefährdet, das ohnehin noch keine Rechtskraft erlangt hat. Studierendenvertreter und Anhänger einer demokratischen Selbstverwaltung der Studierendenschaft müssen die Entwicklung jedoch als Rückschlag bewerten. Mit kompetenten und kooperativen Geschäftsführern lassen sich, wie in Baden-Württemberg, auch ohne formales Beschlußrecht attraktive Modelle für Semester-Tickets gestalten. Es bleibt aber ein Treppenwitz jüngerer Universitätsgeschichte, daß man als Studierendenvertreter anscheinend nur entmündigt und rechtlos vor Urteilen nach der Art des Verwaltungsgerichts in Schleswig sicher ist. (bp)


Großes Fressen

Späte Solidarität am Mensatisch

Sommer: Da konnte man auf der Marstallwiese liegen, die Nase in den blauen Himmel stecken und sich in der Septembersonne räkeln. Vorlesungs- und sorgenfrei blickten wir den Mädchen nach, leckten am Vanilleeis, verschoben die Lernvorsätze auf den nächsten Tag und dachten an nichts Böses.

Plötzlich ging ein Raunen und Zischen durch die Sonnenbadenden: Peter! Peter! tuschelte es durchs kippenübersäte Gras. Peter? - Ulmer! Magnifizenz persönlich! Da war er! Mitten im Marstall! Und ging schnurstracks auf die Mensa zu, umflattert von Hofstaat und Vertretern der regionalen Schreibzunft. 'Was will der da?' dachten sich die aus ihrer Verdauungsarbeit aufgeschreckten Studis - etwa was Gutes essen?

Nun, wer so viel Publicityexponenten im Gepäck hat, will nicht einfach nur essen - der will reden. Das hat Ulmer auch getan, und am nächsten Tag stand es in der Zeitung: Nach 1997 kürzt das Land auch 1998 die Zuschüsse an das Studentenwerk Heidelberg. Und zwar auf eine Weise, die sich am besten als konsequent bezeichnen läßt - oder als unverschämt: Waren es dieses Jahr noch 1,3 Millionen Mark weniger, werden dem Studentenwerk 1998 zusätzliche 1,8 Millionen Mark fehlen. Wen diese Zahlen allein nicht schwindeln machen, der sollte sie in Stammessen umrechnen, dabei aber berücksichtigen, das diese ab 1. Januar wegen der Kürzungen wohl jeweils dreißig Pfennige teurer werden. Das Kultusministerium hat für die Maßnahme einen wunderbaren Euphemismus gefunden: "neues Zuschußverteilungsmodell". Laut Ulmer ist dieses "sowohl ökonomisch wie auch sozialpolitisch unvertretbar, nicht zuletzt deshalb, weil es mittelfristig die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Studentenwerks gefährden würde". Sprach's, und biß so herzhaft in sein Gyros, als könnte es das letzte Mal sein.

Es gereicht Herrn Ulmer sicherlich zur Ehre, daß er angesichts der immer ungemütlicheren sozialen Situation seiner Studenten nun selbst auf die Barrikaden gegangen ist und es nicht bei der etwas trockenen Resolution, die er als Vorsitzender des Verwaltungsrats erlassen hat, geblieben ist. Zugegeben: Einem Rektor, der aus Protest gegenüber einer Landesregierung die Mensatradition des Quasi-vom-Tisch-Mampfens pressewirksam vorführt, kann man Engagement für seine Studierenden schlecht absprechen. Doch hat die Presse auch kritische Töne zu der Aktion gefunden. Das mag daran liegen, daß Peter Ulmer sein plakatives Eintreten für die soziale Lage der Studierenden gerade mal eine Woche vor der Abgabe des Rektoramtes in Angriff nahm. Zuvor war er in den Medien eher als besonders exponierter Vertreter für Studiengebühren bekannt gewesen. Auch bei dem Protest der Studierenden gegen die sogenannte "Verwaltungsgebühr" von hundert Mark, denen laut Landesrechnungshof ein Arbeitsaufwand von jeweils ein bis drei Minuten gegenübersteht, führte er nur eine kaum einfühlsam zu nennende Überlegung an: Die sich so ergebenden zwanzig Millionen wären, würden sie direkt an die Universität statt ans Land fließen, immer noch zu wenig - viel lieber hätte er die Aufregung der Studierenden für "seine" Vorstellungen von Studiengebühren ausgesessen.

