Gleich vier Ereignisse, die für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung sind, fanden an einem 9. November statt: Die Revolution von 1918/19, die das Ende des Kaiserreiches einläutete, Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle 1923, die Reichspogromnacht 1938 und die Öffnung der Mauer 1989 als Ausgangspunkt für den Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik sowie für die Wiedervereinigung.
Die Übereinstimmung der jeweiligen Daten erscheine auf den ersten Blick nur zufällig. Besonders zwischen den ersten drei Daten bestehe aber ein Zusammenhang, sagte Mommsen. Hitlerputsch und Judenpogrom seien als Gegenaktionen zur Revolution von 1918/19 zu werten. In allen drei Fällen sieht Mommsen den "obrigkeitsstaatlichen Legalitätsfetischismus als Grundmuster".
Prof. Dr. Hans Mommsen gilt als einer der profiliertesten deutschen Historiker, dessen Hauptarbeitsgebiete die Geschichte der Arbeiterbewegung, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus umfassen. 1930 in Marburg geboren, führte er die Tradition der "Historikerfamilie" mit seinem Zwillingsbruder Wolfgang J. Mommsen fort. Nach dem Studium der Geschichte, Germanistik und Politischen Wissenschaft in Marburg und Tübingen promovierte er 1959 und kam später zu Werner Conze an die Universität Heidelberg. Hier habilitierte er sich über das Thema "Beamtentum im Dritten Reich". Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1996 lehrte er an der Ruhr-Universität Bochum und tat sich als streitbarer Geist immer wieder durch kontroverse Positionen hervor: so etwa im Historikerstreit oder in der Goldhagen-Debatte. Neben seinen zahlreichen Aufsätzen und Essays ist er besonders durch seine Erforschung des Reichtagsbrandes einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden.
ruprecht sprach nach dem Vortrag mit dem Historiker.
ruprecht: Herr Prof. Dr. Mommsen, welcher 9. November hat Ihrer Ansicht nach die deutsche Geschichte am stärksten geprägt?
Mommsen: Die Novemberrevolution von 1918 bis 1920.
ruprecht: Welche Gründe gibt es dafür? Warum nicht die Revolution von 1989 als vielleicht "geglücktere" Revolution?
Mommsen: Zunächst einmal wegen der Beendigung des Wilhelminischen Systems und auch wegen dem - jedenfalls als Anspruch vorhandenen - strukturellen Wandel des Kaiserreichs. Jedenfalls gemessen an den drei anderen 9. Novembern, über die wir hier sprechen, ist das schon sehr wichtig.
ruprecht: Sie haben gesagt, daß zwischen den ersten drei 9. Novembern insofern ein Zusammenhang besteht, als in allen Fällen ein "obrigkeitsstaatlicher Legalitätsfetischismus" eine wichtige Rolle spielte. Was genau verstehen Sie darunter? Und inwiefern unterscheidet sich der 9. November 1989?
Mommsen: In der Reaktion der Mehrheitssozialdemokraten 1918 ist die Tendenz, so früh wie möglich zur Legalisierung der Revolution überzugehen, sehr deutlich. Dies hatte dann einen konterrevolutionären Effekt, der von Friedrich Ebert sicherlich nicht intendiert war, sich aber dann so ausgewirkt hat, so daß eigentlich das Festhalten an legalistischen Formen die Gegenrevolution der Freikorps erst wirklich ermöglichte. Hier tritt uns die Problematik der Dialektik von Legalismus und Gewalt entgegen.
Das taucht auch in der Situation von 1923 wieder auf, allerdings unter anderem Vorzeichen: Zwar lehnt man den revolutionären Bruch, den Hitler mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle ansetzt, ab. Man akzeptiert aber gleichzeitig die Motivation im Hinblick auf die deutsche herrschende Staatstradition und stellt dann in den anschließenden Prozessen die Fiktion der Legalität wieder her, so daß Hitler 1933 "legal" an die Macht kommen konnte.
ruprecht: Und im dritten Fall?
