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Interview


"Die arme Edith Cresson!"

ruprecht sprach mit Alfred Grosser über das Kosovo, Deutschland und die EU

Alfred Grosser gehört seit Jahrzehnten zu den angesehensten europäischen Politikwissenschaftlern und lehrte bis 1990 am Pariser Institute d'etudes politiques. Der 1925 in Frankfurt/Main geborene und 1933 mit seiner Familie nach Frankreich emigrierte Sohn jüdischer Eltern hat sich nachhaltig für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt. Dafür erhielt er 1975 den angesehenen Frie- denspreis des deutschen Buch- handels. In Deutschland ist Grosser, der sich auch als Publizist einen Namen gemacht hat, vor allem durch Fernsehkommentare, Artikel in verschiedenen Zeitungen und sei- ne Bücher bekannt. Er ist ein exzellenter Deutschland- und Europa-Kenner, der sich selbst als einen "europäischen Franzosen" bezeichnet.

ruprecht: Herr Professor Alfred Grosser, das alles beherrschende Thema zur Zeit ist der Konflikt im Kosovo. Sind Ihrer Meinung nach die Luftangriffe der NATO gerechtfertigt?

Grosser: Gerechtfertigt ja, ob nützlich, das weiß ich noch nicht. Gerechtfertigt sind sie aber völlig, und das auch im Sinne der Grundethik der Bundesrepublik. Das hat Volker Rühe gesagt, das hat Rudolf Scharping gesagt. Lesen Sie dazu den Tagesbefehl von Scharping vom 27. Januar, der darauf anspielt. Beachten Sie auch, was Roman Herzog völlig zu Recht in einem Spiegel-Interview gesagt hat: Man kann nicht immer nur von Menschenrechten sprechen und dann wegsehen, wenn sie vergewaltigt werden. Was ich in Deutschland nicht verstehen kann, vor allen Dingen eher links, das ist, wenn gesagt wird, man muß pazifistisch sein, dann würde Hitler immer noch regieren.

ruprecht: Sie finden also, daß der Schutz der Menschenrechte den Bruch des Völkerrechts, der der NATO häufig vorgeworfen wird, rechtfertigt?

Grosser: Die Frage ist doch: Hätte man seit 50 Jahren dem Westen nicht vorwerfen sollen, daß alle weggesehen haben, wie Hitler Massenmord betrieb? Hätte nicht jemand ein Wort sagen sollen? Natürlich konnte man militärisch nicht eingreifen. Wäre es zum Beispiel völkerrechtlich gerechtfertigt gewesen, wenn Frankreich in Deutschland einmarschiert wäre, nachdem Hitler das linke Rheinufer besetzt hatte? Völkerrechtlich nein, aber es hätte vielleicht den Weltkrieg verhindert! Also ich finde auch, es ist im Fall Kosovo zumindest teilweise völkerrechtlich gerechtfertigt. Man kann das so deuten, daß die UNO doch eine Erlaubnis gegeben hatte, und man wußte, daß es jetzt keine neuere Erlaubnis geben würde, weil Rußland aus slawischer Solidarität sein Veto eingelegt hätte. Und man kann nicht wieder das Glück haben, das Amerika 1950 gehabt hat, daß nämlich der sowjetische Vertreter den Sicherheitsrat gerade boykottierte, als man über den Koreakrieg abgestimmt hat.

ruprecht: Glauben Sie, daß es in der öffentlichen Meinung über den Kosovo-Krieg Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich gibt?

Grosser: Es gibt eine große Gemeinsamkeit, nämlich die der Intellektuellen, die versuchen, sich selbst eine Statur zu geben, indem sie ganz historische Sachen sagen, als gäbe es da eine einfache Wahrheit. Bei uns in Frankreich ist das noch schlimmer, aber auch bei Ihnen in Deutschland gibt es die Intellektuellen, die sich mit kategorischen Stellungnahmen hochspielen. Sie haben eine Ausnahme, der total für die Serben Stellung nimmt: Peter Handke. Wir haben keinen Peter Handke, wir haben nur Kritiker der Intervention im Namen des Völkerrechts. Aber wir haben, glaube ich, zur Zeit in Frankreich niemanden, der sagt: Die armen Serben!

ruprecht: Um bei den deutsch-französischen Unterschieden zu bleiben: Wie beurteilen Sie die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Machtwechsel in Bonn?