Doch ist Ulmer ja inzwischen nicht mehr Rektor: Und Nachrufe sind nicht der Ort für nachträgliche Schmähungen. Um so mehr ist zu hoffen, daß nun Jürgen Siebke Ulmers würdiger Nachfolger wird: Vielleicht mit einem öffentlichen Salmonellen-Selbstversuch? Einen Monat lang in einer Zehner-WG in Leimen wohnen (ohne Dienstwagen)? Ausfüllen eines Bafög-Antrags, live in der Landesschau? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Hoffentlich bemerkt das der neue Rektor nicht erst eine Woche vor seinem Ausscheiden. (gan)


Der mißverstandene Politiker und die Vertreterin der Entrechteten

Das Doppelportrait

Jürgen Siebke wird am 20. Juli 1936 in Hannover geboren. 1956 entschließt er sich für ein Wirtschaftsstudium in München und Bonn, wo er 1960 diplomiert und 1965 promoviert. Um seinen Horizont zu erweitern, geht er als Visiting Scholar 1968/69 nach Ohio und verpaßt deshalb die deutsche Studentenbewegung. Unversehrt kann er sich so 1971 in Bonn habilitieren und lehrt erst in Kiel, dann in Essen. 1983 endlich erfaßt ihn der Charme der Neckarstadt, an dessen Universität er seitdem Ordinarius für Volkswirtschaftslehre ist.
Erfahrung im Umgang mit Verwaltung und Politik - und Politikern - sammelte er sowohl in Kiel als auch in Heidelberg als Dekan und Senatsmitglied, im Wissenschaftsrat, dem er von 1978 bis 83 angehörte, und in der Hochschulstrukturkommission des Landes Sachsen-Anhalt von 1991 bis 92. Am 10. Februar dieses Jahres wurde er vom Großen Senat für vier Jahre zum Rektor gewählt.
Siebke ist verheiratet und hat drei Töchter. In seiner Freizeit wandert er gerne und liest bevorzugt Schriftsteller dieses Jahrhunderts.

Kirsten-Heike Pistel wird am 21. Januar 1968 in Neunkirchen an der Saar geboren. Nach dem Schulbesuch in insgesamt fünf verschiedenen Städten macht sie 1988 in Waldniel am Niederrhein Abitur. Seit dem Wintersemester 1988/89 studiert sie an der Universität Heidelberg: Mathematik, Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft. Von Beginn ihres Studiums an war sie Mitglied in diversen FSK-Referaten, Uni- und Fakultätsgremien. 1989 tritt sie in die GEW ein, seit ungefähr vier Jahren arbeitet sie aktiv in der Gewerkschaft mit. Inzwischen ist sie so mit Arbeit eingedeckt, daß sie keine Zeit mehr für Hobbies wie Turnen und Schwimmen hat. Eine andere Beschäftigung läßt sie sich jedoch von der ärgsten Zeitnot nicht verbieten: das Lesen, und zwar nicht nur Schriftsteller dieses Jahrhunderts.

"Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpf, hat schon verloren." Dieses Brecht-Zitat muß im Unterbewußtsein eines jeden eingeprägt sein, der versucht, an der Universität etwas zu bewegen. Den wahren Prototyp dazu findet man in der Lauerstr. 1: Kirsten-Heike Pistel. Mit fast zehn Jahren Arbeit in der Studierendenvertretung hat sie immerhin schon den dritten Rektor, seit diesem Semester den Volkswirt Jürgen Siebke, überlebt. Dies nahm der ruprecht zum Anlaß, die beiden Kontrahenten in einem Portrait vorzustellen.

