ruprecht: Am 13. Juni wird in Deutschland ein neues Europäisches Parlament gewählt. Vielfach ist den Leuten jedoch gar nicht klar, was genau das Europaparlament eigentlich macht. Was sind für Sie die wichtigsten Aufgaben des Europäischen Parlaments?
Neunreither: Das Europaparlament hat ja bis in die Mitte der 80er Jahre ein Schattendasein geführt. Es war zunächst ein nicht gewähltes Parlament. Seit 1979 gibt es die direkte Wahl, die jedoch nicht zu vermehrten Befugnissen geführt hat. Das Parlament hatte damals einige Rechte im Bereich des Haushalts, aber nur eine sehr schwache Mitwirkung im Gesetzgebungsbereich. Ende der 80er Jahre änderte sich das schrittweise. Heute haben wir ein Verfahren der Mitentscheidung, bei dem das Parlament in weiten Bereichen der EU-Gesetzgebung gleichberechtigter Partner mit dem Ministerrat ist - quasi ein Zweikammersystem.
ruprecht: Gibt es denn Initiativen des Europaparlaments, diese demokratischen Mitbestimmungsrechte noch weiter zu verstärken?
Neunreither: Es gibt da zwei Ziele: Erstmal die Mitwirkung an der Gesetzgebung noch weiter auszubauen - das heißt, dieses Verfahren der Mitentscheidung so zu erweitern, daß alle Gesetzesbereiche wie in zwei gleichwertigen Kammern behandelt werden. Zweitens den Einfluß auf die Ernennung der Kommission zu erweitern, damit sich die beiden Institutionen zueinander ungefähr so verhalten wie ein nationales Parlament und seine Regierung. Da sind wir momentan auch in einem Entwicklungsprozeß: Das Parlament hat mit dem Amsterdamer Vertrag mehr Einwirkungsrechte gewonnen. Es hat allerdings schon 1994 die Verfahrensbestimmungen sehr extensiv ausgelegt und hat die einzelnen Kommissare vor den Fachausschüssen einer ausführlichen Befragung unterzogen, mit dem Ergebnis, das einzelne Kandidaten sehr schlecht ausgesehen haben.
ruprecht: Das scheint sich aber nicht sehr gelohnt zu haben. Schließlich sind den Kommissaren gerade schwere Verfehlungen nachgewiesen worden. Hätte das Parlament vielleicht genauer prüfen sollen?
Neunreither: Ach, das weiß ich nicht. Das ist ein anderes Feld. Daß die Frau Cresson ihren Zahnarzt mit diesen Untersuchungen beauftragt, das hätte die Kommission nur durch interne Verhaltensregeln verhindern können - wie den Verhaltenskodex, den sie jetzt nachträglich aufgestellt hat. So etwas kann man bei einem solchen Hearing nicht herausbekommen. Was das Hearing aber bewirkt hat ist, daß die Santer-Kommission auf das Parlament mehr gehört hat.
Ein weiteres neues Recht des Parlaments ist die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. Allerdings hat die Kommission auf die Forderungen der letzten zwei, drei Jahre nicht reagiert, dem Parlament weitere Befugnisse bei der Haushaltskontrolle einzuräumen. Das gibt's in jedem Verein, daß der Vorstand durch den Kassenprüfer entlastet werden muß. Die Fachausschüsse haben sich beklagt, daß die Kommission nicht reagiere. Es gab Subventionen hie und da, in die Regionalfonds und nach Osteuropa, wo sich die Leute teilweise in die eigene Tasche gearbeitet haben, indem sie zum Beispiel Ausschreibungen gewannen, deren Kriterien sie mit entworfen hatten. Das hat sich so aufgestaut, bis das Maß voll war und das Parlament im Januar versucht hat, die Kommission zu stürzen. Die notwendige Mehrheit wurde knapp verfehlt, aber immerhin bröckelte die Unterstützung für die Kommission so stark ab, daß man es für richtig hielt, einen unabhängigen Ausschuß einzusetzen. Auf dessen Bericht hin ist die Kommission im März dieses Jahres dann geschlossen zurückgetreten - auf Druck des Parlamentes. Wenn man so will, ist das Parlament hier als Anwalt der Öffentlichkeit und der Medien eingetreten. Die Frage ist nun, was die Kommission daraus macht.
ruprecht: Wie glauben sie, wird sich der Einfluß des Parlaments weiterentwickeln?