Grosser: Sie haben einen wunderbaren Außenminister, der bei uns seit Anfang an sehr gut ankommt, sie haben einen hervorragenden Verteidigungsminister, und jetzt wird der Kanzler langsam jemand.

ruprecht: Sie glauben also nicht, daß sich an dem besonderen Verhältnis der beiden Staaten mit dem Abtritt Helmut Kohls etwas geändert hat?

Grosser: Es hat sich schon etwas geändert, nämlich mit dem Ende der schlechten Beziehungen zwischen Kohl und Chirac. Wobei Kohl recht hatte, daß man plötzlich unbedingt einen Franzosen an der Spitze der Europäischen Zentralbank wollte, war irrsinnig. Ebenso, daß man in Bonn überhaupt nicht ankündigte, daß man in Frankreich den Militärdienst abschafft. Es gab da also eine ganze Reihe von Verstimmungen zwischen Deutschland und Frankreich unter Kohl. In diesem Sinne war es also auch vorher keine perfekte Freundschaft. Es ging gut zwischen Kohl und Mitterand, aber belogen und betrogen haben sich alle großen Paare, auch Adenauer und Schuman. Wenn Jean-Marie Le Pen bei uns Regierungschef würde und Trittin bei Ihnen, dann würde es trotzdem gute deutsch-französische Beziehungen geben. Aber lassen wir Jean-Marie Le Pen - es ist zu furchtbar. Und wenn hier viel gesagt wurde, es gibt eine große deutsch-französische Auseinandersetzung über die Atomenergie: Am Wahlabend habe ich hier im Fernsehen gesagt: Das ist doch uninteressant, es gibt zuerst einmal die Auseinandersetzung innerhalb des deutschen Kabinetts. Wenn der Wirtschaftsminister jemand ist, der aus der Energiewirtschaft kommt, ist der Konflikt mit Trittin bereits vorgeplant. Und danach werden wir erst sehen, wie es zwischen Deutschland und Frankreich weitergeht.

ruprecht: Hat der Rücktritt von Oskar Lafontaine in Frankreich Erleichterung ausgelöst?

Grosser: Er war näher an Frankreich als Schröder, aber in der Wirtschaftspolitik ist unser Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn Schröder näher als Lafontaine. In diesem Sinne war der Rücktritt also für die deutsch-französischen Beziehungen keine Katastrophe, nur daß Lafontaine in Saarbrücken sitzt, und Saarbrücken liegt näher an Frankreich als Hannover.

ruprecht: Sie glauben also, daß Strauss-Kahn eher mit Schröder auf einer wirtschaftspolitischen Linie liegt, als mit Lafontaine?

Grosser: Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Frankreich eine wunderbare polit-satirische Sendung, da fragte neulich der Puppen-Journalist den Dominique Strauss-Kahn: Also, was sie da machen, das ist doch nicht links. Was ist denn eigentlich für Sie links? Die Antwort war: Es ist die elegante Art, Scheich zu sein. Und das trifft auch auf Schröder zu, genauso wie auch auf Strauss-Kahn.

ruprecht: Glauben Sie, daß sich die deutsche Außenpolitik durch den Übergang zur sogenannten "Berliner Republik" verändern wird?

Grosser: Ich bekämpfe sehr den Begriff "Berliner Republik", außer in einem Sinne: Daß der restliche Teil der Bundesrepublik entdeckt, daß es einen östlichen Teil gibt. Was viele Westdeutsche bis jetzt ja noch nicht getan haben. Ich sage immer meinen französischen Freunden, die Freunde in Deutschland haben: Ihr wißt nichts von Ostdeutschland, denn Ihr trefft Eure alten westdeutschen Freunde, die auch nichts von Ostdeutschland wissen.

Aber sonst mag ich den Begriff Berliner Republik überhaupt nicht. Es gab übrigens nie eine Bonner Republik; es gab eine Bonner Demokratie, und das hatte einen Sinn. Und diese Bonner Demokratie wird es weiterhin in Berlin geben.

ruprecht: Sie halten die Bezeichnung "Berliner Republik" also nicht für gerechtfertigt?