Prolog mit Schreibtischen

Der Schreibtisch ist penibel aufgeräumt, die Ordner mit der Arbeit für den Tag sind sauber übereinandergestapelt, und vor der nächsten Sitzung bleibt noch ein wenig Zeit. Mit einem kurzen Blick auf die Uhr lehnt Jürgen Siebke sich in den Sessel zurück und beginnt zu plaudern. Zügig, aber ohne Hast erzählt er über seine Arbeit, ab und zu hat er sogar noch Zeit für eine kleine Anekdote. Aber stets ist auch dem Gegenüber bewußt, daß es noch Wichtigeres gibt. Und so verabschiedet Siebke sich schließlich mit einem netten, unverfänglichen Lächeln von seinem Besuch.

Damit sie vor lauter Arbeit nicht nochmal den eigenen Namen vergißt, hat ihn jemand über ihren Schreibtisch im 2. Stock des Zentralen Fachschaftsbüros aufgehängt: KIRSTEN - sieben kleine Holzbuchstaben, hübsch angemalt und mit kleinen Clowns und Blumen verziert, schweben über dem Tohuwabohu aus Büchern, Notizen, Kopien und Mitteilungen, das die Tischplatte längst unter sich begraben hat. Auf der Fensterbank macht sich ein Dschungel aus Topfblumen daran, demnächst den Rest des Gebäudes zu erobern; die Regale ringsum sind übersät mit Notizzetteln, Cartoons, Zeitungsausschnitten, Sprüchen frecher Junger und weiser Alter, Termin-Memos, Comics. Das ist das Reich von Kirsten-Heike Pistel. In blauen Wohlfühl-Trainingshosen, weißen Tennissocken und bunten Birkenstocks an den Füßen, die braunen Haare energisch zusammengezopft, hinter der Brille die Augen beweglich und ein bißchen nervös, wippt sie, die Beine zu einem halben Schneidersitz gekreuzt, beinahe unmerklich doch stetig auf ihrem Stuhl vor und zurück.

Alltag

"Freundlich" und "konziliant" sind die beiden Wörter, die am häufigsten fallen, wenn man mit Siebkes Kollegen über ihn spricht. Rudolf Gobauer, Diplom-Ökonom am Alfred-Weber-Institut, findet nur lobende Worte für ihn: "Seine Vorlesungen sind bei den Studenten sehr beliebt", erzählt der Assistent, der meist die Übung zu Siebkes Vorlesungen leitete. "Er ist halt der konziliantere und freundlichere Mensch als ich. Wenn die Studenten ihn bitten, etwas noch einmal zu erklären, tut er dies ohne Widerspruch." Zweimal war Siebke schon Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, und mit deren Management habe er nie Schwierigkeiten gehabt, bescheinigen ihm die Ökonomen.

So etwa zehn Stunden jeden Tag verbringt sie in der Lauerstraße 1 wie in einem Zweitwohnsitz. Nur im Nebenberuf ist Kirsten Studentin, ihr Hauptberuf aber spielt sich hier ab, wo die FSK (Fachschaftskonferenz) residiert, um die Geschicke der Studis zum Guten zu wenden. Offiziell ist Kirsten "Referentin für Hochschulpolitik" der FSK, faktisch ist sie unverzichtbare Wissensquelle für fast alle Uni-Angelegenheiten, Mädchen für alles, Mutter der Kompanie.

Begegnung

10. Februar 1997, INF 684. Die Aula im Neuenheimer Feld hatte lange, sehr lange nicht solch eine Atmosphäre erlebt. Sprechchöre schallen von der Gästetribüne herunter, Transparente verkünden "Wir zahlen nicht" und die Redner am Pult sind kaum mehr wahrzunehmen. Hilfesuchende Blicke schweifen durch den Raum, als Reihen von Studierenden aus Protest um die Tische der völlig irritierten Senatsmitglieder tanzen, welche nur ihrer Pflicht nachkommen wollen: der Wahl des neuen Rektors, Jürgen Siebke.

Dessen erklärende Worte zur Hochschulpolitik werden von der Masse lärmend reflektiert. Seine dünne Fistelstimme, die seinem Auftreten kaum gerecht wird, erschwert es ihm, sich gegen das selbsternannte Volk durchzusetzen. Doch den Mangel an Lautstärke versucht er mit der Schärfe der Aussagen wettzumachen: "Sie können beruhigt sein, ich habe schon andere Zeiten erlebt."