Neunreither: Die Gefahr ist, das man nur einige Parlamentsfunktionen sieht, wie etwa die Gesetzgebung. Da wird man das Mitentscheidungsrecht weiter ausdehnen, vor allem auf die Bereiche, die noch nicht erfaßt sind, wie die Landwirtschaft. Eine Entwicklungslinie gegenüber der Kommission in Bezug auf stärkere Kontrolle und politische Einflußnahme auf ihre Zusammensetzung ist auch zu sehen. Ohne so weit zu gehen, daß sie so etwas wie eine parlamentarische Regierung wird wie im nationalen Bereich. Man kann das bedauern, aber Europa ist dafür noch nicht reif. Europa kann noch nicht akzeptieren, daß eine rot-grüne oder andere Parteienfamilie das Sagen hat. Das würde die Europäische Einigung, die ein Verhandlungssystem ist, zu sehr belasten.
ruprecht: Bei welchen Funktionen kann sich der Einfluß des Parlaments sonst noch entwickeln?
Neunreither: Da gibt es einige, die sehr stark vernachlässigt sind: Die Beziehung zum Bürger, europäische Öffentlichkeit und so weiter. Man wird ja sehen, daß die Europawahlen nicht die Beachtung haben, die sie verdienen. Weshalb? Sie sind noch zu sehr durch die nationalen Parteien dominiert. Es gibt zwar europaweite Zusammenschlüsse von Parteien, aber die spielen in wichtigen Bereichen wie der Kandidatenaufstellung keine Rolle. Zudem wird die Europawahl überschattet von nationalen Themenstellungen: Die Bundestagswahl bleibt nach wie vor die allerwichtigste Entscheidung, Landtagswahlen und Europawahlen sind dann oft Reaktionen auf die letzten Bundestagswahlen. Wenn die Leute mit dem Kosovo-Krieg oder dem 630-Mark-Gesetz unzufrieden sind, dann zeigen sie's denen in Bonn. Aus dieser Ecke müßte das Europäische Parlament herauskommen, so daß man sich unmittelbar zu europäischen Themen äußern kann.
ruprecht: Wie könnte das EP das bewerkstelligen?
Neunreither: Im nationalen Bereich haben wir eine sehr starke Personalisierung. Wir kennen die wichtigsten Akteure: Wenn Sie an einer englischen Wahl teilnehmen, dann stimmen Sie zwar für ihren lokalen Kandidaten, aber letztendlich stimmen Sie für Tony Blair oder gegen ihn. Auch bei unseren Koalitionsregierungen weiß man, wer Kanzler werden soll. Das alles gibt es bei der Europawahl nicht. Diese Personalisierungsebene fehlt. Das kann man über das Parlament nicht unmittelbar machen, sondern da müßte man stärker in die Exekutive hinein, also: die Kommission als Regierung wählen.
ruprecht: Können Sie sich vorstellen, daß die bisher nur lockeren Fraktionsbündnisse stärker werden?
Neunreither: Auf jeden Fall. Die Parteienzusammenschlüsse haben alle ihre Hausarbeiten nicht gemacht. Die haben zwar gemeinsame Programme, aber bei den wichtigsten Entscheidungen sind die nationalen Unterblöcke in den multinationalen Parteien noch das Wichtigste. Jeder Abgeordnete schaut natürlich dorthin, wo er herkommt und wo er wieder aufgestellt wird. Den reinen, abstrakten europäischen Abgeordneten, den gibt es noch nicht.
ruprecht: Wenn das Parlament aus eigener Kraft gar nicht in der Lage ist, sich weitere demokratische Kompetenzen zu erstreiten, kann sich das die Kommission nicht zu Nutzen machen?
Neunreither: Das würde ich jetzt nicht sagen. Die Kommission ist aus dem Spiel erst mal draußen, die hat sich selbst ins Bein geschossen. Vor dem Rücktritt war das Image der Kommission das Leitbild der Europäischen Institutionen: unter Jacques Delors stand die Kommission in dem Ruf, sehr initiativ und dynamisch zu sein.
ruprecht: Glauben Sie, daß Prodi diesen Ruf zurückerwerben kann?
Neunreither: Das wird man sehen. Jedenfalls übt er Einfluß auf die Auswahl der Kommissare, wie es nach Amsterdam sein neues Recht ist, und nimmt nicht jeden, der gerade so angeboten wird.
ruprecht: Einer der zentralen Streitpunkte ist momentan die Frage nach der Erweiterung oder Vertiefung der Union. Wo sehen Sie zwischen diesen beiden Punkten Widersprüche und Gemeinsamkeiten?