Grosser: Der Begriff Berliner Republik ist nur dann gerechtfertigt, und das hat Wolfgang Thierse in seiner Eröffnungsrede als Bundestagspräsident hervorragend formuliert, wenn man damit ausdrücken möchte, daß die Ostdeutschen 45 Jahre lang nicht dasselbe Leben geführt haben. Wenn ich hier in ein Gymnasium gehe und die Schüler frage: ,Wart ihr schon mal in Frankreich?', lautet die Antwort: ,Aber natürlich!' Und das nicht nur hier in Heidelberg, sondern auch in Hannover. Wenn ich aber frage: ,Wart ihr schon mal in Dresden?', heißt es: ,Nö, wieso'? Wirtschaftlich geht es dagegen viel besser: Heute finde ich in der Süddeutschen Zeitung eine Tabelle: Die Löhne sind jetzt beinahe angeglichen, der geistige Graben jedoch ist tiefer als noch vor zwei, drei Jahren.

ruprecht: Europa scheint momentan in einer Krise zu stecken. Der Rücktritt der Kommission, die verwässerten Reformen der Agenda 2000 und die Diskussion um die Osterweiterung belasten das Bündnis. Erwarten Sie vom Ausgang der Europawahlen im Juni eine Stärkung der anti-europäischen Kräfte?

Grosser: Europäisch sind sie alle, sogar Stoiber. Er hat ja auch für den Euro gestimmt. Ich finde, die Krise hat das Europäische Parlament sehr gestärkt. Es ist sehr demokratisch, daß es gestärkt hervorgegangen ist. Der bestmögliche Mann wird Präsident der Kommission, er wird der Nachfolger von Jaques Delors, dazwischen hat es niemand gegeben. Nur muß sich die Bundesrepublik dann auch entscheiden, Kommissare zu schicken, weil sie gut sind, und nicht, weil man sie in Bonn nicht mehr will.

ruprecht: Dieser Vorwurf gilt aber doch wohl auch für einige andere Mitgliedsstaaten?

Grosser: Nein, in Frankreich etwa sind das Leute, die waren Premierminister, dann Kommissar, dann wieder Minister...

ruprecht: Aber Edith Cresson hat die Krise doch erst ins Rollen gebracht!

Grosser: Die arme Edith Cresson! Was sie getan hat, war keine persönliche Bereicherung, sondern sie hat Dinge gemacht, wie sie jeder französische Politiker tut. Nur nimmt man das in Deutschland ernster. Hier muß die Vorsitzende der FDP-Fraktion in Berlin zurücktreten, nur weil sie auf Kosten der Fraktion beim Frisör gewesen ist. Da gäbe es bei uns gar keine Politiker mehr, beziehungsweise keine Politikerinnen!

ruprecht: Sie sind in Frankfurt geboren, sehen sich aber selbst als Franzose?

Grosser: Ich bin Franzose! Das ist in Frankreich - Gott sei Dank anders als in Deutschland. Ich bin Franzose, weil ich französischer Bürger bin. Aber man ist Deutscher, weil man deutsche Großeltern gehabt hat. Glücklicherweise verschwindet das Völkische langsam aus Ihrer Gesetzgebung. Aber es ist noch immer da. Das finde ich besonders katastrophal zu einer Zeit, wo das völkische Denken Mittel- und Osteuropa zerreißt. Wir müssen da ein Beispiel geben, das eben nicht völkisch aufgebaut ist.

ruprecht: Ist das für sie ein wichtiger Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Identität?

Grosser: Das ist der Hauptunterschied. Ich habe einen Freund in der Bretagne, der ist Bürgermeister einer kleinen Stadt und sozialistischer Abgeordneter, der ist pechrabenschwarz und er ist Togolese. Aber er ist eben auch Franzose. Er ist ein togolesischer, bretonischer Franzose. Das ist überhaupt kein Problem. In Deutschland wäre er wohl nicht Bürgermeister.

In Deutschland wird Herr Özdemir nicht Ausländerbeauftragter, weil er türkischer Herkunft ist. Da hat er ganz richtig gesagt, daß dann auch keine Frau Frauenbeauftrage werden darf.

ruprecht: Cem Özdemir ist aber in erster Linie an der Frauenquote seiner Partei gescheitert.

Grosser: Das ist eine der erstaunlichsten Erscheinungen in Deutschland: Die Partei, die am meisten für Freundlichkeit und Menschenliebe eintritt, bringt untereinander eine Möglichkeit des Hasses auf, die sogar stärker ist als bei der CDU.

ruprecht: Herr Professor Grosser, wir danken Ihnen für das Gespräch.

(alt, ab)


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