Und so geht der neugewählte Rektor schließlich als Sieger, wenn auch als geschlagener, aus der Senatssitzung.

Gut vorbereitet wie immer stellt Kirsten dem angehenden Rektor als erste eine Frage : Wie er sich die angesprochene Straffung des Studiums denn genau vorstelle? Und schon hat sie eine Ungereimtheit in seinen Ausführungen entdeckt und stellt ihn mit flinken Worten zur Rede. Von der Tribüne wird sie mit Sprechchören angefeuert, während ihr Kontrahent Buh-Rufe erntet. Nach fast drei Stunden verläßt sie als gefeierte Verliererin die Sitzung.

Wunsch und Wirklichkeit

Wenn Siebke Besuch empfängt und über sein neues Amt plaudert, lösen sich Studiengebühren zu einer selbstverständlichen Nebensache der Welt auf, das sich mit einem einfachen, wirtschaftlichen Modell leicht erklären läßt, "strukturgerechte Umsetzung unvermeidlichen Ressourcenabbaus" wird zur Hausaufgabe für einen Rektor, der sich dazu schon die Ärmel hochgekrempelt hat, und studentischer Protest erscheint als eine ganz natürliche, wenn auch ungewollte Nebenwirkung der Hochschulpolitik. Einfach hat er es wahrlich nicht, denn er muß jetzt auslöffeln, was die Politik ihm eingebrockt hat. Das wenige, das ihm das Ministerium aufgetischt hat, soll er an seine hungrigen Kinder in der Universität austeilen, einigen sogar etwas wegnehmen; da bleibt ein unzufriedenes Knurren nicht aus, denn satt wird niemand werden. Doch Siebke ist zuversichtlich, seinen Schützling über die harte Zeit bringen zu können.

Die FSK, so Kirstens kokette Selbstbeschreibung, "macht das, was gesetzlich eigentlich gar nicht vorgesehen ist", nämlich die Vertretung der Studierenden in den Gremien in- und außerhalb der Uni. Die FSK sammelt Informationen zur Studiensituation und dient den einzelnen Fachschaften als Koordinierungsstelle. Zwar sitzt Kirsten selbst in einigen Gremien (z.B. Fakultätsrat, Senatsausschuß für die Lehre), doch ihr Job als Informationsbeschafferin ist wesentlich wichtiger: "Wenn sie sich zurückzieht, kommt für die FSK erstmal ein riesengroßes Loch", weiß ein FSKler. Das Schlimmste für Kirsten ist der nervige Kleinkram, der immer an dem hängenbleibt, der sich dafür verantwortlich fühlt: Reden verfassen, Mülleimer leeren, Schreiben eintüten und adressieren. "Kirsten kann sich nicht einfach zurücklehnen und die Dinge mal schleifen lassen, sie muß immer was tun", beschreibt ihr Freund Harald das typische Workaholic-Problem. Manchmal, so berichten WG-Mitbewohner, beginnt Kirsten mitten in der Nacht, ihre Pflanzen umzutopfen. Überhaupt sind ihr Pflanzen unheimlich wichtig, neben dem Lesen natürlich: viel über Linguistik, Philosophie, aber auch schöne Literatur und Lyrik von Albanien bis Zaire. "Mein Zimmer ist vollgestopft mit Büchern: all denen, die nicht mehr in ihr Zimmer passen", lacht Harald.

Alles begann vor zehn Jahren , als Kirsten sich in der Romanistik-Fachschaft engagierte, weil es keine Einführungen für Erstsemester gab. Über verschiedene Fachschaften kam sie schließlich zur FSK: "Wenn Du mal anfängst, zieht es Dich rein, weil Du die ganzen Hämmer live mitkriegst. Du bist einfach hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und Verzweiflung", erklärt Kirsten ihre Hingabe an die studentische Hochschulpolitik. Natürlicher - weil ranghöchster - Feind im Gremienkampf ist da der Rektor der Universität; mit Jürgen Siebke erlebt Kirsten jetzt schon den dritten nach Volker Sellin und Peter Ulmer.