Mommsen: Im dritten Fall, der Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung nach dem 9. November 1938, ist eben charakteristisch, daß die wilden Aktionen in der Nacht vom 9. November abgelehnt wurden, weil sie nicht legalisiert waren. Aber die wahrscheinlich in ihrer Wirkung schlimmeren Maßnahmen der Inhaftierung von 26.000 deutschen Juden am folgenden Tage wurden als legal akzeptiert. Das deutet darauf hin, daß der Begriff der Legalität vollkommen formalisiert war, so daß die Ausnutzung der Legalität durch die Nationalsozialisten zur Durchsetzung der Diktatur so erfolgreich sein konnte.
ruprecht: Was war am 9. November 1989 anders?
Mommsen: Für die Ereignisse nach dem 9. November 1989 - wobei das Datum an sich etwas fragwürdig ist, denn der 9. November war nur der Ansatzpunkt für die Auflösung der DDR - gilt: Diese sind dadurch charakterisiert, daß von seiten der Kräfte der "friedlichen Revolution" keine gewaltsamen Mittel notwendig waren, um das Gebilde der DDR zum Einsturz zu bringen. Insofern ist dann der handlungshemmende Faktor Legalität für die friedliche Revolution nur bedingt wirkungsvoll geworden.
ruprecht: Heißt das andersherum, daß, wenn andere als friedliche Mittel notwendig gewesen wären, die Revolution so nicht stattgefunden hätte?
Mommsen: Ja. Es war im Grunde eben auch keine Revolution im Sinne der wirklichen, kraftvollen Durchsetzung von Zielen - notfalls mit den Mitteln der Gewalt. In der Tat möchte ich den Begriff der "friedlichen Revolution" hinterfragen. Einerseits stellt die Gewaltfreiheit einen außerordentlich positiven Faktor dar, anderseits war der Kult der Gewaltfreiheit Ausdruck einer gewissen Schwäche. Dies hat ja dann auch dazu geführt, daß es keine Volksjustiz gegen die kommunistischen Machthaber gegeben hat, sondern man sich auf das rechtsstaatliche Instrumentarium der alten Bundesrepublik verlassen hat - mit dem Ergebnis, daß nicht eben sehr viel geschehen ist.
ruprecht: Sie haben in Ihrem Vortrag angedeutet, mit der Revolution von 1989 habe sich ein 1918 begonnener "Kreis" geschlossen
Mommsen: ...das war natürlich eher eine rhetorische Formel. Allerdings kann man sehr wohl sagen, daß am 9. November 1918 der Versuch der Durchsetzung des parlamentarisch-demokratischen Systems in Deutschland begann, und daß diese Durchsetzung im großen historischen Sinne am 9. November 1989 ihren Abschluß fand.
ruprecht: Inwiefern ist es überhaupt sinnvoll, solche "Zahlenspielchen" in der Geschichte zu betreiben? Wird da nicht dem 9. November als "Schicksalsdatum deutscher Geschichte" eine Bedeutung zugeschrieben, die er als Tag an sich gar nicht hat?
Mommsen: Das ist natürlich nicht sinnvoll. Aber die Leute interessieren sich dafür, wie unter anderem das Interesse an dem Vortrag zeigt.
ruprecht: Stellen die vier 9. November, über die Sie gesprochen haben, überhaupt einen repräsentativen Querschnitt durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts dar? Kann man an diesen vier Daten die deutsche Geschichte "aufhängen"?
Mommsen: Man kann alles, aber ich meine, daß auch etwa der 30. Januar 1933 nicht ganz ohne Bedeutung ist - und der lag nun mal nicht im November.
ruprecht: Auch die alte Bundesrepublik käme in der Reihe der vier 9. November gar nicht vor.