Neunreither: Inzwischen sind eine Reihe von Würfeln gefallen: Die Union hat sich auf die Erweiterung festgelegt. Es gibt eine erste und eine zweite Gruppe von Kandidaten, und man muß auch sehen, was mit den Ländern passiert, die nicht da drin sind. Man kann Serbien ja nicht auf alle Ewigkeiten aus Europa ausschließen, nur weil dort jetzt Milosevic sitzt. Am Beispiel der Slowakei hat man ja gesehen, daß ein Annäherungsprozeß zur Stärkung der Demokratie beiträgt. Die große Frage ist, was das für den Einigungsprozeß der EU bedeutet: Man kann mit diesem großen Kreis von dann beinahe dreißig Mitgliedsstaaten nicht den Sprung zum europäischen Bundesstaat machen. Man muß also entweder auf eine Weiterentwicklung verzichten und da bleiben, wo man ist - sozusagen Maastricht als Dauerzustand - oder man muß dazu übergehen, ein Kerneuropa zu schaffen, das sehr viel flexibler gestaltet sein müßte. Den einheitlichen Rahmen müßte man dann aufgeben: Die dreißig Teilnehmer wären dann in der unteren Schublade, die die weitergehen wollen, können das tun.
ruprecht: Ist durch die Einführung des Euro eine Art Motivationsvakuum eingetreten, so daß der EU jetzt eine Perspektive fehlt?
Neunreither: Das wäre bedauerlich. Der Maastricht-Vertrag spricht ja von einer Wirtschafts- und Währungsunion. Die Wirtschaftsunion ist bisher aber noch unvollkommen.
ruprecht: Macht sich dabei nicht die geringe Betonung der politischen Union und der Demokratisierung negativ bemerkbar?
Neunreither: Da würde ich Ihnen zustimmen. Die politische Union als Schlagwort war in Maastricht ein Flop. Während die Wirtschafts- und Währungsunion das große Thema war, daß mit aller Vehemenz durchgezogen wurde, ist die politische Union nicht zu greifen. Im Gegenteil, was von Europa zu hören ist, wird von den nationalen Medien meist nur unter kritischen Vorzeichen präsentiert. Der Bürger sieht dieses Gerangel um Agenda 2000, den Kosovo-Krieg und, daß Europa in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht eigenständig handeln kann. Das schlägt sich natürlich negativ auf die öffentliche Meinung nieder. Insofern ist diese Verschiebung der Betonung auf die Wirtschaft sehr schlecht, denn darauf kann man auf Dauer keine gemeinsame Identität aufbauen.
ruprecht: Geben Sie uns abschließend bitte noch eine Prognose über den Ausgang der Europawahlen. Wird es einen Aufschwung der antieuropäischen Kräfte geben?
Neunreither: Die Frage ist, woran man antieuropäische Kräfte festmachen will. Jeder sagt, er ist Europäer. Nur nicht jeder will das gleiche Europa. Einige Randparteien sind gegen zentrale Bereiche der gegenwärtigen Konstruktion, aber die werden in Deutschland nicht sehr viele Wähler anziehen. In Frankreich sieht das schon anders aus: Dort gibt es nicht nur Le Pen, sondern auch linke Gruppierungen für ein Europa der Nationen, die bereits im Europaparlament vertreten sind und sich wohl manifestieren werden. Dem kann man nur durch einen besseren Kenntnisstand der Bürger über Europa begegnen. Die Entscheidungen innerhalb der EU sollten daher wesentlich transparenter werden. Zudem unterschätzen alle Institutionen, daß wir an der Schwelle zum Informationszeitalter stehen. Die müßten sehr viel stärker in den Dialog mit dem Bürger eintreten. Das Parlament hat 3500 Beamte. Warum können die nicht mal 100 davon abstellen, um Anfragen zu beantworten, die zum Beispiel über e-mail eingehen. Wenn die Demokratie in Europa noch eine Chance haben soll, dann geht das nur auf diesem Wege.
ruprecht: Herr Professor Neunreither, wir danken Ihnen für das Gespräch. (alt, gan)
Die beiden Universitäten feierten am Freitag den 28. Mai im Rittersaal des Mannheimer Schlosses mit einer Festveranstaltung die Eröffnung des neuen, gemeinsam getragenen Instituts. Die deutschlandweit in dieser Form bislang nicht existierende Einrichtung soll die interdisziplinäre Forschung in den genannten Bereichen fördern. Die unterschiedlichen Schwerpunkte der beiden juristischen Fakultäten und das von der Biotechnologie bis zur Wirtschaftswissenschaft reichende, weltweit anerkannte wissenschaftliche Umfeld ermöglichen dem Institut die interdisziplinäre Forschung in einer Breite, die von einer einzelnen Universität alleine nicht zu leisten wäre.
An das neue Institut knüpfen sich von Seiten der Wissenschaft, Politik und Medizin hohe Erwartungen, was sich an den Festrednern aus Wissenschafts- und Bundesjustizministerium, Bundesärztekammer und des Deutschen Ärtztetages zeigte. Eine Vortragsreihe des Instituts mit Dozenten anderer Vereinigungen für das Sommersemester '99 ist unter http://www.uni-mannheim.de/fakul/jura/medr.htm abrufbar. (Mas)