Urteile und Vorurteile

Ein Ökonom, so sollte man meinen, ist genau derjenige, der in der jetzigen Situation als Rektor gebraucht wird. Die Meinung der Kollegen geht darüber eher auseinander. Während Wirtschafter, wie Gobauer, ihr Fach erwartungsgemäß hochhalten und der Ansicht sind, daß ein Ökonom weniger Fehler als andere machen werde, erachten die Prorektoren diesen Faktor als nebensächlich. Für den Mediziner Hartmut Kirchheim ist der Einsatz wichtiger, der Physiker Heinz Horner sieht einen Vorteil darin, daß Siebke im Wissenschaftsrat schon den Umgang mit Politikern geübt hat, und der Historiker Heinz-Dietrich Löwe schätzt mehr die Standfestigkeit sowie die Konzilianz Siebkes. Einig sind sich die drei auch in bezug auf die Atmosphäre im neuen Rektorat: "Kollegial" laufe es dort ab, gleich zu Beginn habe Siebke erklärt, daß er das Rektorat als "Arbeitsteam" verstanden wissen will. Zwar lasse sich nach einem Monat noch keine große Bilanz ziehen, und besonders gut kenne man sich untereinander auch noch nicht, aber alle sind "optimistisch", was ihre Zusammenarbeit angeht. "Mehr Kollege als Rektor" sei ihr neuer Chef, das bezeugen alle drei, wenn auch Löwe einschränkend hinzufügt, "klar ist schon, daß einer der Rektor ist". Auch Horner möchte nicht ausschließen, daß es mal zu einer Situation kommen kann, in der der Rektor, z.B. aus Zeitnot, alleine entscheiden muß. Auch eventuell auftretende Meinungsverschiedenheiten werden kein Problem sein, da er "offen für andere Meinungen ist". "Herr Siebke ist ein leiser Mensch, kein lauter", wägt er ab, und deswegen kann er sich zwar vorstellen, daß Siebke mal "bestimmt" werden kann, "aber nicht unfreundlich".

Siebkes Studenten sehen ihren Professor sehr viel kritischer. "In Fakultätsratssitzungen fährt er einem schon mal über den Mund", erzählt ein Fachschafter. Aber das größere Problem scheint für sie Siebkes Nichtbeachtung zu sein. So gehen die Einschätzungen von studentischer Seite und der der Kollegen auch sehr weit auseinander. "Man hat immer das Gefühl, daß er nicht gerne mit einem spricht, die Sprechstunde möglichst schnell beenden will", beklagt sich eine Studentin, ein anderer sagt, Siebke grüße nicht und habe sogar Angst vor ihnen. Solche Aussagen stoßen bei Kollegen aus dem Institut auf völliges Unverständnis: "Seine Sprechstunden sind immer voll; ich verstehe nicht, wie man zu solch einer Einschätzung kommt", schüttelt die Assistentin Switgard Feuerstein den Kopf. Als "Fehleinschätzung" interpretieren sowohl Gobauer wie auch Horner unabhängig voneinander diesen Eindruck: Es sei halt seine "norddeutsche, zurückhaltende" Art, die auf den ersten Blick als Ablehnung ausgelegt werden könne. "Ich kann gut verstehen, daß sein Auftreten falsch aufgefaßt werden kann", räumt Horner ein, auch wenn er meint, dies gebe sich nach dem ersten Kontakt. Gobauer vermutet indes bei den Studierenden noch ein anderes Interesse. "Einige kommen wohl nur zum Antichambrieren in seine Sprechstunde, um ihre Note aufzubessern", versucht er, auf wagemutige Art seinen ehemaligen Chef zu verteidigen. Siebke selber greift nicht so hoch wie seine beiden Verteidiger und wendet ein, er wünsche sich, daß mehr Studenten in seine Sprechstunde kämen. Daß er traurig und allein dort auf sie wartet, erfordert jedoch schon ein wenig Phantasie, und auch sonst macht er auf seinen Gesprächspartner nicht den Eindruck, als ob ihm nur noch Kaffee und Kuchen zu dem netten Schwätzchen fehlten. Schließlich ist Zeit gleich Geld, muß besonders ein ökonomisch geschultes Hirn denken.