Mommsen: Die alte Bundesrepublik ist ebenso eine Gründung, die nicht der gewaltsamen Ausräumung eines Gegners bedurfte. Sie fiel sozusagen den demokratischen Kräften in der Bundesrepublik kampflos zu, wie das in den anderen Fällen auch der Fall war.
Aber in der Tat haben diese Datenspiele ihre Grenzen, man sollte sie nicht übertreiben. Allerdings lag es nahe, einmal den Versuch zu wagen, die Dinge miteinander in Beziehung zu setzen. Das ist natürlich keine endgültige und in jeder Weise verbindliche Methode.
ruprecht: Es gibt immer wieder die Forderung, den 9. November zum Nationalfeiertag zu erheben.
Mommsen: Das halte ich für keine gute Idee. Ich denke, der Vortrag hat gezeigt, daß mit dem Datum zu viele Widersprüche verbunden sind.
ruprecht: Viele Menschen halten den 3. Oktober als Nationalfeiertag für ahistorisch...
Mommsen: ...das stimmt, der 3. Oktober ist ebenso überflüssig.
ruprecht: Welches Datum würden Sie vorschlagen?
Mommsen:
Warum nehmen wir nicht den 11. August, das Datum der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung 1919. Das wäre doch nicht so schlecht, außerdem haben die Schüler da Ferien.
ruprecht: Wenn Sie den "Legitimitätsfetischismus" der Deutschen beschreiben, klingt das beinahe, als würden Sie es ein wenig bedauern, daß die Deutschen in ihren Revolutionen nicht manchmal etwas gewaltsamer oder radikaler waren.
Mommsen: Da ist etwas Wahres dran. Lassen Sie es mich, bezogen auf die Revolution von 1918, einmal so ausdrücken: Den Arbeitern, die da streiken und dabei auch bestimmte legale Grundlagen verletzen, die werden unter dem Banner dieser Legalität niedergeschossen, inhaftiert und mit extremen Zuchthausstrafen bedroht. Doch die politische Rechte, die Gewalt im Namen dieser Legalität verübt, wird nicht bestraft. Das heißt: Das Ganze stimmt nicht. Die pauschale Verdammung von Gewalt als illegal, die dahintersteht, kann doch nicht die Schlußfolgerung erlauben, daß nur Nichtgewaltanwendung legal ist.
ruprecht: ...eine gewagte Formulierung.
Mommsen: Wenn man über den Legalitätsfetischismus in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts selbständig schreiben will, würde man das natürlich etwas systematischer entwickeln. Doch gerade dieser Aspekt des "Legalitätsfetischismus" zeigt eine gewisse Gleichartigkeit der Konstellationen.
ruprecht: Bedeutet das nicht, daß sich totalitäre Regime wiederholen könnten, solange sie unter dem Deckmantel der Realität daherkommen?
Mommsen: In Deutschland leider ja. In Deutschland schaffen Sie das aber auch ohne totalitäre Herrschaft. Wenn Sie die Kriminalisierung der RAF als Beispiel nehmen - das ist ein klassischer Fall. Da wird jemand nicht mehr als politischer Gegner deklariert, sondern als Verbrecher. Damit löst man den Wertekonflikt, das ist die deutsche Tendenz. Diese Form des Legalitätskults verdeckt, wie ich glaube, eine staatlich-autoritäre Willkür.
ruprecht: In welchen Ländern herrscht denn eine Form der politischen Auseinandersetzung, die Sie bevorzugen würden?
Mommsen: Da fiele mir England ein. Aber das kann man nicht verallgemeinern, das hängt stark von der spezifischen Problematik ab. Aber in Deutschland ist die Verkleidung von Gewalt mit legalistischen Tarnungen besonders weit verbreitet.
ruprecht: Herr Prof. Dr. Mommsen, wir bedanken uns für das Gespräch. (ab, kw)
Ein Auszug des Vortrages erschien am 10. November in der SZ.