Frustrierender Start

Doch sind für Kirsten nicht die Rektoren das Problem, sondern das gernzitierte "System". Die Rektoren kommen und gehen, doch an der Geringschätzung der Gremien für die Studierendenvertreter habe sich bis heute nur wenig verändert: "Da stehe ich dann als Frau vor vierzig bornierten C4-Professoren und werde abschätzig gemustert." Als ob die Fachschaften eine Rotte Langhaariger seien, die sich hinstellen und 'Ho Tschi Minh!' rufen. Niederschmetternd sei das gewesen, frustrierend bis hin zu Magenkrämpfen. Für einen Computer mußte man damals Go-Ins im Rektorat veranstalten, das für die Forderung keinerlei Verständnis hatte: "Wie Computer?? Sie haben doch eine Schreibmaschine!"

Ihr Vorteil dabei: "Ich habe selten große Erfolge erwartet." Wenn sie so über Hochschulpolitik redet, glaubt man ihr das sofort: Ein düsteres Bild entsteht da, bevölkert von engstirnigen Professoren, machtversessenen Karrieristen und kriechenden Bücklingen - Kirsten klingt felsenfest überzeugt von der Schlechtigkeit der Welt. Doch schimmert auch immer wieder ein wahnsinniger Glaube an die Möglichkeit der Veränderung durch. Ungerechtigkeiten bringen sie auch nach zehn Jahren Kampf im Gremiendschungel noch in Rage: "Ich glaube nicht, daß Kirsten heute weniger idealistisch ist als früher", meint Harald. Und schließlich kann man bei der FSK ja auch schon mit berechtigtem Stolz auf einige Erfolge verweisen, die zwar meist wenig spektakulär, dafür aber umso greifbarer sind: Hier mal ein Übersetzungskurs mehr, dort eine etwas studierendenfreundlichere Prüfungsordnung - mühsam nährt sich das Eichhörnchen. In den Gremien sucht Kirsten (und die FSK) bewußt einen pragmatischeren Weg als die Studentenbewegung der 68er. Ihr Credo: Durch die sachorientierte Kärrnerarbeit an der Basis geht zwar viel von der ideologischen Schärfe verloren, aber anders erreicht man gar nichts.

Programm und Protest

Leise Töne, große Forderungen. "Allgemeine Studiengebühren", sagt Siebke, "stehen zwar noch nicht vor der Tür", aber umso vehementer tritt er dafür ein. Auf dessen Höhe legt er sich noch nicht genau fest, denn die könne sich auch nach dem Studiengang richten, aber wichtig ist ihm, daß ein Finanzierungssystem daran gekoppelt ist: Stipendien und Darlehen, auch durch Bürgschaften abgesichert, sollen soziale Härten abfedern. Mit Ausnahme von Löwe, der "das Mittel von Studiengebühren nur ungern anwenden" und sich noch nicht festlegen möchte, schwimmen die Prorektoren im selben Fahrwasser wie ihr Chef, auch wenn sie noch strenger auf eine soziale Abfederung als Bedingung pochen.

In einem anderen Punkt hat Siebke die volle Unterstützung seiner Prorektoren: Mehr Autonomie für die Hochschulen, sowohl im finanziellen als auch im strukturellen Bereich, z.B. bei der Auswahl von Studienbewerbern, fordern alle im Einklang. Eine Straffung des Studiums sehen bis auf den Mediziner Kirchheim alle als notwendig, auch wenn die Wege dazu auseinandergehen. Während Siebke wenig vom Credit-Point-System hält und das jetzige deutsche System der abschließenden punktuellen Prüfung vorzieht, sind die Prorektoren gespalten. "Jeder Student ist unterschiedlich gelagert und zieht verschiedene Systeme vor", argumentiert Löwe, während Kirchheim für eine studienbegleitende Leistungsbewertung eintritt.

Beim Thema Studiengebühren kann sich Kirsten schon erhitzen. "Das Land will doch einfach seine Kasse füllen. Wenn hinter Siebkes Modell ein Konzept stünde, würde er es nicht gerade jetzt fordern", überschlägt sich ihre Stimme. Ihr Argument: Durch Studiengebühren wird der Zugang zu einem gesellschaftlich wichtigen Bereich beschränkt. Die alte Weisheit 'Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser' lodert in ihrem Unterbewußtsein auf, wenn sie sich mehr Freiheit für die Universitäten vorstellt. "Dadurch würde die studentische Mitwirkung ganz wegfallen. Jetzt kontrolliert wenigstens das Parlament", läßt sie nicht gerade Optimismus aus sich sprechen. Wenigstens in bezug auf das Credit-Point-System, das sie allerdings nur unter einigen Bedingung befürwortet, hat sie einen Verbündeten in ihrer Gegnerschaft, den Mediziner Kirchheim.

Opposition und Kooperation

"Natürlich besteht die Gefahr, Teil des Systems zu werden, sich mit kleinen Zugeständnissen kaufen zu lassen, während sich im Großen nichts ändert", befürchtet Kirsten. Deshalb hat sie viel über die Taktik in der Gremienarbeit gelernt, auch, daß vieles vor oder nach den eigentlichen Sitzungen besprochen wird - es fällt das Wort "Mauschelei", an der man schon mal teilnehmen müsse, wenn man etwas erreichen wolle.

Das fällt jemandem wie ihr, einer zierlichen, doch energischen Person voller Kampfgeist und hundertfünzigprozentig von ihrer Sache überzeugt, natürlich besonders schwer zu akzeptieren. Wie ein schallgedämpftes Maschinengewehr feuert sie jetzt Satz für Satz ab, redet so schnell, daß sie sich oft verhaspelt; man merkt, wie wichtig ihr das jetzt ist: "Das Ärgerlichste ist die Diskrepanz zwischenöffentlichem und privatem Auftreten vieler Professoren. Im privaten Gespräch relativieren viele ihre Meinung, die sie in Gremien vertreten."

Ein Kompliment, welches die Gegenseite gerne zurückgibt. Prof. Dr. Norbert Greiner, bis zum letzten Semester einer der Prorektoren, der selbst unter anderem im Senatsausschuß für die Lehre sitzt und seit vier Jahren mit Kirsten-Heike Pistel zu tun hat, beklagt: Während Kirsten im Privattalk eine "sehr angenehme Gesprächspartnerin" sei, könne man bei ihren Auftritten in den Gremien "eine gewisse Verbissenheit nicht wegreden." Dort sei sie oft "extrem ideologisch und glaubt, eine bestimmte Rolle spielen zu müssen".

Lob vom Gegner

Überraschenderweise ist dies jedoch auch schon der einzige Kritikpunkt, der Greiner zu Kirsten einfällt. Ansonsten ist der Mann von der "Gegenseite" des Lobes voll, attestiert ihr "sehr große Bildung, sowohl in der Tiefe als auch in der Breite" und außerordentliche Informiertheit - "oftmals besser als alle übrigen Sitzungsteilnehmer." Vor allem aber hält Greiner Kirsten für "eine der ganz, ganz wenigen wirklich engagierten Studenten. Sie paßt überhaupt nicht in das gängige Vorurteil, Studenten seien entweder nur an einem lässigen Leben oder an einer schnellen Karriere interessiert. Das hat mir bei ihr immer sehr imponiert."

Und Greiner ist durchaus nicht der einzige von Kirstens Gegenspielern in den Gremien, der voller Achtung und Respekt von ihr spricht: "Ich schätze sie sehr. Sie ist engagiert und intelligent und stellt in den Gremien wichtige Fragen, die sonst keiner stellen würde", meint Prof. Dr. W. Kühlmann, Dekan der Neuphilologischen Fakultät. Achtung und Anerkennung also auch von den institutionellen "Gegnern" - in der Sache streiten, im Persönlichen fair bleiben - genau das möchte auch Kirsten: "Viele Professoren akzeptieren auch andere Meinungen. Das Problem allerdings sind die ohne Meinung, die nur gucken, was der Chef sagt."

Als Langzeitstudentin müßte Kirsten ab dem nächsten Wintersemester tausend Mark Studiengebühren zahlen, doch demnächst will sie eh ihr Studium abgeschlossen haben. Was dann? Eine Antwort darauf könnte die GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) sein: Seit fast vier Jahren arbeitet Kirsten dort mit, sitzt inzwischen im Landesausschuß für die Studierenden - also eine fast geradlinige Weiterführung der FSK-Aktivität. Es gibt also doch ein Leben nach der FSK!

Epilog mit Händeschütteln

Die Veranstaltung ist vorbei, die Teilnehmer zerstreuen sich langsam. Da wird sie plötzlich von hinten angesprochen - der Rektor hat Kirsten erspäht und wechselt schnell noch ein paar Worte mit ihr.
Das tut er ganz locker und unverkrampft; ganz so, wie der Präsident es sich von uns allen wünscht. Vom vorherigen Rektor Peter Ulmer ist sie dies weniger gewöhnt, doch das Händeschütteln und die kurze Plauderei mit dem "Chef" mal so nebenbei wird auch ihr noch vertraut werden. Immerhin ist dies erst der Beginn einer neuen Beziehung. (gz, kw)


Bei Anruf Trost

Studis helfen Studis in der NIGHTLINE Heidelberg

Schwermütig murmelt das Plakat: "Nachts, wenn Dir die Decke auf den Kopf fällt...", und ein paar winzige Sternchen torkeln verloren im unendlichen Dunkel des Alls herum. Eine bedrückende Situation für einen kleinen Stern, aber genauso fühlt man sich vielleicht, wenn der Klausurenstreß mal wieder gnadenlos zuschlägt oder der Partner nichts mehr von einem wissen möchte oder man einfach nur mal wieder das Gefühl hat, das völlig Falsche zu studieren.

Hilfe verspricht in solchen und vielen anderen Situationen die Nummer auf dem Sternenplakat: Heidelberg 184708 - die NIGHTLINE. Als "Sorgentelefon" für schlaflose Nächte und "Punchingball", um aufgestauten Frust abzureagieren, verstehen sich die studentischen Macher der fernmündlichen Lebenshilfe. Knapp 30 StudentInnen arbeiten ehrenamtlich für NIGHTLINE; zu Beginn jedes Semesters organisiert die Einrichtung eine Schulung durch einen Psychologen, wo die Nightliner auf ihren Einsatz am Hörer vorbereitet werden.

In diesem Sommer feierte NIGHTLINE zweijährigen Geburtstag. Damals brachten Heidelberger Studenten die Idee für das Sorgentelefon aus Oxford mit, wo man schon mehrere Jahre lang gute Erfahrungen damit gemacht hatte. 1996 wurde die Heidelberger NIGHTLINE mit dem Preis des Vereins der Freunde und Förderer der Universität Heidelberg ausgezeichnet; Folgeprojekte starteten in Stuttgart und Tübingen.

Trotzdem ist ein Hauptproblem der NIGHTLINE ihr niedriger Bekanntheitsgrad, obwohl die Einrichtung seit ihrem Bestehen mit Handzetteln und Plakaten auf sich aufmerksam gemacht hat.

Der große Vorteil des Konzepts NIGHTLINE ist, daß beide Gesprächspartner - Ratsuchender und Ratgebender - Studenten sind, sich also auf derselben Ebene befinden. Der NIGHTLINE-Mitarbeiter kennt die Probleme des Anrufers, war vielleicht schonmal in der gleichen Situation. Beide bleiben selbstverständlich anonym; es ist, so ein beliebter Vergleich der NIGHTLINE-Betreuer, als ob man während einer Zugfahrt mit einem Unbekannten ins Gespräch kommt, mit ihm Ängste und Freuden teilt - bis er schließlich aussteigt und man bemerkt, daß man noch nicht einmal seinen Namen weiß.

Bei NIGHTLINE (06221/184708) anrufen kann man Mo, Mi und Fr von 21.00 bis 2.00 Uhr. Neue Mitarbeiter sind herzlich willkommen. (kw)


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